4. Kapitel
Gartenarbeit
mit
Hindernissen
Richie verließ den Tumult, den die Dämonen drinnen veranstalteten, und ging hinaus in den wild wuchernden Garten. Das Haus steckte voller unberechenbarer Wesen, und Nate hatte sie alle ins Herz geschlossen, selbst die schlimmsten unter ihnen. Er erinnerte Richie immer wieder an seine Aufgabe als Dämonenhüter-Lehrling, den Geschöpfen einen sicheren Ort zum Leben zu geben und dass es ihre heilige Pflicht sei, das über Generationen zusammengetragene Werk ihrer Dämonenhüter-Vorgänger zu bewahren. Aber es war schwer, wenn sich ihre Schutzbefohlenen wie eine Schulklasse voller arroganter frecher Kinder benahmen. Technisch betrachtet, war Nate volljährig, aber Richie fühlte sich noch nicht alt genug, um sich schon wie ein verantwortungsvoller Erwachsener zu verhalten, deshalb hörte er jedes Mal zu und nickte brav, aber mit den Einzelheiten des Dämonenhütens nahm er es längst nicht so genau wie sein Mentor. Solange die Dämonen nicht umkamen oder entwischten, leistete er für sein Alter doch prima Arbeit, fand er.
Richie sah sich im Schuppen um und fand eine ausziehbare Leiter. Das Haus besaß inklusive Dachboden drei Stockwerke und ragte zwölf Meter in den trüben Himmel von Seattle auf. Nate hatte die Leiter nie erwähnt, deshalb ging Richie davon aus, dass sie kein Dämon war, aber als Lehrling war sein Gespür für Dämonen noch nicht so weit entwickelt, dass er die Wesen immer auf den ersten Blick hätte erkennen können. Die Leiter sah ganz normal aus. Sie bestand aus Aluminium, war ziemlich schwer und hatte drei ausziehbare Teilstücke. Das sollte genügen, dachte Richie.
Er lehnte sie an die Hauswand. Man zog die einzelnen Teile mit einer Flaschenzugkette auf die volle Länge aus, und nach einigem Gezerre und Gerucke reichte die Leiter tatsächlich bis zum Dach. Richie trat ein letztes Mal prüfend dagegen. Sie fühlte sich standfest an. Genau genommen schien sie fast am Haus zu kleben und wackelte kein bisschen. Er nickte und machte sich an den Aufstieg.
Oben angekommen, konnte Richie über das Stadtzentrum und die Elliot Bay bis zu den Inseln im Puget-Sund blicken. Vor der Stadtsilhouette erhob sich die Space Needle, der schlanke, weit in den Himmel aufragende Aussichtsturm, der 1962 das Wahrzeichen der Weltausstellung gewesen war. Ganz oben, fast zweihundert Meter über der Erde, gab es ein großes rotierendes Restaurant. Er hatte immer schon einmal dort hinauffahren wollen, aber als Straßenjunge hätte man ihn nie im Leben hineingelassen. Er fragte sich, ob Nate ihn wohl eines Tages dorthin mitnehmen würde.
In zwölf Metern Höhe fühlte sich Richie erfüllt von Frieden und Stärke, zwei Dinge, die er während seines Lebens auf der Straße, bevor er als Dämonenhüter-Lehrling bei Nate eingezogen war, nie gekannt hatte. Vielleicht isses ja doch nich so schlecht, in einem Haus voller Dämonen zu wohnen, dachte er. Dann wandte er sich zur Seite und begann, den Matsch aus der Regenrinne zu kratzen.
In den uralten Rinnen, die rings um das Dach verliefen, sammelte sich alles mögliche Zeug, das der Wind heranwehte oder der Himmel fallen ließ. Richie stieß die Handschaufel in eine zähe Mixtur aus Laub, Einwickelpapier, Vogelmist, Moos und anderen halb verfaulten Dingen, die nicht mehr zu erkennen waren. Schließlich entdeckte er sogar eine Frisbeescheibe, die zwischen Hauswand und Rinne klemmte. Er fuhr mit der Schaufel durch die metallische Halbröhre, schippte den Dreck heraus und sah sich vor, ihn nicht zu berühren, denn ihm war klar, dass das Zeug nicht gesund sein konnte. Er schleuderte es über die Schulter, so dass es hinter ihm wie eine Dusche aus feuchtem, fauligem Kompost zwölf Meter in die Tiefe regnete. Einige Stücke fielen dabei in Mr. Neebors benachbarten Garten und brannten zischend braune Löcher in die zarten Blumen.
