13. Kapitel

Der Fuchs im Gänsestall

Neugierig beobachtete der Dämonenfresser, wie Nate losging. Auch der Junge war unter der Brücke gewesen, wo der Troll hockte, und auch er roch intensiv nach Dämonen.

Dann richtete er sein Augenmerk auf den Wohnwagen; sein Appetit war größer als seine Neugier. Ihm knurrte schon der Magen. Im Wohnwagen gab es viele Dämonen. Keine großen, aber eine riesige Auswahl an kleineren Exemplaren. Nun kam auch das Mädchen heraus, das sich um die Geschöpfe kümmerte, sperrte die Tür ab und ging davon. Der Dämonenfresser hatte sie in San Francisco dabei beobachtet, wie sie eine bunte Malerei von einem Eisenbahnwaggon heruntergelockt hatte, indem sie sie einfach zu sich winkte. Dann hatte sie sich das Bild in den Arbeitskittel gestopft und mitgenommen. Der Dämonenfresser hatte sich auf den Eisenbahngleisen herumgetrieben und von den lustigen und erschreckenden Bildern ernährt, die herumstreunende Jugendbanden mit Spraydosen an die Waggons gesprüht hatten. Deshalb hatte er sich von ihr betrogen gefühlt und sich gesagt, dass sie ihm eine ordentliche Mahlzeit schuldete. Ihr nach Seattle zu folgen war kein leichtes Unterfangen gewesen und hatte einen Gestaltwandel erfordert, aber der Umzug hatte sich als interessant und appetitanregend erwiesen. Wie San Francisco brachte auch Seattle noch die Vielfalt und Spontanität hervor, an der sich der Dämonenfresser so gern labte.

Er schlängelte sich zu dem Bus hinüber, richtete sich neben der abgeschlossenen Falttür auf und stieß eine Klaue durch das breite Seitenfenster. Glasscherben prasselten auf seinen harten Panzer herab, während er im Innern des Wohnwagens nach dem Türriegel tastete. Die Tür sprang auf, und Sekunden später war er im Bus und glitt eilig durch den Flur.

Die Geschöpfe flohen vor ihm, die bunten lebendigen Schmierereien mit ihren lauten hellen Klängen, alle wichen sie ins Wohnzimmer zurück, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch das spielte keine Rolle. Der Dämonenfresser huschte hinterher und platzte in den Raum, reckte den spitzen, strohhalmförmigen Schnabel vor wie ein riesiger Moskito, stach ihn in die zerlaufenden Farben und schlürfte sie auf wie verschütteten Fruchtjoghurt. Die Geschöpfe schrien im Todeskampf, aber selbst ihre Klänge konnten ihm nicht entkommen. Der Dämonenfresser schlang auch sie hinunter.

Er schlemmte nach Herzenslust. Das Mädchen war nicht da, konnte ihn nicht aufhalten. Aber die Kleine hatte sich als äußerst nützlich erwiesen. Denn der Geruch vieler Dämonen hatte an ihr gehaftet, und der Duft hatte ihn hergelockt wie einen Fuchs in den Hühnerstall.

 

Später am Abend stieg Sandy eifrigen Schrittes auf Nates Veranda. Sie hatte drei verschiedene Tageszeitungen dabei; den Laptop hatte sie sicherheitshalber zu Hause gelassen. Die Tür ging auf und ließ sie hinein. Sie marschierte geradewegs zum Arbeitszimmer, wo Richie versuchte, Pernikus vom Kronleuchter herunterzulocken, von dem aus der kleine Hauskobold Nichtsahnenden, die unter ihm hindurchgingen, auf den Kopf spuckte.

»Wo ist Nate?«, fragte Sandy.

»Spazieren gegangen«, sagte Richie.

»Spazieren gegangen?« Sandy rümpfte die Nase. »Wo denn?«

»Keine Ahnung.« Richie zuckte mit den Schultern. »Ich bin doch nich seine Mutter.«

Als Nate wenig später nach Hause kam, hatte Sandy ihre Zeitungen auf dem Couchtisch und auf dem Boden ausgebreitet.

»Wo warst du?«, platzte es aus ihr heraus.

»Spazieren.«

»Wo?«

»Bist du vielleicht meine Mutter?«, konterte Nate, während ihm eine Ladung Speichel auf den Kopf platschte.

Richie kicherte, und Sandy schleuderte die Seattle Times auf den Tisch. Auf der Titelseite prangte ein Foto des Polizisten, mit dem sie letzte Nacht gesprochen hatten; der Mann posierte vor dem blanken Hinterteil des Fremont Trolls wie ein siegreicher Boxer vor einem zu Boden gegangenen Gegner.

