1. Kapitel

Der Troll erwacht

Seattle, USA – 2010

 

Leiser Nieselregen durchtränkte das abendliche Seattle, und ein junges Mädchen in einem rosafarbenen Kleid trat zögernd unter die Aurora-Brücke am Highway 99, verfolgt von den letzten Sonnenstrahlen über der Elliot Bay.

Sie wandte sich um, hob den Blick und erstarrte. Über ihr erhob sich der Fremont Troll, eine knollenförmige, mürrisch dreinblickende Gestalt, die so groß war, dass ihre linke Hand einen alten VW-Käfer umschloss, als wäre er ein Tennisball. Der wuchtige Oberkörper ragte zwischen zwei breiten Brückenpfeilern aus dem Boden, während die untere Körperhälfte im Asphalt vergraben schien.

»Ist das die Stelle?«, rief der Vater des Mädchens von hinten.

Sie traute sich nicht, etwas zu sagen, deshalb nickte sie nur, während ihr Vater unter die Brücke trottete, eine Digitalkamera von der Größe eines Kartenspiels am Handgelenk.

»Wow«, staunte er. »Steig auf die rechte Hand, ich mach ein Foto von euch.«

Das Mädchen schaute vom Troll zur untergehenden Sonne und dann zurück zum Vater. Sie sah ihn flehend an.

»Er ist viel größer, als du gesagt hast«, flüsterte sie, als fürchtete sie, das Ungetüm könnte zum Leben erwachen. Sie stand reglos da und hoffte, die Sonne würde untergehen, bevor ihr Vater sie dazu gebracht hätte, auf die Hand zu klettern. Andererseits hätte sie auch nichts dagegen gehabt, wenn die Sonne heute ausnahmsweise einmal nicht unterginge.

»Komm schon, er beißt nicht«, drängte ihr Vater. »Es ist doch bloß eine Skulptur.«

Der riesige Troll bestand tatsächlich aus Zement – ein verrücktes Kunstwerk an einem ungewöhnlichen Ort. Das Gesicht blickte mit einer Miene auf sie herab, die sie nicht deuten konnte. Missfallen? Verärgerung? Oder etwa Hunger? Sie holte tief Luft, beugte sich vor und fand eine Stelle, an der sie sich festhalten konnte. Sie schloss die Augen, während sie sich an einem rauen Betonfinger emporzog, der größer war als sie selbst, dann wandte sie sich um und bedeutete ihrem Vater, schnell das Foto zu schießen.

Ihm war klar, dass es keine andere Gelegenheit geben würde, und so drückte er auf den Auslöser, dann zur Sicherheit rasch noch ein zweites Mal. »Okay, zurück zum Wagen«, sagte er. »Beeil dich, der Regen wird stärker.« Damit huschte er unter der Brücke hervor und verschwand.

Die Sonne versank hinter den Inseln und ließ sie mit dem Troll allein. Graue Regenwolken verbargen den Mond, deshalb wurde es unter der Brücke augenblicklich finster. Sie wandte sich um und wollte wieder hinabklettern, blieb aber mit dem Kleid an einer Betonkante hängen. Das Gesicht des Trolls schwebte im Halbdunkel undeutlich über ihr, aber es war riesig und starrte finster auf sie herab. Sie zerrte an ihrem Kleid; ob sie es zerriss, war ihr egal, sie wollte einfach nur weg von diesem Ort. Einen Moment lang tat sich nichts. Aber dann gab der Stoff plötzlich nach, und sie war frei. Während sie sich an dem Riesenfinger zu Boden gleiten ließ, überschlugen sich ihre Gedanken. Hatte sich das Kleid von selbst gelöst, oder hatte der Troll sich bewegt? Unmöglich, dachte sie, und ohne abzuwarten, ob noch irgendetwas geschah, stolperte sie hastig hinter ihrem Vater her.

Nach zehn Schritten, sie hatte die Brücke schon fast hinter sich gelassen, hörte sie es in ihrem Rücken poltern.

RUMPEL! KNIRSCH!

Ihr Herz schlug einen Purzelbaum, und die Augen traten ihr hervor wie umgedrehte Untertassen. Dann wurde ihr plötzlich klar, was der Gesichtsausdruck der Betonfigur bedeutet hatte. Das war kein Missfallen, Ärger oder gar Hunger gewesen. Den Troll hatte genau wie sie die Angst gepackt.

Beklommen riskierte sie einen Blick über die Schulter und schnappte nach Luft. Die Stelle unter der Brücke war leer, bis auf den ausrangierten, aufs Dach gekippten VW-Käfer. Daneben klaffte ein riesiges Loch im Boden. Die Figur war verschwunden.

Sie starrte die verstreuten Betonklumpen auf der Straße an, auf der der Troll davongerannt war. Wenn die Leute morgen früh aufwachen, erwartet irgendjemanden eine gewaltige Überraschung, dachte sie. Dann nahm sie die Beine in die Hand.