Eine Möwe kam herangeschwebt und ließ sich auf der Regenrinne nieder, die Richie gerade sauber machte; vielleicht hoffte der Vogel, einen verborgenen Leckerbissen zu ergattern, den er – Richie – durch seine Arbeit freigelegt hatte. In New York waren Tauben die Ratten des Himmels, hier in Seattle waren Möwen die fliegenden Aasfresser. Richie hatte nichts gegen sie. Sie waren Müllsammler, so wie er selbst einer gewesen war, deshalb wusste er ihren Lebensstil zu würdigen. Als die Möwe sich auf dem Rand der Regenrinne niederließ, rief er ihr eine freundliche Warnung zu.
»Husch! Weg mit dir!«
Der Vogel sah ihn unbeeindruckt an und begann, im noch verbliebenen Dreck herumzupicken.
»Ich mein’s ernst, Kumpel«, sagte Richie. »Flieg weiter.«
Diesmal starrte die Möwe zu ihm herüber, funkelte ihn an und stieß ein langgezogenes, ärgerliches Kreischen aus, das abrupt endete, als die Regenrinne sich aufbäumte, den unseligen Vogel packte und ihn ins Fallrohr stopfte. Die Öffnung war weit genug aufgerissen, um die Möwe in einem Stück zu verschlingen. Das Ganze ging blitzschnell.
»Ich hab dich gewarnt«, sagte Richie kopfschüttelnd, als eine einzelne Feder an ihm vorbeischwebte.
In dem Moment begann sich die Leiter aufzurichten. Richie griff nach der Regenrinne, doch auch sie wich zurück, deshalb zog es ihn vom Haus weg. »Nein, nein, nein ...«, stammelte er. Er verspürte ein Gefühl der Schwerelosigkeit – die Leiter stand aufrecht da, ohne jeden Halt, und schwankte leicht im Wind. Ein Zwölf-Meter-Sturz würde ihn umbringen, befand Richie.
Dann begann die Leiter herumzuhüpfen. Richie klammerte sich an die Sprossen, bis seine Knöchel weiß hervortraten. »Hör auf damit!« Die Leiter wirbelte auf einem Bein herum – anscheinend mochte sie es nicht, wenn man sie anbrüllte. »Tut mir leid«, sagte Richie schnell. »Echt, es tut mir leid.«
Er hatte sich nicht vorstellen können, dass das riesige Aluminiumgerät ein Dämon war. Er hatte sogar versucht, es zu überprüfen, aber er hatte sich getäuscht. Und jetzt ließ die lebendige Leiter ihn zwölf Meter über dem Erdboden an den Fingerspitzen baumeln und sprang im Garten herum. Richie schloss die Augen und hielt sich krampfhaft fest; er hoffte inständig, dass das Ding genauso wenig umfallen wollte wie er. Dann spürte er, wie sie gegen etwas Festes stießen. Er öffnete die Augen und bemerkte, dass die Leiter wieder am Haus lehnte. Sie war nur ein paar Meter zur Seite gerückt, damit er den nächsten Abschnitt der Regenrinne erreichte.
Richie atmete tief durch. Eine instabile Leiter – klassisches Chaos, dachte er, ein typischer Dämon. Er hätte es wissen müssen. Er verfluchte sich, weil er nicht von selbst darauf gekommen war, und begann, den nächsten Teil der Regenrinne auszukratzen.
Nate beobachtete seinen Lehrling vom Fenster aus. Der Drang, hinauszustürmen und Richie zu helfen, war stark, aber Nate ließ es bleiben, um zu sehen, ob der Junge allein mit dem Chaos zurechtkam. Die Mätzchen der Leiter hatte er ja überlebt, und das war schon einmal vielversprechend.
Kurz darauf stand Richie wieder auf dem Rasen und warf einer Gruppe von pummeligen kleinen Engelsfiguren verfaultes Gemüse zu. Die Figuren tapsten den Leckerbissen entgegen wie verirrte Entlein mit Blähbäuchen, die mit jedem Happen dicker wurden. Sie folgten Richie, bis er sie alle vor dem zersprungenen, mit Brackwasser gefüllten Springbrunnen gruppiert hatte. Er fand eine überreife Honigmelone und rollte sie auf die Figuren zu.
RUMMS!
Abgebrochene Gliedmaßen segelten durch die Luft.
»Volltreffer!«, jubelte Richie. Grinsend wandte er sich um. Vor ihm stand Nate und musterte ihn stirnrunzelnd.
»Schöne Schweinerei«, sagte er. »Eigentlich hatte ich dich zum Saubermachen rausgeschickt.«
»He, die kleinen Fettwänste werden doch von selbst wieder heil.«
Hinter ihm begannen die Engelsfiguren bereits eifrig, sich wieder zusammenzusetzen, balgten sich um einzelne Gliedmaßen, vertauschten Körperteile. Einer Figur ragte ein Arm aus dem Hals. Eine andere hatte sich fälschlicherweise die Nase zwischen die nackten Beinchen gesteckt.
