12. Kapitel

Der Hüter und
die Sammlerin

Nate ging durch einen Vorhang aus bunten Perlen in allen Formen und Größen. Die herabhängenden Ketten schwangen wie von Zauberhand zur Seite und gaben den Weg frei. Er trat ins Wohnzimmer und war verblüfft, dass es viel, viel größer war, als das Äußere des Gefährts es vermuten ließ. Die Wände waren voller improvisierter Gemälde, Graffiti und Zeichnungen, alle ständig in Bewegung. Während Nate sie anschaute, verschwammen sie zu neuen Gebilden. Die Skizzen drehten und verschoben sich, neue zeichneten sich von selbst. Die Wohnzimmermöbel waren an die Wände und auf den Boden gemalt.

»Setz dich«, sagte Lilli.

Nate hatte inzwischen Vertrauen zu ihr gefasst, deshalb lehnte er sich zurück und fand sich – wundersamerweise – auf einem an die Wand gemalten Stuhl sitzend wieder.

»Wo hast du das alles her?«, fragte er.

»Ich entdecke es draußen in der Welt und sammle es. Diese Dinge ziehen mich an.« Hinter ihr entstand jetzt ein Porträt von Lilli und folgte ihren Bewegungen wie ein Schatten. »Und ich ziehe diese Dinge an. Wenn ich in Städten flüchtige oder instabile Schönheit entdecke, dann biete ich ihr an, sie herzubringen und ihr ein Zuhause zu geben, einen Ort, wo sie überleben kann, damit sie nicht verloren geht. Was du hier siehst, habe ich über zehn Jahre hinweg zusammengetragen.«

»Es ist Chaos«, sagte Nate. »Ich sehe es auch, aber du gehst damit ganz anders um als ich.«

»Ich bin ein Sammler. Du etwa nicht?«

»Doch, in gewisser Weise schon. Aber ich betrachte diese Sachen aus einem anderen Blickwinkel. Und ich bezeichne mich als Hüter.«

»Bei dir klingt das, als wäre es furchtbar anstrengend.«

»Ist es auch.«

»Daran sollten wir arbeiten«, schlug sie vor. »Hässli-che Gedanken, hässliches Karma. Warum versuchst du nicht mal an etwas Schönes zu denken?«

Nate starrte sie an, und ihre Aura wechselte zu einem leuchtenden Pink.

»Etwas anderes, Dummerchen. Etwas, das tief in deinem Herzen steckt. Du kannst es auf die wandelnden Kunstwerke an den Wänden projizieren. Sie reflektieren die Gedanken derjenigen, die sich auf sie einlassen. Sie werden dir helfen, deine Empfindungen zum Ausdruck zubringen.«

Nate versuchte in sich zu gehen und in seine Gefühlswelt einzutauchen. Plötzlich verrutschten die Farbflächen und flackerten und wimmerten.

«Fröhliche Gedanken ...«, wies Lilli ihn an.

Nate gab sich Mühe und versuchte, sich seine Empfindungen bewusst zu machen. Das hatte er schon seit einer ganzen Weile nicht mehr getan, und es fiel ihm schwer. Die Farben verschwammen, wurden trüb. Ein schmerzerfülltes Kreischen ertönte, während sich um ihn herum eine grauenvolle Szenerie materialisierte – das Wasser stand ihm bis zum Hals, und undeutliche Gestalten ertranken. Er erhob sich, aber das Wasser stieg mit ihm an. Er versuchte zu schwimmen, konnte es aber nicht. Er ging unter. Er hörte Schreie.

Die Farben winselten qualvoll.

»He! Du tust ihnen weh!«, rief Lilli.

Zoot erschien und stieß Nate die lange Mittelzinke seines Dreizacks in den Fuß.

»Autsch!« Nate verdrängte seine Gefühle augenblicklich und leerte seinen Geist. Er hielt sich den Fuß und hüpfte auf einem Bein, während die erschrockenen Farben vor ihm zurückwichen und sich Trost suchend um Lilli scharten. Als er an sich hinabblickte, entdeckte er keine Verletzung an seinem Fuß – der Schmerz war nur Einbildung gewesen.

Zoot wich rasch zurück und baute sich mit hocherhobenem Dreizack zwischen Nate und den Farbdämonen auf, für den Fall, dass der Besucher erneut versuchen sollte, seine Gefühle auszudrücken.

»Es tut mir leid«, sagte Nate.

»Hast du schon mal daran gedacht, zu einem Therapeuten zu gehen?« Stirnrunzelnd winkte Lilli Zoot zurück. »So eine Reaktion habe ich von den Farben noch nie erlebt. Es ist ziemlich beunruhigend.«

»Ich gehe jetzt lieber«, sagte Nate und wandte sich zur Tür.

Nun wurde Lilli sanfter. »Hey, mach dir keine Sorgen, okay?« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du hast also ein paar Probleme. Na und? Bestimmt gibt es in dir auch Angenehmes zu entdecken. Wir müssen nur danach suchen.«

»Du hast es wirklich schön hier«, sagte Nate. »Es ist so friedlich. Aber ich sag dir, die Welt da draußen kann ein richtig hässlicher, unangenehmer Ort sein.«

»Aber sie kann auch wunderschön und sanft sein«, konterte Lilli.

»Es geschehen so viele schlimme Dinge.«

»Und viele gute.«

Nate seufzte. »Weißt du«, sagte er und gab die Debatte auf, »du könntest genau das sein, was mir fehlt.«

 

Auf dem Heimweg überschlugen sich Nates Gedanken. Gestern hatte er noch geglaubt, einer Seelenverwandten begegnet zu sein. Er hatte Lillis Fähigkeiten gespürt. Aber sie war nicht wie er. In mancher Hinsicht schon, in anderer hingegen waren sie völlig verschieden. Sie konnte Dämonen sehen, so wie er, aber sie war eine Kunstsammlerin, während er eine Art Tierpfleger war. Sie spürte nicht die Erdenschwere. Sie war frei wie der Wind. Sie zog nach Lust und Laune herum und sah nicht die dunkle Seite des Chaos. Er hatte nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass andere Leute, die die gleichen Fähigkeiten besaßen wie er, diese ganz anders einsetzen könnten. Dhaliwahl hatte den Anschein erweckt, es gebe nur eine Verwendung für die Fähigkeit, Dämonen sehen zu können – nämlich wie ein mürrischer Schiedsrichter nach Ärger Ausschau zu halten und Menschen und Dämonen voreinander zu schützen. Lilli belastete sich nicht mit solch schwerwiegenden Angelegenheiten. Sie war eher wie ein unbekümmertes Kind, das am Strand nach Muscheln sucht. Sie hatte ihm aufgezeigt, dass es für jemanden wie ihn mehr als eine Möglichkeit gab, sein Leben zu gestalten, und dass die Welt nicht so schwarz und weiß war, wie Dhaliwahl sie hatte erscheinen lassen. Nate begann sich zu fragen, welche Geheimnisse ihm sein verstorbener indischer Mentor wohl noch vorenthalten hatte.