15. Kapitel
Mobilmachung
Als Lilli am nächsten Morgen aufwachte, stand Nate an ihrem Bett.
«Wie geht’s dir?«, fragte er.
»Ein bisschen besser, glaub ich«, sagte sie. »Tut mir leid, dass ich gestern so –«
Nate winkte ab. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hattest einen harten Tag. Gut geschlafen?«
»Na ja, ich hatte einen komischen Traum, in dem Richie in meinem Zimmer Fischinnereien unters Bett gekippt hat.«
»In deinem Zimmer?«, fragte Nate.
Sie setzte sich auf. Das Bett stand mitten in der Eingangshalle auf dem indischen Beinsteller-Teppich. »Oh«, hauchte Lilli, »das ist ja abgedreht.«
»Es ist ein Schlafwandler-Bett«, erklärte Nate. »Wenn man es benutzt, muss man aufpassen, wo man am nächsten Morgen aufwacht. Es hat Richie ganz schön schikaniert, deshalb war er froh, auf der Couch schlafen zu können, aber ich nahm an, dass es dich mögen und nicht an einen allzu gefährlichen Ort schleppen würde. Komm, Zeit fürs Frühstück.«
Kurz darauf hockten Nik und Pernikus auf dem Küchentisch und starrten auf Lillis Essen. Die beiden Dämonen schienen sie nicht zu stören, bis Nik einen besonders lauten Rülpser ausstieß und Pernikus eine klebrige grüne Schleimladung auf ihren Teller schnaufte. Sie lehnte sich zurück und legte die Gabel hin. Die Dämonen sprangen vor.
»Pernikus!«, schimpfte Nate und ließ eine Hand auf den Tisch herabsausen. »Tut mir leid. Das hat er mit Absicht getan, um dein Essen zu bekommen.«
Lilli schob den Teller weg. »Schon gut. Wenn er so hungrig ist, dann soll er es ruhig haben.«
»Er ist immer hungrig«, grummelte Nate, »und wenn man ihn in seinem schlechten Benehmen bestärkt, dann wird es nur schlimmer.« Aber es war zu spät: Pernikus stand bereits in ihrem Essen und schaufelte sich mit seinen feingliedrigen Klauen Bratkartoffeln in den Mund, während Nikolai sich ihr Spiegelei zwischen die Lippen stopfte und Eigelb auf den Tisch kleckerte.
»Was sind die beiden eigentlich?«, fragte Lilli.
»Chaos. Wie deine lebenden Kunstwerke, nur eben keine ... Kunst. Nikolai ist ein dämonischer Kraftprotz, nicht besonders feinfühlig.« Nik schlürfte gierig aus einem Becher. Während er noch trank, zerbrachen seine übergroßen Hände das Gefäß, und die Milch vereinigte sich mit dem Eigelb auf dem Tisch und bildete ein gelblich weißes Rinnsal, das über die Tischkante lief und zu Boden tropfte. Mit seiner langen Zunge leckte Nik sich die Milchspritzer vom gelb beklecksten blauen Fell.
»Pernikus ist die dämonische Inkarnation unliebsamer Überraschungen«, sagte Nate. »Er ist einer meiner Gehilfen.«
Der kleine Hauskobold blickte auf. Rotz und Bratkartoffelstücke klebten an seiner hundeartigen Schnauze.
»Soll ich dir etwas anderes zu essen machen?«, fragte Nate.
»Ich habe keinen Hunger mehr«, erwiderte Lilli, während Zoot, der auf ihrer Schulter saß, angewidert das Gesicht verzog.
»Nik gehört auch zu meinen Gehilfen. Er ist sehr treu. Ich hatte noch einen dritten Helfer, aber ...« Nate seufzte.
Lilli nickte und ergriff das Wort, so dass er es nicht zu erklären brauchte. »Zoot ist mein Gefährte und mein Gegenstück«, sagte sie. »Mein Yang, wenn du weißt, was ich meine. Ich bin zurückhaltend, er ist ungestüm. Ich bin sanft, er ist wild. Ich bin schlank, und er ist ...« Zoot nickte eifrig und rieb sich den dicken Kugelbauch. »Ich glaube, du verstehst, worauf ich hinauswill«, sagte sie.
»Er scheint mir auch sehr treu zu sein«, bemerkte Nate.
