10. Kapitel
Zwei Küsse an einem Tag
Nate und Sandy standen auf der Veranda. Die Sonne war jetzt vollständig aufgegangen und schien zwischen den grauen Wolken hindurch zaghaft auf ihre müden Gesichter herab.
Es war nicht wie geplant gelaufen, so wie immer. Nach dem Angriff war Flappy kopfüber in die Dunkelheit gestürzt und irrte nun sicherlich ziellos umher. Es war unwahrscheinlich, dass er so bald wieder auftauchen würde, denn er hatte einen schlechten Orientierungssinn. Das war ein herber Verlust – Nate hatte den kleinen Winddämon gern. Dhaliwahl hatte die beiden einander vorgestellt, als Nate bei ihm eingezogen war. Ursprünglich hatte der alte Inder nicht gewollt, dass Nate sich mit dem unberechenbaren Kerlchen zu sehr anfreundete, aber dann hatten die beiden sich so gut verstanden, dass Nates Meister nachgegeben hatte und Flappy Nates erster Gehilfe geworden war.
Neben Flappys Verlust hatten sie auch den Troll nicht vernünftig an seinen angestammten Platz zurückbefördert – keine besonders geschickte Rettungsaktion für einen Dämonenhüter und seinen Lehrling. Außerdem hätte man sie fast auf frischer Tat ertappt. Als Sandy über die Brücke zurückgerannt kam, hatte sie klugerweise vorgeschlagen, sich doch hinter Lillis in der Nähe geparktem Anhänger zu verstecken, bevor der Polizist auftauchte. Die Ziegen hatten vor lauter Angst mucksmäuschenstill dagestanden, während der Beamte sich, kaum fünf Meter entfernt, unter der Brücke umsah.
Dann waren da noch dieser komische Reporter, der so großes Interesse an Nate zeigte, und das seltsame Mädchen, von dem Nate so fasziniert war. Er merkte, dass ihm dutzende Dinge durch den Kopf gingen, während er mit einer Hand am Türknauf dastand und darauf wartete, dass Sandy ging.
»Ich habe meiner Mutter erzählt, ich würde ganz früh losgehen, um mit der Inventur anzufangen, bevor die Bibliothek öffnet«, sagte Sandy. »Ich sollte mich lieber auf den Weg machen, um mein Alibi aufrechtzuerhalten.«
»Okay«, sagte Nate und fragte sich, warum sie eigentlich immer noch dort stand, wo sie doch so dringend losmusste.
»Es hat Spaß gemacht«, fuhr sie fort. »Ich hätte zwar sterben können, aber es war interessant.« Noch immer machte sie keine Anstalten zu gehen. Schließlich leckte sie sich die Lippen.
Plötzlich verstand Nate. Sie wollte einen Kuss von ihm. Danach schien ihr immer dann zumute zu sein, wenn sie eine gefährliche Situation überstanden hatten. Sie hatten sich auch nach der erschreckenden Episode mit dem Dürren Mann geküsst. Genau genommen war sie danach mehrere Tage lang richtig verschmust gewesen. Und nachdem sie einige Wochen später fast von Nates dämonischem altem Rasenmäher überrollt worden wären, war es wieder Zeit für einen Schmatzer gewesen – sie hatten gleich dort im Schuppen die Lippen aufeinandergepresst.
Er betrachtete Sandy im hellen Tageslicht. Sie war seit halb vier wach; ihre von den dicken Brillengläsern vergrößerten Augen waren gerötet. Dazu war sie pudelnass vom Nieselregen, wie eine feuchte Kanalratte. Sie sah ganz schön mitgenommen aus, fand Nate, und roch ein bisschen nach Ziege. Er zögerte.
»Du wirkst zerstreut«, sagte sie.
Er wollte nichts erklären, deshalb beugte er sich zu ihr hinüber. Sie schloss die Augen, schürzte die Lippen, und er küsste sie – auf die Wange. Sandy wandte den Kopf, suchte blind nach seinem Mund, verfehlte ihn aber. Stattdessen stießen ihre Nasen zusammen.
»Na dann«, sagte Nate und löste sich abrupt aus der Umarmung. »Bis morgen.«
»Es ist doch schon morgen.«
»Na schön. Dann eben bis nachher.«
»Okay.« Stirnrunzelnd gab sie auf und ging davon.
Richie blickte aus dem Fenster; Nik hockte auf seiner Schulter, Pernikus auf seinem Kopf.
