4

Schmuggler

PJ fuhr den Streifenwagen seines Vaters. Sein Dad hatte den Polizei-Pick-up genommen und den Streifenwagen mit dem Zündschlüssel unter der Sonnenblende stehen gelassen. Die Sonne ging unter, und Sam saß auf der Rückbank in der Sicherheitszelle.

»Also, fassen wir das Ganze noch mal zusammen, Sommersprosse«, sagte PJ zu Sam. »Die Schmuggler kommen zu Fuß über die Grenze und verstecken an irgendeinem Waldweg auf unserer Seite Taschen voller Bargeld …?«

Sam nickte. »Anschließend marschieren sie nach Kanada zurück, fahren zum Kontrollpunkt und reisen legal in die USA ein, ohne etwas im Auto zu haben, das der Zoll finden könnte.«

PJ grinste. »Und dann kommen sie zu uns rübergedüst und sammeln ihr Geld ein. Genial!«

»Falls dein Dad uns erwischt, sage ich ihm, du hast mich gezwungen mitzukommen«, verkündete Sam, »und dass du meine Feuerwerkskörper mitgenommen hast.«

»Bleib locker«, rief PJ in die Sprechanlage des Polizeiautos. »Ich habe dir schließlich nicht den Arm verdreht, oder? Außerdem sind es bloß zehn Minuten bis zu dem Bewegungsmelder, stimmt’s? Wir krallen uns die Taschen, und zehn Minuten später sind wir zurück. Falls die Schmuggler auftauchen, sehen sie den Streifenwagen und verduften. Im schlimmsten Fall steht bei unserer Rückkehr mein Dad mit seinem Was-habt-ihr-jetzt-schon-wieder-angestellt?-Blick auf dem Parkplatz, und dann überreichen wir ihm lächelnd die Schmuggelware und sagen, wir hätten den Alarm gehört und bloß seine Arbeit für ihn erledigt. Er erntet die Lorbeeren für den Schlag gegen das Verbrechen und denkt, was für tolle Nachwuchs-Polizisten wir doch sind. Brillaaaant!«

Sam fand sich damit ab, PJ von der Rückbank aus über Sumas zweispurige Landstraßen zum Ziel zu lotsen. Rasch wich das im Zwielicht liegende Farmland einem schattigen Wald, und Sam dirigierte PJ über eine Schotterstraße, einen Kiesweg und dann über zwei Furchen im Sand, die kaum mehr als ein Trampelpfad waren. Die Bäume standen immer näher beieinander, das Unterholz wurde dichter, und PJ steuerte den Streifenwagen seines Vaters tief in den Wald hinein.

»Dort ist der Bewegungsmelder«, sagte Sam schließlich und deutete auf einen getarnten Holzpfosten im Boden. »Den habe ich entdeckt, als ich hier mal bei einer Erkundungstour durchkam.«

»Vor wem bist du denn weggerannt, heh?«, fragte PJ grinsend.

»Kein Kommentar.«

PJ schaltete die Scheinwerfer aus, und ringsum versank der Wald in Finsternis. »Jetzt steigen wir aus und suchen unsere Beute, okay?«, sagte PJ. Er hielt an und ließ den Motor im Leerlauf weiterbrummen.

»Was, wenn die Schmuggler noch in der Nähe sind?« Blinzelnd spähte Sam in die Dunkelheit.

PJ zog eine der POLIZEI-Jacken seines Vaters an, die im Wagen lagen. »Ach komm, wenn wir schon mal hier sind. Außerdem hast du gesagt, es dauert von hier bis zum Grenzübergang und wieder zurück ungefähr eine Stunde. Das bedeutet, die Schmuggler sind noch etwa vierzig Minuten entfernt.«

PJ wollte gerade den Motor abstellen, als sich in der Dunkelheit etwas bewegte. Ein Schatten verschob sich vor dem Hintergrund der dunklen Bäume. Sobald er es bemerkte, hatte die Bewegung schon wieder aufgehört.

»Was war das?«, fragte Sam und starrte in den Wald. »Ich kann nichts erkennen. Es ist stockduster.«

PJ streckte den Arm aus und schaltete die Scheinwerfer wieder ein. Das unvermittelt angehende Licht fiel auf eine gedrungene menschliche Gestalt vor dem Wagen. Sie hob einen keulenförmigen Gegenstand und ließ ihn auf die Motorhaube herabsausen.

Rumms!

»Ein Schmuggler!«,rief Sam.

