18. Kapitel

Bootspartie

Nate, Sandy und Richie fuhren am Haus vor und stiegen in ihren klitschnassen Klamotten aus dem Auto. Auf der Veranda erwartete sie Lilli mit verlegenem Lächeln. Die drei Gefährten starrten sie erschöpft an.

»Kann ich euch irgendwie helfen?«, fragte Lilli.

»Du meinst, außer abzuhauen?«, sagte Richie.

»Du kannst uns ja einen Kräutertee kochen«, erklärte Sandy.

»Ich habe gehört, die Brände im Stadtzentrum seien gelöscht«, sagte Lilli.

»Ja, das Feuer ist verglüht«, bestätigte Nate. »Zunder ist erloschen. Er ist tot.« Er funkelte Richie an.

»He, guck nich so komisch. Ich hab nur versucht, euch das Leben zu retten, und als du gesagt hast, ich soll aufhören, euch nasszuspritzen, hab ich’s sofort gelassen.«

»Zunder war ein Elementardämon«, sagte Lilli. »Sein Tod ist sehr traurig.«

»Ja, das stimmt«, erwiderte Sandy. »Zunder war Feuer, eines der vier Elemente. Und Kail steht für Erde, ein weiteres Element. Damit verbleiben noch Luft und Wasser.«

»Faszinierend«, sagte Lilli, »aber leider muss ich euch mitteilen, dass der Troll wieder verschwunden ist.«

Nate öffnete gerade die Haustür. Er fuhr herum. »Was? Wann denn? Woher weißt du das?«

»Immer mit der Ruhe, Alter«, sagte Richie. »Du klingst ja schon wie dieser rasende Reporter.«

»Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, Nate«, sagte Lilli, »aber ich spüre immer ein seltsames Kribbeln, wenn sich ein Dämon regt, und im Moment kribbelt es wie verrückt.«

»Ziehen wir jetzt los, um den nächsten Dämon jagen?« Richie grinste. »Die Sache fängt an, Spaß zu machen.«

»Ihnen in die ›Eier‹ zu treten und sie umzubringen ist nichts, was einem Spaß machen sollte«, sagte Nate.

»Der Troll ist ein Gewohnheitstier«, erklärte Sandy. »Er ist nicht sehr klug. Er wird sich wieder im See verstecken.«

Nate seufzte verdrossen. »Ich kümmere mich darum. Richie, du bleibst hier.«

»He, Alter, du kannst mich doch nich einfach hier kaltstellen. Ich schwöre, ich bring keinen Dämon mehr um, obwohl ich, ich sag’s noch mal, auch den von vorhin nich killen wollte.«

»Du bleibst hier. Das ist mein letztes Wort. Aber du, Sandy, kannst mitkommen, wenn du möchtest.« Er sah sie hilfesuchend an. Sie hatte bei Kail richtiggelegen, so wie sie fast immer richtiglag, und sie hatte ihm unter der Erde zur Seite gestanden. Sie war nicht davongelaufen, und er brauchte jemanden, auf den er sich verlassen konnte.

»Wahrscheinlich sterben meine Eltern inzwischen vor Sorge«, sagte Sandy. »Ich komme jetzt schon zwei Stunden zu spät und habe sie absichtlich nicht angerufen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mitkommen.«

»Aber ich«, sagte Lilli. »Der Troll ist ein Kunstwerk. Ich würde ihn gern retten.«

Nate nickte. »Na gut, du bist dabei.«

Sandy funkelte ihn entgeistert an. »Sie soll dich begleiten ...?«

Sandy brabbelte in ihr Handy, während sie an den Docks am Ufer des Lake Union zu Nate und Lilli trat.

»Ja, Mom. Es geht mir gut. Ich stehe im Stau wegen der Brände im Zentrum.«

Wie auf Kommando stieß Zoot durch die Nase Hup-und Sirenengeräusche aus. Zuerst blickte Sandy stirnrunzelnd auf den rosafarbenen Dämon herab, aber es hörte sich erstaunlich echt an.

»Hörst du die Sirenen?«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Es dauert bestimmt noch ein paar Stunden. Warte nicht auf mich. Nein, Paps braucht mich nicht abzuholen. Oh, es geht weiter. Ich kann nicht fahren und gleichzeitig telefonieren. Bye!« Sie legte auf. »Mann, ich hasse es zu lügen«, sagte sie.

Sie überquerten den langen Holzsteg zu der im Dunkeln liegenden Anlegestelle. Im Gegensatz zu den Schiffen im Jachthafen sahen die hier vertäuten alten Boote aus, als wären sie seit Jahren nicht mehr benutzt worden.

