6. Kapitel
Spurensuche
Kurz vor der Brücke an der Aurora Avenue fuhr Sandy rechts an den Bordstein. Autos säumten die Straße, deshalb musste sie sich in eine enge Parklücke zwängen. Das Unterfangen dauerte mehrere Minuten und hinterließ einige geringfügige Dellen in den Stoßstangen der beiden Fahrzeuge vor und hinter ihr.
Nate versuchte ihr zu helfen. »Vorwärts, okay, jetzt zurück, zurück, zurück …«
RUMMS!
»Stopp«, sagte Richie grinsend.
Als der Wagen schließlich – mehr schlecht als recht – eingeparkt war, stiegen sie aus und begaben sich unter die Brücke.
Es sah schlimmer aus als auf den Fotos. Das Loch, wo die untere Körperhälfte des Trolls scheinbar im Boden gesteckt hatte, erinnerte an einen Bombenkrater. Überall lagen Betonbrocken herum. Heerscharen von Leuten liefen umher und machten Fotos, hoben Zementstücke als Souvenir auf und rätselten über das Verschwinden der Skulptur.
Nate schlenderte möglichst unauffällig zum Rand des Lochs. Ein gelbes Absperrband warnte die Schaulustigen vor der Grube, die sich unversehens im Boden auftat. Richie trat hinter Nate heran und blickte hinab.
«Hallo, hallo!«, rief er und lauschte auf das Echo.
»Erreg bitte kein Aufsehen«, flüsterte Nate ihm aus dem Mundwinkel zu.
«Wo könnte der Klotz sich bloß verstecken?«, fragte Richie. »Er is so groß wie ein Nashorn, das auf einem Elefanten reitet.«
»Keine Ahnung«, sagte Nate.
Richie wandte sich an Sandy. »Du bist doch die Schlaue hier. Hast du schon eine Theorie?«
»Ich arbeite dran«, antwortete Sandy knapp.
Da bemerkte Nate einen Mann in einem schlecht sitzenden Anzug, der in ihre Richtung blickte. »Los, lass uns gehen«, drängte Nate. Er versuchte Richie fortzuziehen, aber es war schon zu spät.
Der Mann im Anzug stocherte im Schutt herum und machte sich Notizen, aber als er die Jugendlichen bemerkte, schnüffelte er in die Luft und ging ihnen eilig entgegen. Es war der unförmigste Mensch, den Nate je gesehen hatte. Keine Hüften, keine Schultern, nur ein röhrenförmiger Oberkörper mit unnatürlich rundem Kopf darauf und stocksteifen Armen und Beinen. Seine Bewegungen waren seltsam ruckartig und hektisch.
»Hallo, ich bin Mr. Calamitous. Und wer seid ihr? Ich bin Reporter und gleichzeitig Forscher und untersuche dieses eigenartige Phänomen. Ich bin sehr gespannt. Es ist unglaublich, findet ihr nicht? Darf ich euch ein paar Fragen stellen?«
Er sprach so schnell, dass man gar nicht wusste, welche Frage er eigentlich beantwortet haben wollte.
»Es soll ein Streich gewesen sein, habe ich gehört«, murmelte Nate.
Calamitous lachte. »O nein. Das war kein Streich. Ganz und gar nicht.«
Er ließ etwas von dem zerbröckelten Beton durch die Finger rieseln – zwei Finger schienen ihm zu fehlen, aber seine Hand zuckte so schnell hin und her, dass Nate es nicht genau erkennen konnte.
Calamitous beschnüffelte den Zement. »Irgendetwas ist hier geschehen. Etwas Sonderbares. Etwas ... Chaotisches.«
»Wahrscheinlich waren es Uni-Studenten«, sagte Nate. »Die sind ziemlich verrückt.«
»Sagt mal«, plapperte Calamitous weiter, »wohnt ihr in der Gegend?«
»Ja«, antwortete Richie.
»Nein«, sagte Nate gleichzeitig.
»Du wohnst in der Gegend und du nicht?« Calamitous sah abwechselnd Nate und Richie an. »Hi-hi-hi«, kicherte er kopfschüttelnd. »Woher kennt ihr euch denn? Wo liegt die Verbindung? In welcher Beziehung steht ihr zueinander?«
»Eigentlich –«, setzte Nate an.
»Er ist mein Entzugshelfer«, fiel Richie ihm ins Wort. »Ich bin süchtig nach Videospielen.«
»Hmmm.« Calamitous legte einen seiner nervösen Finger ans Kinn. »Und das Weibchen?«
»Das was?«, fragte Sandy empört.
»Wer ist sie? Woher stammt sie? Wohnt sie auch in dieser Gegend? Welche Rolle spielt sie bei diesem übernatürlichen Ereignis?«
Nate wand sich innerlich. »Wer sagt denn, dass es ein übernatürliches Ereignis war?«
»Kann einer von euch spüren, was hier geschehen ist?«, redete Calamitous weiter auf sie ein, während er sich Notizen machte.