PJ hatte noch den Fuß auf dem Gaspedal. Er trat es instinktiv durch, und das Auto machte einen Satz nach vorn. Dem Fremden blieb keine Zeit, um auszuweichen. Bumms! Er kippte um wie ein Kegel und verschwand unter der Stoßstange.

PJ trat auf die Bremse, und der Streifenwagen hielt ruckartig an. Er holte tief Luft und verriegelte rasch die Türen.

»Du hast ihn überfahren!«, rief Sam.

»Ich weiß«, sagte PJ und starrte in den Wald.

»Er liegt unter dem Auto!«

»Ich weiß!«

»Was, wenn es ein Farmer ist oder so?«, fragte Sam.

»Du bist derjenige, der gebrüllt hat, es wäre ein Schmuggler.«

»Woher soll ich denn wissen, wer er ist?«

»Du stammst doch aus diesem blöden Kaff!«, schimpfte PJ.

Ein leises, schmerzerfülltes Knurren drang unter dem Wagen hervor.

»Er ist am Leben«, sagte PJ erleichtert. »Lass uns verschwinden.«

»Wir können ihn doch nicht einfach liegen lassen«, entgegnete Sam. »Er ist bestimmt verletzt.«

PJ schüttelte den Kopf. »Kleiner, ich habe gerade mit einem geborgten Polizeiauto einen Menschen überfahren. Mein Instinkt sagt mir, auf der Stelle zu verschwinden und nie wieder über die Sache zu reden.«

»Du willst Fahrerflucht begehen? Dafür verlierst du deinen Führerschein, falls man dich erwischt.«

»Was, wenn es wirklich ein Schmuggler ist?«, protestierte PJ.

»Und wenn nicht?«

Kurz darauf kauerten Sam und ein widerwilliger PJ auf dem Waldboden und versuchten die bewusstlose Gestalt unter dem Wagen hervorzuziehen.

»Ich habe seine Arme«, sagte PJ und schloss die Polizeihandschellen seines Vaters im Dunkeln um zwei sehr dicke, stark behaarte Handgelenke. »Fühlt sich an, als würde der Kerl Fellhandschuhe tragen.«

Sam half PJ, die dunkle Gestalt mit einem kräftigen Ruck vollständig unter dem Wagen hervorzuziehen. Der Unbekannte war schwer und schlaff, aber Sam konnte seine unregelmäßigen Atemzüge hören. Ob der Mann tatsächlich irgendwelche Verletzungen aufwies, würden sie jedoch erst im beleuchteten Wageninnern erkennen.

»Puh, ist das ein Brocken«, sagte Sam, während er den unteren Teil des schlaffen Rumpfs vom Boden hob.

PJ packte die gefesselten Arme und schob den Unbekannten auf die Rückbank. Er war nur knapp über einen Meter fünfzig groß, unglaublich schwer und roch entfernt nach Erde. Plötzlich grunzte er wie ein Schwein und hob die Arme. PJ jaulte auf und drückte sie mit der Schulter herunter. Sam sprang heran und packte ein Bein. Gemeinsam wuchteten sie den ganzen Körper ins Auto, dann schlug PJ die Tür zu. »Geschafft!«

»Bin ich verrückt«, fragte Sam keuchend, »oder trägt der Kerl wirklich einen Pelzmantel?«

»Keine Ahnung«, sagte PJ. »Ich war zu sehr damit beschäftigt aufzupassen, dass er uns nicht hiermit erschlägt.« PJ hielt eine mit Eisenspitzen versehene Keule hoch. Es war eine primitive Waffe, ähnelte einem mittelalterlichen Streitkolben. Sie schien aus massivem Stein zu bestehen, und doch wog sie kaum etwas, und an der Spitze ragten ringsum die hässlichen Eisenspitzen heraus. Beide Jungen starrte auf die Keule, dann schauten sie durchs Fenster in den Wagen.

»Er hat eine Waffe dabei«, sagte Sam. »Also ist es doch ein Schmuggler.«

»Welche Art von Schmuggler rennt denn mit einer Steinkeule herum?«, fragte PJ.

»Ein fetter, stark behaarter zum Beispiel.« Sam zuckte die Achseln und tippte an die Scheibe wie ein Kind, das in ein Goldfischglas schaut.