Plötzlich kam ihnen auf den verrottenden Holzplanken eine unförmige Gestalt hinterhergelaufen.

»He! Ihr da! Hallo! Ich möchte immer noch mit euch reden«, rief Calamitous.

»Wie gelingt es Ihnen bloß, uns immer wieder zu finden?«, fragte Nate.

»Das tue ich ja gar nicht«, erwiderte er. »Ich finde sie.« Der Reporter deutete auf den See. Es war offenkundig, wen er meinte: den Troll, die Dämonen. »Und jedes Mal taucht ihr auf«, sagte er und richtete seinen klobigen Zeigefinger auf Lilli, dann auf Nate. »Wie kommt das? Wie macht ihr das? Na los, sagt schon.«

»Für welche Zeitung oder welchen Sender arbeiten Sie eigentlich?«, fragte Sandy. »Für NPR? KOMO? Kanal 5? Die Times

»Ich arbeite selbständig. Ich bin Freiberufler«, erwiderte Calamitous.

Nate drehte sich um und ging weiter. Die anderen folgten ihm, und Calamitous folgte ihnen.

»Sie haben ein schlechtes Karma«, sagte Lilli mit halb zurückgewandtem Kopf.

»Der Junge ist genau wie du, stimmt’s?«, flüsterte der Reporter, der direkt hinter ihr war, ihr ins Ohr. »Er tut das Gleiche wie du, und er riecht auch wie du.« Er schnüffelte an ihr.

»Verschwinden Sie«, sagte Lilli.

In dem Moment blickte Calamitous aufs Wasser hinaus. »Gut. Schön. Wie du wünschst«, erwiderte er und stiefelte davon, als würden ihn die drei jungen Leute eigentlich gar nicht interessieren.

»Der Kerl macht mir Angst«, sagte Lilli schaudernd.

»Er weiß zu viel«, sagte Nate. »Wir dürfen ihn nicht mitkriegen lassen, was wir tun.«

»Vielleicht ist er ja auch ein Hüter«, überlegte Sandy.

»Nie im Leben!«, riefen Nate und Lilli wie aus einem Munde.

»Dazu hat er die falsche Aura«, erklärte Lilli.

»Völlig unmöglich«, fügte Nate hinzu.

Er blieb vor einem Liegeplatz stehen, an dem ein düsteres, hoch aufragendes Fischerboot vertäut war. Die abplatzende Farbe und der verkrustete Anker kündeten vom Alter des Kutters, und an Deck standen verschiedene mechanische Apparaturen mit rostigen Zahnrädern, bereit, ächzend zum Leben zu erwachen.

»Kommt an Bord«, rief Nate und sprang über die Reling.

»Ist das deins?«, fragte Lilli ungläubig. »Wow, es ist ja uralt.«

»Schwimmt es noch?«, fragte Sandy skeptisch.

»Das ist der alte Kutter von Yatabe dem Wanderer. Damit ist er aus Indien geflohen. Es hat zu meinen Aufgaben gehört, ihn seetauglich zu halten.«

»Wofür?«, fragte Sandy.

»Um auf hoher See Dämonen zu transportieren«, sagte Nate, »und zum Dämonenfischen. Ich hoffe allerdings, dass ich nie aufs offene Meer hinausfahren muss.«

Nate schlug die Augen nieder, und Sandy wusste, dass er an den grauenvollen Sturm im Puget-Sund dachte, bei dem das Segelboot seiner Eltern gekentert war, als er noch ein kleiner Junge gewesen war.

»Wenigstens steht uns für die Suche nach dem Troll ein robuster Kahn zur Verfügung«, sagte Sandy.

»Oh, nein, er ist viel zu groß und zu laut, um damit auf dem See herumzuschippern«, entgegnete Nate. »Damit würden wir den Troll nur vertreiben.«

»Und was nehmen wir stattdessen?«, fragte Sandy.

Kurz darauf ruderte sie das kleine Beiboot des Kutters auf den Lake Union hinaus, während Nate und Lilli im Heck saßen und prüfend über das dunkle Wasser blickten.

»Da drüben«, lotste Lilli sie.

»Hoffentlich haben wir ein großes Netz dabei«, sagte Sandy.

Nate zog die Knobelbox heraus. »Ja, haben wir.«

»Warum rudert sie eigentlich nicht?« Sandy deutete auf Lilli, die sich auf der schmalen Sitzbank an Nate presste.

»Ich versuche den Aufenthaltsort des Trolls zu erspüren«, erklärte Lilli und rieb sich die Schläfen, »und du störst mich dabei.«

»Bitte, lass sie in Ruhe nach Hinweisen suchen«, pflichtete Nate Lilli bei.