»Ich glaub, ich hab ein Stechen gespürt«, gab Richie zum Besten.
»Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden«, sagte Nate und packte Richie am Kragen.
»O nein. Ihr seid noch nicht entschuldigt«, sagte Calamitous, während ihm vor Aufregung der Speichel aus dem Mundwinkel troff. »Ich habe eine heiße Spur. Und die scheint irgendwie direkt zu euch zu führen.« Plötzlich hielt er inne, schnüffelte in die Luft und stakste eilig davon.
In dem Moment kam ein VW-Käfer vorgefahren. Er war pinkfarben und mit bunten Blumen bemalt. Das kleine Auto zog einen riesigen Wohnwagen, dessen Seiten gleichermaßen farbenfroh angepinselt waren. Ein anderes Auto brauste davon und hinterließ eine Parklücke, die groß genug war, um Wagen und Anhänger problemlos aufzunehmen.
Nate zog Richie beiseite.
«Was is dein Problem?«, fragte Richie. »Der Kerl stellt doch bloß ein paar Nachforschungen an.«
»Ja. Über uns«, schimpfte Nate. »Er ist neugierig. Er schnüffelt herum. Und wir sollten uns harmlos verhalten.«
»Wenn ich wüsste, was das bedeutet, würde ich versuchen, es zu tun«, erwiderte Richie.
»Es bedeutet, dass du die Klappe halten sollst«, sagte Nate. »Und erzähl nicht jedem, wo du wohnst.« Dann erstarrte er und blickte an Richie vorbei zu dem Käfer hinüber.
Ein etwa achtzehnjähriges Mädchen stieg aus. Die junge Frau trug ein wallendes Batikkleid, dessen Farben bei jeder Bewegung zu zerlaufen schienen. Ihre Birkenstock-Sandalen waren so ausgetreten, dass sie ihr auf die feingliedrigen Füße modelliert zu sein schienen. Sie hatte lange kastanienbraune Locken, die ihr wild, aber auf höchst attraktive Weise vom Kopf abstanden. Und im gepiercten Nasenflügel glitzerte ein Smaragd. Nun schloss sie die Augen, wie um die Aura des Ortes in sich aufzunehmen.
Nate starrte das Mädchen an.
Sandy musterte Nate. Ihre Augenbrauen zuckten nervös. »Wohin guckst du?«, fragte sie, obwohl ganz offenkundig war, wem sein Blick galt.
Die Fremde schüttelte ihren wilden Haarschopf, ging an den Leuten vorbei und trat geradewegs auf Nate zu.
»Ich bin Lilli«, sagte sie, »aus San Francisco. Hat hier der Troll gestanden?« Sie schloss erneut die Augen. »Ah, ja. Ich spüre seine Schwingungen. Ich glaube, er ist noch in der Nähe.«
»Wow«, staunte Nate.
»Welch eine Erkenntnis«, meldete sich Sandy zu Wort. »Er hätte ja wohl nicht weit kommen können, ohne dass ihn jemand sieht.«
»Du würdest staunen, wenn du wüsstest, was die Leute alles übersehen«, sagte Lilli humorvoll und zugleich geringschätzig.
»Wohl wahr«, sagte Nate.
Sandy verschlug es die Sprache. Sie kochte vor Wut.
»Ich schaue mir mal an, wo der Troll gestanden hat«, sagte Lilli lächelnd zu Nate und machte sich auf den Weg unter die Brücke.
Nate sah zu, wie ihr Hüftschwung die Farben des Kleides in rhythmischen Wellen auf und ab wogen ließ.
»Nate ...«, sagte Sandy. »Nate!«
»Ich hör dir zu.«
»Nein, tust du nicht«, entgegnete Sandy. »Wenn du bitte mal kurz den Blick von der Hippie-Tussi losreißen könntest.«
»Okay. Was ist denn?«
»Die Polizei denkt, die Diebe hätten die Figur mit einem Laster fortgeschafft«, sagte Sandy. »Ich glaube das nicht, du etwa?«
»Nein. Sie ist von selbst weggelaufen. Ganz sicher.«
»Das Ding wiegt mehrere Tonnen. Wenn es auf einer der beiden Straßenseiten durchs Gras marschiert wäre, hätte es Fußabdrücke hinterlassen.«
«Okay ...«
»Also muss der Troll die Straße mitten auf der Fahrbahn hinuntergelaufen sein. Und es gibt nur einen logischen Ort, wo sich etwas so Großes verstecken könnte.« Sandy wandte sich um und deutete auf das Ende der Straße, das unweit der Brücke lag. Unmittelbar dahinter war das Ufer des Lake Union, der sich am Rand der Innenstadt von Seattle befand.