Plötzlich sprang der Unbekannte von der Rückbank auf und presste die Handflächen an die Scheibe. Dichtes schwarzes Fell bedeckte seinen Körper – er trug keinen Pelzmantel. Seine Hände waren ledrig, wie die eines Gorillas, und an den Fingerspitzen saßen lange gelbe Krallen. Er drückte das Gesicht ans Glas und starrte mit riesigen gelben Augen zu Sam und PJ heraus. Zwei lange, nach oben gebogene Hauer ragten aus seinem Unterkiefer. Dieses Wesen war auf keinen Fall ein Mensch.

Sam und Pj sprangen zurück. Ein ganzes Weilchen standen sie sprachlos da, während das Wesen sie mit großen blinzelnden Augen anfunkelte. Sie wussten nicht, was sie sagen sollten. Schließlich wandten die Jungen sich einander zu.

»Was jetzt?«, fragte PJ.

»Wir können ihn nicht hier im Wald rauslassen«, sagte Sam und deutete nervös auf die langen Krallen. »Er könnte uns angreifen.«

»Wenn wir ihn nicht rauslassen können und nicht die ganze Nacht mit ihm in der Dunkelheit herumsitzen wollen, was schlägst du dann vor?«

Kurz darauf rumpelte der Streifenwagen in Richtung Polizeistation; die beiden Jungen saßen vorne und ihr seltsamer Passagier hinten in der Sicherheitszelle.

Hinter ihnen im Wald bewegte sich die viereckige, einen Meter breite Grasfläche unter dem Bewegungsmelder und klappte an einem Angelpunkt nach oben – eine Falltür im Waldboden. Darunter blickten zwei menschliche Augenpaare den zurückweichenden Rücklichtern das Fahrzeugs hinterher.

Garstige Gnome
978-3-641-05066-5.xhtml
Section0001.xhtml
978-3-641-05066-5-1.xhtml
978-3-641-05066-5-2.xhtml
978-3-641-05066-5-3.xhtml
978-3-641-05066-5-4.xhtml
978-3-641-05066-5-5.xhtml
978-3-641-05066-5-6.xhtml
978-3-641-05066-5-7.xhtml
978-3-641-05066-5-8.xhtml
978-3-641-05066-5-9.xhtml
978-3-641-05066-5-10.xhtml
978-3-641-05066-5-11.xhtml
978-3-641-05066-5-12.xhtml
978-3-641-05066-5-13.xhtml
978-3-641-05066-5-14.xhtml
978-3-641-05066-5-15.xhtml
978-3-641-05066-5-16.xhtml
978-3-641-05066-5-17.xhtml
978-3-641-05066-5-18.xhtml
978-3-641-05066-5-19.xhtml
978-3-641-05066-5-20.xhtml
978-3-641-05066-5-21.xhtml
978-3-641-05066-5-22.xhtml
978-3-641-05066-5-23.xhtml
978-3-641-05066-5-24.xhtml
978-3-641-05066-5-25.xhtml
978-3-641-05066-5-26.xhtml
978-3-641-05066-5-27.xhtml
978-3-641-05066-5-28.xhtml
978-3-641-05066-5-29.xhtml
978-3-641-05066-5-30.xhtml
978-3-641-05066-5-31.xhtml
978-3-641-05066-5-32.xhtml
978-3-641-05066-5-33.xhtml
978-3-641-05066-5-34.xhtml
978-3-641-05066-5-35.xhtml
978-3-641-05066-5-36.xhtml
978-3-641-05066-5-37.xhtml
978-3-641-05066-5-38.xhtml
978-3-641-05066-5-39.xhtml
978-3-641-05066-5-40.xhtml
978-3-641-05066-5-41.xhtml
978-3-641-05066-5-42.xhtml
978-3-641-05066-5-43.xhtml
978-3-641-05066-5-44.xhtml
978-3-641-05066-5-45.xhtml
978-3-641-05066-5-46.xhtml
978-3-641-05066-5-47.xhtml
978-3-641-05066-5-48.xhtml
978-3-641-05066-5-49.xhtml
978-3-641-05066-5-50.xhtml
978-3-641-05066-5-51.xhtml
978-3-641-05066-5-52.xhtml
978-3-641-05066-5-53.xhtml
978-3-641-05066-5-54.xhtml
978-3-641-05066-5-55.xhtml
978-3-641-05066-5-56.xhtml
978-3-641-05066-5-57.xhtml
978-3-641-05066-5-58.xhtml
978-3-641-05066-5-59.xhtml
978-3-641-05066-5-60.xhtml
978-3-641-05066-5-61.xhtml
978-3-641-05066-5-62.xhtml
978-3-641-05066-5-63.xhtml