»Mit Engeln zu kegeln ist Unfug«, schimpfte Nate. »Wir haben hier schon genug Chaos, ohne dass du auch noch mitmischst.«
»Ich hab mir doch bloß einen Spaß gemacht«, hielt Richie dagegen. »Du lässt mich dauernd stupide Putzjobs und Aufräumarbeiten verrichten, als wär ich ein ganz gewöhnlicher Junge.«
»Aber du bist doch noch ein Junge.«
»Ja, aber kein gewöhnlicher. Als du mich bei dir aufgenommen hast, meintest du, ich hätte besondere Fähigkeiten, und jetzt erledige ich bloß irgendwelche Hilfsarbeiten. Manchmal glaub ich fast, du nutzt mich aus.«
Nate nickte. »Das haben dir die Masken eingeflüstert, stimmt’s? Ich habe dich doch vor ihnen gewarnt.«
Richie ließ die Schultern hängen. »Ich dachte, ich würde irgendwelche Zaubertricks lernen.«
»Wir zaubern nicht. Das ist Fantasy-Quatsch. Wir sind keine Hexenmeister.«
»... und gegen das Böse kämpfen.«
»Dämonen sind nicht böse. Sie sind nur lebendig gewordene Entropie.«
Richie sah Nate mit verständnislosem Blick an.
»Betrachte sie als wilde Tiere«, erklärte Nate, »als Elefanten oder Tiger, nur dass sie niemand außer uns sehen kann. Zoowärter kämpfen auch nicht gegen ihre Tiere, oder?«
»Nein«, räumte Richie ein.
»Sie passen auf sie auf«, sagte Nate.
»Ich dachte bloß, dass das Ganze ein bisschen ...« Richie suchte nach dem passenden Wort. »... ein bisschen magischer wäre«, sagte er schließlich.
Nate seufzte. »Auf Dämonen aufzupassen ist eine ernste Angelegenheit, kein Spiel. Generationen von Hütern haben ihr Leben der Aufgabe verschrieben, die Manifestationen des Chaos einzufangen, die in diesem Haus wohnen. Sie zu beschützen ist eine lebenslange Bestimmung, die wir über unsere persönlichen Bedürfnisse stellen.« Richie verdrehte die Augen, und Nate wurde be-wusst, dass er dem Jungen den gleichen Vortrag schon einmal gehalten hatte. »Und wer Fehler macht, wird aufgefressen«, fügte er hinzu. Ihm war klar, welches Risiko er mit Richie einging, einem orientierungslosen Straßenjungen ohne Perspektive.
»Du hast versprochen, dir Mühe zu geben«, erinnerte Nate ihn.
Richie nickte seufzend. »Ich weiß«, sagte er. »Aber wenn mir etwas langweilig wird, verlier ich die Lust.«
Nate verstand, was Richie meinte. Tagaus, tagein das Chaos in Schach zu halten konnte ziemlich eintönig sein.
»Große Schlachten mit bösen Hütern und kinderfressenden Monstern geschehen nicht alle Tage, Richie«, sagte Nate. »Der Großteil unserer Arbeit besteht aus stinknormalem Aufpassen, und die Chancen, dass wir noch mal so einen verrückten Tag erleben wie den, als wir uns begegnet sind, stehen ungefähr eins zu einer Million.«
Es war wirklich ein verrückter Tag gewesen, als sie sich kennengelernt hatten. Nates Mentor Mr. Dhaliwahl war gestorben und hatte das Haus und dessen Bewohner Nates Obhut überlassen, obwohl der gerade mal siebzehn Jahre alt war. Er war erst seit wenigen Wochen alleinverantwortlich im Amt gewesen, als der Dürre Mann aufgetaucht war, um ihn umzubringen, das Haus zu übernehmen und die darin wohnenden Dämonen zu versklaven. Der Dürre Mann war Mr. Dhaliwahls gescheiterter früherer Lehrling gewesen und mit drei gefährlichen Gehilfen und einer Riesenwut im Bauch zurückgekehrt. Nur eine Fehleinschätzung, in deren Folge der jähzornige Hüter unten im Keller von dem TIER verschlungen worden war, hatte Nate und Richie vor dem sicheren Tod bewahrt.
»Frieden und Ruhe zu haben ist eine gute Sache«, sagte Nate vieldeutig.
Richie verzog das Gesicht, was bedeutete, dass er verstand, worauf sein Mentor anspielte. Nate wusste, dass es für Richie ein gutes Geschäft war, in dem Haus wohnen zu können, auch wenn es dort keine Magie, sondern nur viel harte Arbeit gab. Drei warme Mahlzeiten am Tag und als Boss einen Teenager zu haben war allemal besser, als in einem Pappkarton oder in einem Bushäuschen zu schlafen, selbst wenn das Bett einen nächtens herumtrug und man gelegentlich die Treppe hinunterpurzelte.