»Er war bloß ein Haufen weggeworfener Farbsprühdosen, als ich ihn fand, und ich war bloß ein kleines Mädchen, das gern auf Schrottplätzen herumgestöbert hat.«
Sie stand auf. »Apropos Schrottplätze, ich muss heute meinen Anhänger umstellen. Mein VW kann ihn nicht mehr ziehen, nach dem, was geschehen ist.«
»Warum?«
»Keine positive Energie mehr. Es waren ganz besondere Fahrzeuge, die irgendjemand mitten in der Stadt stehen gelassen hatte. Ich habe ihre außergewöhnlichen Eigenschaften erkannt und sie vor dem Schrottplatz gerettet. Für mich waren sie einzigartig.« Sie seufzte. »Jetzt sind sie nichts Besonderes mehr. Kennst du zufällig jemanden, der einen Abschleppwagen besitzt?«
Nate klopfte an Mr. Neebors Tür. Er mochte den Mann nicht und begegnete ihm nur ungern. Aber er tat es für Lilli. Er tat eine ganze Menge für sie. Er redete sich ein, dass er ja nur einer Freundin einen Gefallen tat, und als Neebor nicht sofort zur Tür kam, ignorierte er sogar den Impuls, sich über sein Glück zu freuen und wieder zu gehen. Stattdessen klopfte er noch einmal.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und Neebor streckte den glänzenden kahlen Kopf heraus wie ein scheuer Seehund, der aus dem Wasser auftaucht.
»Nimm dich vor den Brombeeren in Acht!«, warnte der Mann und blickte nach rechts und links. Seine Fußknöchel und Hände waren mit mehreren Mullbindenlagen umwickelt.
»Mr. Neebor«, sagte Nate, »steht der alte Abschleppwagen noch in Ihrer Garage?«
Neebor runzelte die Stirn, nickte aber. »Ja. Warum?«
»Wir brauchen Ihre Hilfe.« Nate trat zur Seite, und Lilli lächelte seinen ältlichen Nachbarn an.
Nate sah, wie der argwöhnische Blick des Mannes unter Lillis Lächeln dahinschmolz.
»Ich hole meinen Mantel«, sagte Neebor.
Kurz darauf waren sie an der Brücke. Lillis Käfer und der Anhänger standen leblos am Bordstein. Sie hat recht, dachte Nate – die beiden Fahrzeuge wirkten wie tot. Die fröhliche Energie des geblümten Autos und die freche Ausstrahlung des knallbunten Anhängers hatten sich irgendwie verflüchtigt – als hätte man ihnen das Blut ausgesaugt. Jetzt waren es nur noch alte, verrostete, mit Graffiti beschmierte Fahrzeuge.
Neebor fuhr den Abschleppwagen vor den Anhänger. Stotternd und rumpelnd setzte das Fahrzeug zurück. Auf dem Führerhaus war eine verblasste Fußskulptur befestigt, deren bröckelige Gipszehen über die Windschutzscheibe herabhingen wie schlaffe Haarsträhnen und dem Fahrzeug ein trauriges, erschöpftes Aussehen verliehen.
Lilli gefiel der Wagen. »Sieht toll aus.« Sie klatschte in die Hände. »Er hat Persönlichkeit.«
»Hab ihn bei einer Auktion praktisch für umsonst gekriegt«, sagte Neebor stolz. Er drückte einen Hebel, um die Winde herabzulassen, und zog die Handbremse an. »Hab ich besorgt, als der alte Ed Lincoln den Schrottplatz in der Innenstadt geschlossen hat. Ich war oft dort und bin über den Zaun geklettert, um in irgendwelchen Wracks zu spielen, bevor sie platt gedrückt wurden. Ist ein authentisches Erinnerungsstück aus dem alten Seattle.«
Die Winde ruckelte und rumpelte laut. Metall kratzte über Metall; es quietschte dermaßen, dass Nate sich die Ohren zuhalten musste.
»Das Ding ist leider ziemlich ausgenudelt«, entschuldigte sich Neebor.
»Das stimmt nicht«, sagte Lilli, während die Winde ächzte. »Hören Sie doch, wie sie spricht. Sie erzählt Geschichten aus der guten alten Zeit. Sie hat einen starken Charakter, so wie der Fahrer des Wagens.«
Neebor stieg aus, um den Anhänger einzuhaken, und Nate beobachtete überrascht, wie der Alte etwas tat, das er ihn noch nie hatte tun sehen: Der Mann lächelte.
»Du hast dir gerade eine Gratis-Abschlepptour verschafft, Mädchen«, sagte er.
