19. Kapitel
Lillis Geheimnis
Sandy und Lilli rannten zu Nate hinüber, um ihm zu helfen, das Boot ans Ufer zu ziehen.
»Was war das?«, fragte Sandy.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Nate kopfschüttelnd. »Aber wir haben den Troll verloren, und er wurde schwer beschädigt.«
Hinter ihnen schauderte Lilli, ihre Lippen zitterten. »Nein. Er wurde nicht beschädigt«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
Nate und Sandy wandten sich um. »Sondern?«, fragte Nate.
»Er ist tot«, antwortete Lilli. »Das Wesen, das du im Wasser gesehen hast ... es hat den Troll aufgefressen.«
Nate starrte sie an. Lilli wich seinem Blick aus, und ihm wurde bewusst, dass Sandy recht hatte. Er hatte Lilli gerade erst kennengelernt. Er kannte sie eigentlich überhaupt nicht, trotz ihrer gemeinsamen Fähigkeiten und obwohl sie so entspannt wirkte und sich ihm gegenüber so zwanglos gab.
»Was weißt du sonst noch?«, fragte er.
»Du solltest eher fragen, was sie uns noch alles verschwiegen hat«, sagte Sandy vorwurfsvoll.
Lilli atmete tief durch, während die beiden sie anstarrten.
»Ich hatte vom Troll gehört«, erklärte sie. »Ich kam nach Seattle, um ihn mir anzuschauen. Er war ein wundervolles Kunstwerk, versteht ihr?« Lilli hoffte auf ein zustimmendes Nicken. Doch die beiden warteten nur mit mürrischen Mienen darauf, dass sie ihre Erklärung fortsetzte. »Aber ich bin auch vor etwas geflüchtet.«
»Vor wem?«, fragte Sandy.
»Vor was?«, fragte Nate.
»Das weiß ich nicht«, sagte Lilli. »Wirklich. Ich weiß es nicht. Aber ich habe es in San Francisco gespürt, etwas Hungriges, das mich beobachtet. Als ich hier ankam und zur Brücke fuhr, habe ich es erneut gespürt.«
»Es ist dir gefolgt«, sagte Sandy.
»Was immer es ist, es hat mich gefunden. Und als ich neulich einen Kaffee trinken ging und meine geliebten Dämonen im Bus zurückließ wie Tiere im Käfig, da ist es bei mir eingebrochen.« Sie fing an zu weinen. »Es hat sie aufgefressen.«
»Nate, sie war bei dir zu Hause«, sagte Sandy.
»Na und?«, erwiderte er. »Wir leben in einem freien Land. Warum musst du zu einem solchen Zeitpunkt eifersüchtig werden?«
»Ich bin nicht eifersüchtig«, sagte Sandy ruhig. »Du reagierst überempfindlich. Worauf ich hinauswill, ist: Da draußen gibt es ein Wesen, das Dämonen frisst, und es verfolgt Lilli. Und sie hat es direkt zum Haus geführt ... zu deinem Haus.«
Nate war triefnass und völlig perplex. Er blickte auf den See hinaus, wo den Troll der Tod ereilt hatte, dann wieder zurück zu Lilli, die das Unheil vermutlich nach Seattle gelockt hatte. Ihr verwüsteter Anhänger parkte direkt vor seinem Haus, ihr VW-Käfer stand in der Einfahrt.
»Ich muss alles wissen ... und zwTar sofort!«, sagte er plötzlich und zeigte auf Lilli. »Was hat es mit diesem Wesen auf sich?«
»Ich habe es nie gesehen«, sagte sie. »Es versteckt sich, verkleidet sich, irgendetwas. Aber ich kann es spüren. An dem Tag, als du mich in meinem Anhänger besucht hast …«
Sandy warf Nate einen funkelnden Blick zu.
»... muss es in der Nähe gewesen sein«, fuhr Lilli fort, »und als ich wegging, hat es zugeschlagen.«
»Wo bist du in Seattle sonst noch gewesen?«, wollte Nate wissen.
»Als ich in der Stadt ankam, habe ich in einem Irish Pub Geschirr gespült, um ein bisschen Geld zu verdienen, und auf dem Spielplatz einer nahe gelegenen Grundschule mache ich jeden Tag Yoga.«
»Ich möchte mir die beiden Orte ansehen«, sagte Nate. »Zeig sie mir.«
Sie brauchten McHale’s Pub gar nicht erst zu betreten, um zu wissen, was dort geschehen war. Sie konnten die lustlosen Gäste durchs Fenster sehen. Die Männer beugten sich mit trüben Mienen über ihre Bierkrüge. Der Schankraum war nicht wie sonst mit Leben erfüllt. Es gab keine Musik. Keine Gespräche.
»Da drin ist es wie tot«, sagte Sandy.
»Ohne Chaos gibt es nur Monotonie«, erklärte Nate. Dann wandte er sich an Lilli. »Jetzt zum Spielplatz.«
Dort bot sich das gleiche Bild. Die Schüler trotteten ohne jede Übermütigkeit aus dem Schulhaus. Dunkle Wolken hingen tief am Himmel, und kein leuchtender Lichtstrahl fand seinen Weg zu den Kindern.
»Schade, dass Richie nicht hier ist und sieht, was geschieht, wenn man Dämonen vernichtet«, sagte Nate. »Es tötet die Spontanität an Orten des Vergnügens und breitet Lustlosigkeit über Orte des Entdeckens. Die Taverne und diese Schule werden unter ihren Verlusten leiden. Das hier wird für lange Zeit kein spannender Ort mehr für Kinder sein.«
»Für den Spaß auf dem Schulhof war ein Dämon verantwortlich?«, fragte Sandy. »Ich dachte immer, Grundschüler hätten eben einen erhöhten Stoffwechsel und dadurch viel überschüssige Energie, was zu gesteigerter Aktivität führt.«
»Das ist bloß das, was in den Lehrbüchern steht.«
»Chaos ist die Nahrung des freien Geistes«, sagte Lilli leise; Tränen standen ihr in den Augen. »Ohne Chaos verdorrt die Seele.«
»Anscheinend dienen Dämonen aber noch etwas ganz anderem als Nahrung«, erklärte Nate. »Einem Wesen, das immer genau dorthin geht, wo du hingehst.«
»Au Mann«, sagte Sandy. »Ich wusste, dass sie Ärger machen würde, Nate, aber es ist schlimmer, als ich dachte. Sie hat etwas eingeschleppt, das alles zerstören könnte, was dir lieb und teuer ist.«
Lilli weinte hemmungslos. »Das habe ich ... nicht gewollt«, stammelte sie.
»Warum hast du mir das alles nicht viel früher erzählt?«, fragte Nate.
»Ich weiß nicht.« Sie blickte ratsuchend auf Zoot hinab und suchte nach Worten. Doch der kleine Kerl konnte nur mit den Schultern zucken. »Ich glaube, ich wollte nichts Falsches sagen. Ich wollte nur, dass ... dass du mich magst«, sagte sie schließlich. Sie sah die beiden flehend an. »Bitte, ich habe doch überhaupt keine Freunde hier in Seattle.«
»Da hast du hundertprozentig recht«, pflichtete Sandy ihr bei.
»Ich muss zum Haus zurück«, sagte Nate. Er sah Lilli ernst an. »Aber ich kann dich nicht mehr in die Nähe meiner Dämonen lassen.« Damit wandte er sich um und ging davon.
»Pech gehabt, Hippie-Tussi«, zischte Sandy. »Das war’s dann wohl.«