8. Kapitel
Lillis Wohnwagen
Der Lake Union lag am nördlichen Rand des Stadtzentrums von Seattle. Dutzende von gut besuchten Restaurants und Läden säumten das Südufer, viele Terrassen zogen sich bis aufs Wasser hinaus. Kein guter Ort für einen davongelaufenen Troll, dachte Lilli, während sie vom Gas Works Park am gegenüberliegenden Nordufer auf den See blickte.
Der Gas Works Park war eine fünfzig Hektar große Halbinsel, die weit in das Gewässer hineinragte. Die Stadt Seattle hatte das Grundstück 1962 erworben und in eine öffentliche, für jedermann zugängliche Parkanlage umgewandelt, aber es hatte eine Bedingung gegeben: Das stillgelegte Gaswerk durfte nicht abgerissen werden. Die maroden, fünfzehn Meter hohen Gas-Silos erhoben sich über den Rasenflächen wie mürrische, finster dreinbli-ckende Riesen. Lilli fand sie toll. Sie wirkten wunderbar deplatziert in dem fröhlichen Grün des Parks, ein industrieller Kontrast zur frischen Luft und der Weitläufigkeit des Geländes. Dass man die Silos erhalten hatte, gefiel ihr.
Lilli beobachtete das Wasser. Die willkürlichen Zusammenstöße der Wellen ließen den See funkeln wie einen Weihnachtsbaum. Alles war fortwährend im Wandel, herrlich chaotisch, aber inzwischen starrte sie seit einer Stunde auf das Wasser und hatte keinen Hinweis auf den Troll entdeckt. Sie trat aus dem Schatten des vor sich hin rostenden Werksgebäudes. Es besaß eine ganz eigene Schönheit, zum Beispiel in der Art, wie die Verwitterung den Anstrich durchsetzte und dadurch ganz neue Farbtöne erschuf. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, hätte man sagen können, dass der Rost das stillgelegte Gaswerk bei lebendigem Leib auffraß, aber Lilli sah das Ganze mit den Augen einer Künstlerin.
Sie ging den Weg hinauf zum Wohnwagen. Eigentlich war das Gefährt ja ein umgebauter Tourbus, den die gescheiterte Sechzigerjahre-Folk-Band Groove-a-Thon ausrangiert hatte. Er fuhr nicht mehr. Deshalb wurde er von dem kleinen geblümten VW-Käfer gezogen, was physikalisch zwar unmöglich war, aber trotzdem irgendwie funktionierte. Die Außenwände waren mit kunterbunten Bildern bemalt, die Fenster in schillernden Grün-und Orangetönen überpinselt.
Lilli schaute sich prüfend um, dann schob sie die zweiteilige Falttür auf und kletterte in den Bus.
Der langgezogene Eingangsbereich mündete in ein großes Wohnzimmer. Die Schlafzimmertür lag links, und durch einen Türbogen blickte man in die Küche. Dass die Räume so groß und die Gänge so lang waren, war physikalisch natürlich genauso unmöglich wie der Umstand, dass das kleine Auto den schweren Bus zog, und doch war es so. Von außen war Lillis Wohnwagen nur ein unbewegliches Fahrzeug. Drinnen aber war er so geräumig wie ein kleines Haus.
Lillis Blick wanderte über die psychedelische Wohnzimmerlandschaft. Lebendige Farben zogen über die Wände, dann lösten sie sich von ihnen ab und schwebten leuchtend durch den Raum. Sie glitten zu ihr heran, umflossen verspielt ihre Füße und schmiegten sich um ihre Knöchel wie verschmuste Katzen. Auf dem Boden schwammen formlose Farb- und Tongebilde wie ein zum Leben erwachter Teppich.
Lilli schwenkte die Hand durch die Luft, und wo immer sie hindeutete, veränderten sich die Farbsphären. Es gab hunderte dieser knallbunten Wesen, in sämtlichen Größen, Formen und Klangstufen, alle eingesammelt in Gebäuden und auf U-Bahnhöfen sowie an zahllosen anderen Orten, wo in der Stadt willkürliche chaotische Schönheit aufgetaucht war, die jedoch alsbald wieder verschwunden wäre, wenn Lilli sie nicht aufgelesen und nach Hause mitgenommen hätte.
Um sie her erstrahlte ihre eigene purpurne Aura, als sie sich schließlich, erschöpft von den Ereignissen des Tages, rücklings in eine Hängematte fallen ließ, die einer ihrer Lieblinge blitzschnell bildete.
Auf der anderen Seite des Raums erschien in einer dunklen Ecke ein schattenhafter Punkt, ein schwarzes Nichts inmitten der wirbelnden Farben. Die Dunkelheit breitete sich aus wie ein Tintenfleck auf einem Bild, wurde größer und größer, bis sie schließlich die sie umgebenden Farben überdeckte.
Lilli drehte sich in der Hängematte zur Seite, um einen besseren Blick auf die seltsamen Gebilde zu haben, die ihren Wohnwagen erfüllten.