Sandy stand auf Nates Veranda und hämmerte an die Haustür. »Lass mich rein, du blödes Ding!«
Schließlich öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, und Lilli spähte hinaus. Sie sah, dass es Sandy war, und winkte der Tür zu. »Ist gut, sie ist in Ordnung«, sagte Lilli, und die Tür schwang auf.
»Natürlich bin ich in Ordnung«, schimpfte Sandy. »Aber ich frage mich, ob jemand der Tür aufgetragen hat, eine bestimmte Person nicht hereinzulassen, bis jemand ihr sagt, dass die Person ›in Ordnung« sei, und ob sie diese erst dann hereinlassen darf?«
»Hä?«, machte Lilli.
»Schon gut. Was soll’s ...« Sandy räusperte sich. »Ist Nate da?«
In dem Moment kam Nate die Treppe herunter. »Ich habe es Klopfen gehört.« Er sah Sandy. »Oh, hallo.«
»Hallo«, sagte Sandy und zwängte sich an Lilli vorbei. »Hast du heute schon einen Blick in die Zeitung geworfen?«
»Nein.«
»Dann ist es ja gut, dass ich es getan habe.« Sie warf ihm die Zeitung zu. »Eine eingestürzte Hochstraße und ein niedergebranntes Lagerhaus«, sagte sie, bevor er Gelegenheit hatte, es selbst zu lesen. »Es hat Tote gegeben.«
»Tote?«, stieß Nate hervor.
Sandy zog das Dämonenhüter-Kompendium aus dem Rucksack, als Richie hereinkam.
Nate ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Feuer und Einstürze«, stöhnte er. »Das sind Zunder und Kail.«
»Ich werde im Kompendium nach ihren Namen suchen«, sagte Sandy. »Vielleicht finden wir so ja mehr über die beiden heraus.«
»Und das dritte Unglück?«, meldete sich Lilli zu Wort.
»Wie bitte?«, fragte Sandy, verärgert über die Unterbrechung.
»Es heißt doch, dass immer drei Unglücke nacheinander geschehen.«
»Das ist ein Märchen«, sagte Sandy. »Nate, warum sitzt sie immer noch hier herum?«
»Sie hilft mir«, antwortete er. »Sie gehört jetzt zum Team.«
Sandy schäumte vor Wut. »Wer hat das beschlossen? Wieso war ich nicht bei der Abstimmung dabei?«
Nate ignorierte die Fragen. Er war viel zu sehr mit seinen Selbstvorwürfen beschäftigt, weil es ihm nicht gelungen war, die zerstörerischen kleinen Dämonen des Dürren Mannes nach der Schlacht der Gehilfen wieder einzufangen. Und er nahm an, dass sie inzwischen auch längst nicht mehr so klein waren. Er schlug die Zeitung auf und betrachtete ein Foto von dem Chaos im Stadtzentrum – das lodernde Feuer im Lagerhaus. Auf einem anderen Foto sah man Betontrümmer und zerquetschte Autos vor dem eingestürzten Viadukt am Hafen. Nate zuckte zusammen. Auf dem Bild konnte er die verborgenen Dämonen des Dürren Mannes erkennen.
Richie schaute ihm über die Schulter. Nate wusste, dass sein Lehrling sie ebenfalls sehen konnte. Für den ungeübten Betrachter fügten sie sich perfekt in das Bild ein, aber für die jungen Hüter stachen sie heraus wie Figuren in einem 3-D-Film.
»Da sind sie«, sagte Nate mürrisch. »Kommt, wir können sie nicht einfach mitten unter der Menschheit wüten lassen – sie sind jetzt zu gefährlich.«
»Das könnte meine erste Gefangennahme in freier Wildbahn werden«, grinste Richie.
»Du bist noch nicht so weit, es mit Zunder oder Kail aufzunehmen«, sagte Nate. »In der Freiheit sind sie zu lebensgefährlicher Größe angewachsen. Sie gehören jetzt zur ersten Ebene. Ich werde mich um sie kümmern. Du bleibst einfach in meiner Nähe und beobachtest mich, und bitte tu, was ich sage.« Nate wandte sich um. »Gehilfen! Alle sofort zu mir!«
Nik und Pernikus kamen ins Zimmer geflitzt.