»Apropos Arbeit«, sagte Nate, »ich möchte, dass du die Sträucher beschneidest.« Nate reichte seinem Lehrling eine armlange Machete.
»Wow!« Richie starrte die Waffe erstaunt an.
»Ach so, noch was.« Nate nickte. »Den hier solltest du auch mitnehmen.« Er wühlte in der Kiste mit dem Gartenwerkzeug herum und zog einen mittelalterlichen Schild heraus.
Im Nordwesten gehörten Brombeeren zu den einheimischen Obstgewächsen; sie gediehen auch in Nates Garten. Es war eine aggressive, sich rasend schnell ausbreitende Pflanze. Unbeschnitten wuchs sie rasch zu einem undurchdringlichen, eng verschlungenen Dickicht an, mit spitzen Dornen an den Trieben. Aber das wirklich Heimtückische an ihnen war, dass die Zweige eigene Wurzeln schlagen konnten, wo immer sie den Boden berührten, so dass der Strauch alle Handbreit neuen Halt fand, während er sich blitzartig ausbreitete und anderen Pflanzen den Lebensraum raubte.
Richie näherte sich einem der dornigen Sträucher mit dem naiven Selbstvertrauen eines Jungen, dessen Wissen über Brombeeren sich auf das Etikett eines Marmeladenglases beschränkte.
»Okay, oben muss ein bisschen runter«, sagte er und schwenkte die Machete lässig über den Strauch.
ZACK!
Ein abgeschnittener Brombeerzweig fiel zu Boden. Der Strauch erbebte bis hinab in die Wurzeln, die direkt unter Richies Füßen lagen. Der Boden vibrierte. Richie blickte sich um und dachte, dass vielleicht ein schwerer Laster vorbeigedonnert wäre. Er zuckte mit den Schultern und schwenkte die Machete erneut über den Strauch. Diesmal wichen die Zweige der Klinge aus.
»He!«, sagte Richie und fragte sich, ob der Wind sie zur Seite geblasen hatte, aber es regte sich kein Lüftchen. Er hieb erneut auf den Brombeerstrauch ein, und wieder verfehlte er die Zweige. Plötzlich ballten sie sich zu einem Bündel zusammen und schlugen zurück. Richie riss gerade noch rechtzeitig den Schild hoch.
DONG!
Das Zweigbündel prallte gegen das Metall und hinterließ tiefe Schrammen auf der Oberfläche. Richie machte große Augen. Die Dornen hatten den massiven Stahl zerkratzt! Einen Moment lang fragte er sich, was sie wohl in seinem Gesicht angerichtet hätten, wenn er nicht so schnell reagiert hätte. Während er dastand, schnellte ein Trieb heraus und schlang sich um seinen Fußknöchel.
»Aua, du teuflisches Ding!«, brüllte er, als die Dornen sich wie Bienenstacheln durch seine Socke bohrten.
Er ließ die Machete herabsausen und schlug den Zweig entzwei, so dass die Klinge im Erdreich stecken blieb. Er packte den Trieb, um ihn vom Knöchel abzureißen, und piekste sich sofort ein Dutzend Dornen in die Handfläche, was eine neue Runde selbst erdachter Verwünschungen nach sich zog.
Richie schwang die Machete hin und her, um sich die anderen Zweige vom Leib zu halten, während er den winzigen Trieb aus seiner blutigen Socke herausklaubte. Die Zweige wanden sich wie eine Horde wild gewordener Schlangen und schwangen beiseite, wann immer die Klinge ihnen zu nah kam; doch sobald sich in seiner Deckung eine Lücke auftat, schnellten sie vorwärts und versuchten ihn zu treffen.
Als Richie sich unter Schmerzen den Dornentrieb aus dem Fußknöchel gezogen hatte, wirbelte er herum, hieb wütend auf die angriffslustige Pflanze ein und hielt gleichzeitig den Schild nach unten, um seine Beine zu schützen. Zweimal durchbrach der Strauch seine Deckung und traf ihn am Arm und an der Wange, aber Richie konterte jedes Mal mit einem flinken Machetenhieb, so dass die Zweige wie vom Blitz getroffen ins Gras fielen und sich im Todeskampf wanden.
Schließlich erstarrte der Brombeerstrauch, und Richie reckte siegreich Waffe und Schild in die Höhe. Die Arbeit war erledigt. Er brauchte den Strauch nicht mehr zu beschneiden – er zog sich von selbst zurück.
«Ja, verzieh dich bloß«, rief er ihm nach, dann machte er kehrt und hielt sich für einen geschickten Gärtner und Schwertkämpfer. Was er nicht bemerkte, waren die zahllosen Brombeerzweige, die im Boden verschwanden und in Mr. Neebors angrenzenden Garten hinüberkrochen.