»Wenn du so ein toller Hüter bist«, sagte Sandy zu dem anderen Mädchen, »welche Art von Hinweisen sollen wir denn erspüren

»Ich habe nie behauptet, ein toller Hüter zu sein«, murmelte Lilli. »Ich habe nie behauptet, überhaupt ein Hüter zu sein. Ich bin nur eine Sammlerin.«

»Na schön, wonach halten wir dann Ausschau, Frau Sammlerin?«, fragte Sandy.

»Nach allem, was uns seltsam erscheint«, erklärte Lilli.

»Genial«, sagte Sandy und hörte auf zu rudern.

Sie waren fast genau in der Mitte des Sees angelangt. Eine Weile trieben sie schweigend dahin und beobachteten die Wasseroberfläche.

»Ich spüre etwas«, sagte Lilli schließlich.

Die Mädchen blickten auf, als aus der Dunkelheit zwei Hausboote auf sie zukamen, die ihre Haltetaue wie Rattenschwänze im Wasser hinter sich herzogen. Offensichtlich hatten sie sich von ihren Liegeplätzen losgerissen und trieben nun führerlos über den See.

»Ist das seltsam genug?«, flüsterte Sandy.

Sie ruderte fieberhaft los, da die Hausboote auf sie zuhielten, und Nate paddelte zusätzlich mit den Armen und spritzte Sandy ganz nass. Während die Boote haarscharf an ihnen vorbeizogen, sah er hinter einem der Fenster einen schlafenden Mann auf einer Couch liegen.

»Seht mal!«, sagte er und deutete auf das Kielwasser der Hausboote. Dicht unter der Oberfläche schwamm eine zwei Meter lange Hand und schob die Gefährte sanft, aber stetig voran.

»Wir sind wie Plastikenten in der Badewanne«, sagte Sandy und blickte sich um, konnte aber durch ihre bespritzte Brille nichts erkennen.

Nate zog Dhaliwahls Schlangenstab aus der Tasche.

Der Stab war ein Dämon und gleichzeitig ein Werkzeug und hatte Dhaliwahl einst als Gehilfe gedient. Er verlängerte sich für Nate, entrollte und streckte sich auf ein Mehrfaches seiner ursprünglichen Länge. Als die Hand am Beiboot vorbeischwamm, warf Nate den Stab wie ein Lasso über den riesigen Mittelfinger.

Das kleine Gefährt schoss ruckartig vorwärts und begann, vom Troll gezogen, wie auf Wasserskiern über den See zu hüpfen. Nate stemmte die Füße gegen den Boden, während sich der Stab fest um sein Handgelenk wickelte. Selbst dieses kleine Boot hatte im Wasser des Lake Union einen großen Strömungswiderstand, und Nate dachte schon, der Troll würde ihm jeden Augenblick den Arm auskugeln, aber bald richtete sich das Gefährt aus und glitt geradewegs der untergetauchten Hand hinterher. Die drei hielten sich so gut es ging fest und hofften, dass das kleine Boot nicht umkippen würde, während Nate versuchte, sich dichter an die gewaltige Statue heranzuhangeln.

«Wenn ich die Box an der richtigen Stelle gegen den Troll drücken kann, gelingt es mir vielleicht, ihn aufzusaugen«, sagte er zu den beiden Mädchen.

»Was soll das heißen, vielleicht?«, fragte Sandy.

«Hilf einfach dabei, dass wir näher herankommen.«

»Ich sehe nichts!«, beschwerte sich Sandy, die ihre Brille nicht putzen konnte, weil sie dafür die Ruder hätte loslassen müssen. Sie versuchte mitzurudern, während sie gezogen wurden, aber in erster Linie spritzte sie Nate nass und schlug ihm einmal sogar ein Ruder an den Kopf.

»Aua!«

Als sie die andere Seite des Lake Union erreichten, verpasste der Troll den beiden Hausbooten einen letzten kräftigen Stoß, so dass sie mit Höchstgeschwindigkeit auf das Ufer zupflügten.

»O nein!«, rief Nate. Das erste Hausboot prallte gegen eine große Jacht.

RUMMS!

Kreischende Hochzeitsgäste, die höflich an Deck gestanden hatten, während der Pastor die Zeremonie vollzog, flogen durch die Luft wie Plastik-Tortenfiguren, die man achtlos durch die Küche wirft. Gäste in Anzügen und feinen Kleidern landeten inmitten der Appetithappen und purzelten über die Reling – es war ein tiefer Sturz, begleitet von langgezogenen Schreien. Das rauschende Kleid der Braut blähte sich wie ein Fallschirm auf, als sie mit ihrer akkurat aufgesteckten Frisur in den Lake Union plumpste, während der Bräutigam sich fieberhaft an der Reling festklammerte.