»Eigentlich hätten wir auf die Titelseite gehört«, beschwerte sich Richie. »Wir haben den Troll zurückgelockt. Und die zehntausend Dollar hätten wir auch bekommen müssen.«

»Ein Hüter lenkt keine Aufmerksamkeit auf die Dämonen, die er beschützt«, grummelte Nate. »Alle Welt redet jetzt über den Troll, der plötzlich mit dem Kopf im Boden steckt.«

»Ja, man nennt ihn jetzt den ›Fremont-Hintern‹«, lachte Richie. »Ich wette, dieser komische Reporter würde zu gern eine Geschichte über uns schreiben.«

»Wir sind kein Gegenstand für die Zeitung.«

»Ich habe uns eine Pizza bestellt«, unterbrach Sandy.

Richie stieß begeistert die Faust in die Luft. »Ja!«

»Eine vegetarische.«

»Neiiiin! Erst wird man heißgemacht und dann so was. Als bekäme man einen Kuss versprochen, und dann küsst einen die hässliche Schwester.«

Nate blinzelte nervös, als die Rede aufs Küssen kam.

»Ich dachte nur, wir sollten etwas essen, während wir unsere Strategie besprechen«, sagte Sandy.

»Ich kann mich nicht erinnern, eine Strategiebesprechung einberufen zu haben«, entgegnete Nate.

»Du hast doch selbst gesagt, dass Zunder und Kail noch immer frei herumlaufen«, widersprach Sandy. «Woher wusstest du überhaupt, dass der Troll wieder in die Grube zurücksteigen würde?«

»Keine Ahnung. Mir ist nur eingefallen, irgendwo gelesen zu haben, dass Trolle im Sonnenlicht erstarren. Kam mir wie eine gute Idee vor.«

»Wir haben unser Leben aufs Spiel gesetzt. Ich finde, wir sollten unsere Taktik nach etwas Logischerem ausrichten als nach vagen Ideen.«

»Hier geht es nicht um unsere Taktik«, sagte Nate. »Es ist allein meine Sache. Wenn es euch beiden nicht passt, wie ich die Dinge anpacke, dann braucht ihr mir nicht zu helfen. Und Richie, wenn du ein Hüter werden möchtest, dann musst du eines begreifen: Bei dieser Aufgabe gibt es keine Belohnungen, keine Zeitungsfotos und keine Gespräche mit sonderbaren Fremden.«

»Du bist doch nicht mein Vater.«

»Wir sind hier in meinem Haus, also bestimme ich die Regeln«, entgegnete Nate.

Sandy blätterte im Dämonenhüter-Kompendium. »Hier steht aber etwas anderes drin. Wartet, ich finde die Stelle.«

»Gib das her!« Nate riss ihr das Buch aus den Händen.

»Ich dachte, ich soll für dich daraus vorlesen.«

»Aber nicht, damit du es gegen mich verwendest!«, schimpfte Nate wütend.

»Was ist denn nur in dich gefahren?«, fragte Sandy argwöhnisch. »Du verhältst dich total komisch, seit –«

In dem Moment klopfte es an der Tür. »Ich geh schon«, sagte Nate und freute sich, die Frage nicht beantworten zu müssen.

»Is wahrscheinlich irgendein Fensehsender, der die tollen Troll-Fänger interviewen will«, rief Richie ihm nach.

»Eher ist es die Polizei, die uns ausfindig gemacht hat und erfahren will, wie wir die Skulptur zurückgeschafft haben«, murmelte Nate.

Aber als er die Tür öffnete, standen keine Polizisten oder Fernsehleute vor ihm. Es war Lilli, und sie war tränenüberströmt.

»Sie sind verschwunden«, schluchzte sie.

»Wer?«, fragte Nate.

»Alle.«

 

Lillis Wohnwagen tauchte wie ein einsamer schwarzer Kasten am Ufer des Lake Union auf, scharf umrissen vor dem mondbeschienenen Wasser. Nate, Richie und Sandy gingen darauf zu; Lilli blieb ein Stück zurück.

»Ich kann da nicht hineingehen«, flüsterte sie. »Es ist zu schrecklich.«

Nate bedeutete ihr, stehen zu bleiben, und schlich vorsichtig auf den umgebauten Bus zu, Richie im Schlepptau. Als Nate vor dem eingeschlagenen Fenster verharrte, schob Richie sich an ihm vorbei und versetzte der Falttür einen kräftigen Tritt.

RUMMS!