Im Zentrum der Schwärze öffneten sich zwei runde weiße Augen. Sie blickten unter buschigen, dicht beieinanderstehenden Brauen hervor und fixierten Lilli. Dann kam in der Dunkelheit ein runder kahler Kopf zum Vorschein, und schließlich vervollständigte ein breites, unheilvolles Grinsen das pausbäckige Gesicht.
»Sehr dramatisch, Zoot«, bemerkte Lilli, »aber du hast mich nicht erschreckt.«
Zoot grunzte enttäuscht und hörte auf, durch die schwarze Fläche ins Zimmer hineinzufließen. Stattdessen hob er einen kurzen Dreizack – der große Ähnlichkeit mit einer silbernen Fischgabel hatte – und schlug einen breiten weißen Riss in die Schwärze; dann sprang er aus dem Loch heraus und landete auf seinen überlangen zweizehigen Füßen mitten im Zimmer, ein strahlendes Lächeln im Gesicht.
Lilli lächelte zurück. Ihr dämonischer Gefährte reichte ihr ungefähr bis zu den Knien, sein pummeliger Körper war hellrosa, abgesehen von dem gelbbraunen Kugelbauch. Zwei übergroße grüne Hörner ragten aus seinem Kopf hervor. Die Hände am Ende von Zoots dünnen Ärmchen waren genauso schlicht wie alles andere an ihm – an jeder Hand hatte er nur drei Finger, und aus jedem ragte eine breite stumpfe Klaue hervor. Eigentlich waren es eher Pfoten als Hände, dachte Lilli, und alles in allem sah Zoot aus wie eine riesige rosa Birne mit Clownsfüßen und Bockshörnern.
«Machst du das bitte sauber?«, bat sie ihn.
Zoot schwenkte den Dreizack durch die Luft, und das schwarze Loch hinter ihm schloss sich, so dass dahinter wieder die Farben zum Vorschein kamen.
«Der Troll hat sich versteckt«, sagte Lilli.
Zoot runzelte die Stirn und überlegte, dann zog er den Dreizack über die Wand. Eine dunkelblaue Farbe zerfloss zu einer runden Form, und schwarze Linien wuchsen zu Wolkenkratzern in die Höhe.
»Genau«, sagte Lilli. »Der See mitten in der Stadt.« Sie stieg aus der Hängematte und legte eine Hand auf Zoots dicken Kopf. »Ich glaube, der Troll fürchtet sich vor etwas.«
Zoot wirbelte den Dreizack herum und malte Lilli ein verschlagenes Grinsen aufs Gesicht.
»Nein, nicht vor uns«, sagte sie, und ihre Stimme klang wie ein Knurren. Mit dem Handrücken wischte sie sich die höhnische Grimasse ab, die der kleine Dämon ihr verpasst hatte. »Vor uns muss man keine Angst haben.«
In dem Moment klopfte es an der Tür.
Es war nicht ungewöhnlich, dass die Polizei sie von den Stellen verjagte, an denen sie den bunt bemalten Wohnwagen parkte. Verdrossen ging sie durch den Flur und öffnete die Tür, doch es war nicht die Polizei.
Ein nervöser, sonderbar aussehender Mann mit einem Notizblock in der Hand stand vor der untersten Treppenstufe. Er sprach rasend schnell und wirkte seltsam aufgeregt.
»Hallo«, sagte er. »Ich habe dich heute unter der Brücke gesehen. Du suchst den Troll. Genau wie ich. Ich bin Mr. Calamitous. Ich untersuche sein Verschwinden.« Er verstummte und schnüffelte in die Luft, dann bombardierte er sie mit Fragen, ohne ihr Zeit zum Antworten zu lassen. »Hast du einen Moment Zeit? Kann ich mit dir sprechen? Darf ich reinkommen?«
»Das ist ein schlechter Zeitpunkt«, sagte sie.
»Ja? Warum denn? Was ist los? Wo liegt das Problem? Es wird auch nicht lange dauern, ja?«
»Nein. Ich habe nicht aufgeräumt.«
»Dann vielleicht ein paar Fragen hier draußen?« Er stellte den Fuß auf die unterste Stufe. »Nur zwei oder drei. Höchstens vier.«
»Hören Sie auf. Allmählich fühle ich mich von Ihnen bedrängt.«
»Gut. Dann komme ich später wieder. Ja, genau, so machen wir es.«
»Ich werde nicht hier sein«, sagte Lilli.
»Das ist schon in Ordnung. Okay. Ja. Vielen Dank für deine Zeit, Miss ...?«
Lilli schlug die Tür zu.
PENG!
»Der Kerl gefällt mir nicht«, sagte Lilli.
Zoot zuckte mit den Schultern und sah sie fragend an.
»Ich weiß nicht, warum«, antwortete Lilli. »Aber er hat ein schlechtes Karma, und ich kann überhaupt keine Aura erkennen.« Sie verschluss die Tür und ging durch den Flur zum Schlafzimmer. Zoot watschelte ihr nach. »Ich glaube, ich leg mich hin und setze die Suche morgen früh fort, Kleiner«, sagte Lilli. »Es ist ja nicht so, dass irgendjemand den Troll noch heute Abend findet.«