»Richie, steck Pernikus in die Tasche. Nik packe ich in die Box.«
Nate zog die viereckige apfelgroße Knobelbox heraus und drehte den Deckel erst in die eine, dann in die andere Richtung. Nik schaute stirnrunzelnd zu. Es gefiel ihm nicht besonders, sich in den kleinen Kasten hineinzwängen zu müssen, aber Nate konnte ihn auf diese Weise leicht transportieren. Die Knobelbox war ein machtvolles Dämonenhüter-Werkzeug zum Fangen und Aufbewahren von Chaos, aber man konnte darin auch gut seine Gehilfen herumtragen. Nik trat heran und verzog das Gesicht. Die schwarze Leere im Deckel zupfte an seinem Fell, dann saugte sie ihn plötzlich auf wie ein Staubsauger.
»Wow«, staunte Lilli.
»Ein unbezahlbares Artefakt«, erklärte Nate. »Es zieht Chaos hinein, verdichtet es und bewahrt es auf.«
»Ich möchte dich begleiten, Nate«, sagte sie. »Ich kann dir helfen. Ich nehme Zoot mit.«
»Wer ist das denn?«, fragte Sandy.
Das Muster ihrer Bluse verschwamm. Plötzlich löste Zoot sich mit einem leisen Plopp aus dem Stoff, sprang zu Boden und lächelte zu Sandy hinauf.
»Hat mir dieses hässliche fette Ding etwa die ganze Zeit auf der Brust geklebt?«, fragte sie und tastete sich fieberhaft ab, um sicherzustellen, dass nicht weitere sonderbare Wesen an ihr hafteten.
Stirnrunzelnd blickte Zoot in den Wandspiegel. Er reckte den Kugelbauch vor, wackelte mit den Augenbrauen und schien dann zu dem Schluss zu kommen, dass er weder fett noch hässlich war. Er richtete den Dreizack auf Sandy.
»Nicht, Zoot«, sagte Lilli, und er ließ die Waffe widerwillig sinken.
»Okay, Lilli, du kannst mitkommen«, sagte Nate.
»Was ist mit mir?«, fragte Sandy.
»Du bleibst hier«, antwortete Nate.
»Warum?«
»Du bist kein Hüter.«
»Ich habe dir mit dem Troll geholfen.«
»Du hast nur eine Ziege über die Brücke geführt«, sagte Nate.
»Ja«, fügte Richie hinzu, »das war Hirni-Arbeit.«
»Du bist ein Hirni«, murmelte Sandy.
»Wir bekommen es mit zwei Dämonen der ersten Ebene zu tun«, fuhr Nate fort. »Ich möchte nicht, dass du verletzt wirst.«
»Aber ich habe dir schließlich Bescheid gesagt!«
»Genau. Und es wäre schön, wenn du hierbleiben und weiter aus dem Kompendium übersetzen würdest, so dass wir vielleicht noch etwas Wissenswertes erfahren.«
»Ihr wisst doch gar nicht, wo ihr anfangen sollt, nach ihnen zu suchen.«
»Am eingestürzten Viadukt?«, schlug Richie vor.
»Im Lagerhaus?«, sagte Lilli.
»Die sind beide schon zerstört«, sagte Sandy. »Ich wette, eure Dämonen sind längst über alle Berge.«
»Und was glaubst du, wo sie stecken?«, fragte Nate.
Sandy, die wütend und beleidigt war, fragte sich, ob sie ihnen überhaupt noch helfen sollte. Schließlich holte sie tief Luft. »Für Kail versucht es an der Seattle-Tacoma-Verwerfungslinie. Sie wurde im siebzehnten Jahrhundert bei dem großen Cascadia-Erdbeben destabilisiert, und eine verzweigte Spalte verläuft noch heute mitten durchs Stadtzentrum, direkt unter der Space Needle. Ein heimtückischer Spalterdämon dürfte sich dort wie zu Hause fühlen.«
»Danke«, sagte Nate rasch. »Richie, Lilli, wir brechen auf.«
Gleich darauf waren die drei verschwunden. Sandy sank mit dem Dämonenhüter-Kompendium auf dem Schoß in einen weichen Ohrensessel; sie war zutiefst betrübt. Die Rückenlehne des Sessels beugte sich knirschend vor, um ihre Schultern zu massieren.
»Danke«, sagte Sandy. Dann tat sie, was sie immer tat, wenn es ihr schlecht ging: Sie atmete tief durch, nahm das Buch Trost suchend in den Arm wie ein geliebtes Stofftier und begann zu lesen.