Das zweite Hausboot krachte am Ufer schwungvoll in einen Nachtclub und ließ die Discokugel über die Tanzfläche kullern wie eine glitzernde Bowlingkugel. Funkelnd rollte sie zwischen den Beinen der flüchtenden Gäste hin und her.

Die schlafenden Hausbootbesitzer wachten auf. Eine Frau taumelte schlaftrunken aus ihrer verkanteten Kajütentür. In ihrem langen weißen Nachthemd und mit Lockenwicklern sah sie aus wie eine ärmliche Ausgabe der verloren gegangenen Braut.

Der Mann aus dem anderen Hausboot flog durchs Fenster und landete wie ein Breakdancer rücklings auf der Tanzfläche des Nachtclubs, während ein Hip-Hop-Song aus den eingedrückten Lautsprechern plärrte.

Nachdem die Hausboote verschwunden waren, bemerkte der Troll das um seinen Mittelfinger geschlungene Seil. Er wandte sich um, pflügte durchs Wasser auf das Ruderboot zu und zog dessen Insassen zu sich heran.

«Da kommt er!«, sagte Nate und hob die Knobelbox.

»Pass auf!«, rief Sandy.

Noch ehe Nate die Box an den Troll pressen konnte, tauchte der Dämon unter und verschwand aus seiner Reichweite. Nate beugte sich über die Bootskante und blickte suchend über die schwappenden Wellen des Sees. Plötzlich schoss der Troll direkt unter dem Boot nach oben und schleuderte das kleine Gefährt in die Luft.

Sandy stürzte in der Nähe der Braut, die wie ein Hund durch den See paddelte, kopfüber ins Wasser. Lilli flog in die entgegengesetzte Richtung und platschte, alle viere von sich gestreckt, in den Lake Union, kam aber schnell wieder an die Oberfläche und hielt sich an einem Sofakissen fest, das durchs Fenster eines der zertrümmerten Hausboote geflogen war. Zoot, der es sich im Strickmuster ihrer Wollsocken bequem gemacht hatte, trieb als bunter Ölfleck mit zwei starren weißen Augen in der Mitte neben ihr her.

Nate fiel ins Wasser wie ein Stein. Völlig desorientiert durchstieß er Sekunden später die Wasseroberfläche. Er schrie besinnungslos. Schon einmal hatte es ihn von einem Boot geschleudert – in der Nacht, als seine Eltern ertrunken waren. Als Zwölfjähriger hatte er in den eisigen Wassern des Puget-Sund um sein Leben gekämpft, und diesen Albtraum hatte er nie vergessen. Es dauerte einen Moment, bis ihm wieder einfiel, wo er sich befand und dass er nicht mehr zwölf war. Als er sich beruhigt hatte, schaute er sich blinzelnd um, dann glitt er mit zwei Schwimmstößen voran und zog sich zitternd auf das gekenterte Ruderboot.

Langsam wurde ihm bewusst, dass er versagt hatte. Der Troll zog davon, auf die Mitte des Sees zu. Er würde ihn heute Abend nicht mehr einfangen können. Doch während Nate sich allmählich orientierte, sauste neben ihm etwas durchs Wasser und hielt direkt auf die riesige Statue zu.

Der Troll spürte, dass er verfolgt wurde, und paddelte unter aufspritzenden Wasserfontänen davon. Nate beobachtete ihn, während er sich an das umgekippte Ruderboot klammerte. Der Troll hatte sich nicht vor ihm und den Mädchen gefürchtet, und doch pflügte er jetzt in panischer Angst durch den See und schob eine riesige Bugwelle vor sich her. Sein Verfolger war kleiner. In der Dunkelheit konnte Nate nur einen dünnen Kielwasserstreifen erkennen, der dem großen Dämon hinterherjagte.

Der Troll wandte sich um, versuchte dem Angreifer auszuweichen und winkte Nate verzweifelt zu. Plötzlich riss ihn etwas in die Tiefe. Ein wirbelnder Wasserstrudel entstand, während der Troll hinabgezogen wurde, und Nate beobachtete, wie sich eine Piranha-artige Raserei entspann. Die riesigen Steinhände droschen auf die Wasseroberfläche ein, und der gewaltige Betonkopf erhob sich ein letztes Mal in die Luft, um in wildem Schmerz aufzubrüllen, dann ging er endgültig unter. Kurz darauf trieb Nates Rettungsinsel durch die ringsum verstreuten, sinkenden Bruchstücke des Trolls.