»Schwache Nummer, Mann.«
»Ich hab den Kopf mit anderen Sachen voll, okay?«, sagte Nate. »Und überhaupt, was soll das, uns einfach zu beobachten?«
»Was kommt als Nächstes?«, fragte Richie. »Suchen wir Zunder? Kail? Das Ungeheuer von Loch Ness?«
»Ich muss nachdenken«, sagte Nate. »Ich gehe spazieren.«
»Ich hol mein Sweatshirt.«
»Ich gehe allein spazieren«, grummelte Nate und stieg die Stufen hinab.
»Keine Sorge«, rief Richie ihm nach. »Ich werd diese Hüter-Sache bald voll draufhaben. Erst mal halt ich hier die Stellung, während du unterwegs bist.«
Hinter seinem Rücken kam die Zudecke seines schlafwandelnden Betts angekrochen. Sie begrub ihn unter sich, zerrte ihn dann durch den Flur und schleuderte ihn gegen Möbel und Wände. Quietschend vor Lachen tobten Nik und Pernikus ihnen hinterher.
»Tu das«, sagte Nate leise.
Kurz darauf fand er sich vor Lillis bunt bemaltem Wohnwagen wieder und fragte sich, was er eigentlich hier wollte. Sein Herzklopfen verriet ihm, dass er nicht dort sein sollte, aber als er gerade kehrtmachen wollte, öffnete sich die zweiteilige Falttür.
Der Duft von Räucherstäbchen wallte ihm entgegen, und dann kam Lilli herausgeschwebt wie eine Fata Morgana. Sie trug einen fleckigen Arbeitskittel und schien von seinem Erscheinen nicht im Geringsten überrascht zu sein.
»Ah, du bist es«, sagte sie. »Endlich.«
»Woher hast du gewusst, dass ich kommen würde?«
»Du warst rot.«
»Rot?«
»Deine Aura. Als du mich gesehen hast, hat sie aufgeleuchtet wie eine Glühbirne.«
»Du siehst Dinge?«, fragte Nate.
»Ich sehe die Schönheit der Dinge.«
»Ich nicht. Ich sehe Chaos.« Nate wusste nicht, wie viel er ihr verraten sollte. Er kannte sie ja überhaupt nicht, aber er fühlte sich ihr nahe und wollte ihr erzählen, wer und was er war.
Lilli lachte. »Ehrlich, manchmal macht mir die Art, wie ich auf die Welt blicke, richtig Angst, aber ich glaube, es kommt nur darauf an, was man dabei fühlt. Was fühlst du, Nate?«
»Ich empfinde Verantwortung«, antwortete er.
»Wofür?«
»Manchmal für die ganze Welt.«
Lilli wedelte mit einem Malpinsel hin und her, den Nate noch gar nicht in ihrer Hand bemerkt hatte. Farbe schoss aus den Borsten heraus und spritzte vibrierendes Leben an die nahe Betonwand. »Was siehst du dort?«
»Graffiti?«
Lilli lachte. »Oh, das ist traurig. Armer Junge. Du solltest reinkommen und dir die schönen Seiten des Lebens anschauen.« Sie drehte sich um und ging voraus. Nach wenigen Schritten hielt sie inne. »Kannst du Geheimnisse bewahren?«
»Das tue ich andauernd«, erwiderte Nate.
»Weißt du, was ich bin?«, fragte ihn Lilli.
Nates Herz machte einen Satz. »Ich glaube schon«, sagte er eifrig. »Weißt du, was ich bin?«
Lilli nickte. »Ja. Das ist offensichtlich. Man muss nur wissen, was deine Farben bedeuten.«
»Tatsächlich? Und was bedeutet es, wenn ich aufleuchte wie eine rote Glühbirne?«
Lilli beugte sich zu ihm herüber. »Das hier ...«
Sie zog Nate an sich und küsste ihn. Ihre Lippen waren geöffnet, ihre Zunge tastete in seinem Mund herum, tat, was ihr gefiel. Es war ganz anders als Sandys vorsichtige Küsse ... viel besser.
Als sich ihre Münder voneinander lösten, schwebte ein purpurfarbenes Wölkchen zwischen ihnen. Selbst Nate konnte es sehen.
»Und, hat es sich gut angefühlt?« Lilli lächelte, während das Wölkchen langsam verblasste.
»Mhm.«
»Dann komm. Ich zeige dir noch mehr schöne Sachen.«