Die Bustür bog sich nach innen und öffnete sich ein Stück. Ein Luftzug wehte Nate ins Gesicht. Der schwere Räucherstäbchenduft von vorhin war verschwunden.

Stattdessen roch die lauwarme Luft nach ... Nate wusste es nicht genau.

»Nicht so stürmisch«, warnte er seinen Lehrling, als Richie auf die Tür zutrat, um einen Blick in den Bus zu werfen. »Es könnte gefährlich sein.«

»Es is stockduster«, pflichtete Richie ihm bei, der keine Lust hatte, tatsächlich den Kopf ins Innere des Gefährts zu stecken.

Nate schaute Richie über die Schulter. Beide hielten die Luft an.

KLICK!

Ein Lichtstrahl durchschnitt die Dunkelheit. Die Jungen schraken zusammen und fuhren herum.

»Sandy!«, blaffte Nate.

Sie stand mit einer Taschenlampe hinter ihnen. »Was ist denn?«, fragte sie, während sie ins Innere des Busses leuchtete.

Im hellen Licht kamen saubere weiße Wände zum Vorschein. Nate starrte mit offenem Mund hinein. Die faszinierenden Farbgebilde waren verschwunden. Die Möbel ebenso. Die Zimmer auch. Das Innere das Busses war zu einem einzigen kleinen Raum zusammengeschrumpft, der allem Anschein nach nichts weiter war als ... der leere Innenraum eines ausgeschlachteten Busses.

Plötzlich erkannte Nate den Geruch oder vielmehr das Fehlen aller Düfte. Der Bus roch steril. Die Gerüche waren verschwunden.

Verwirrt kletterte Sandy hinein. »Was ist denn nun soooo schlimm, bitte schön?«

»Es ist so, wie sie sagt«, flüsterte Nate und folgte Sandy. »Alles, was sie besessen hat, ist weg.«

»Gestohlen?«

»Nein«, sagte Nate.

»Und warum flüsterst du?«, fragte Sandy. »Hier ist doch niemand.«

Deutlich entspannter stieg nun auch Richie in den Bus. »Kumpel, ich hab Erfahrung mit solchen Sachen: Es sieht aus, als wäre all ihr Zeug geklaut worden.«

»Niemand konnte die Dinge abtransportieren, die Lilli gehörten«, sagte Nate stirnrunzelnd.

»Woher weißt du denn, was sie hatte?«, fragte Sandy.

»Ich muss Lilli ein paar Fragen stellen«, sagte Nate schnell und sprang aus dem Bus.

Lilli wartete draußen, am Boden zerstört. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Nate legte ihr die Hände auf die Schultern.

»Wo warst du, als das passiert ist?«, fragte er.

»Zoot und ich haben den Tag am Pike Place Market verbracht«, schluchzte sie.

»Könnte es sein, dass sich deine Dämonen vor dir verstecken, um dir einen Streich zu spielen? Pernikus macht das ständig mit mir.«

Sandy und Richie traten zu ihnen, um zuzuhören.

»Nein, nein, nein.« Lillie schüttelte den Kopf, so dass die Tränen nach links und rechts spritzten wie bei einem feuchten Hund.

»Hast du die Tür offen gelassen? Vielleicht sind sie ausgebüxt.«

»Nein. Sie waren gern bei mir. Die Wahrheit ist viel grauenvoller. Hör zu, ich kann es nicht erklären. Ich spüre es einfach.«

Sandy runzelte die Stirn. »Sie verschweigt dir etwas, Nate.«

»Was denn?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Sandy, »aber ihr beiden scheint ja mehr als nur ein Geheimnis zu haben.« Sie funkelte abwechselnd Nate und Lilli an.

»Sie ist ein Hüter«, sagte Nate unvermittelt.

»Wie bitte?!«

»Ihre Dämonen haben bei ihr im Bus gewohnt. Hauptsächlich harmlose visuelle und klangliche Manifestationen, aber dafür jede Menge von ihnen. Sie sind verschwunden.«

»Woher weißt du das alles?«

»Ich, äh ... ich habe es gespürt. Du weißt schon, so wie es unter Hütern üblich ist.« Nate wich Sandys argwöhnischem Blick aus und wandte sich wieder Lilli zu. »Erzähl mir, was deiner Meinung nach geschehen ist. Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir etwas verschweigst.«

»Doch, das kannst du«, sagte Lilli und starrte ins Leere; ihre bisher so lebendigen Augen waren ebenso farblos und leer war ihr ausgeräumter Bus.

»Wie denn?«, fragte Nate.

»Indem du mich bei dir übernachten lässt.«