22. Kapitel
Das Auge des Sturms
Um sie herum wütete der Sturm unvermindert weiter, aber in allen Richtungen erst in einem Abstand von fünfzig Metern. Die Jungen schauten sich ungläubig um. Mit den brodelnden Wellen und dem heulenden Wind in der Ferne wirkte die plötzliche Ruhe, die sie umgab, vollkommen unwirklich. Der WANDERER trieb wie in einer geschützten Luftblase dahin, in der die Naturgesetze außer Kraft gesetzt schienen – und das eigens, damit die Jungen ihren Dämonenauftrag erledigen konnten.
»Wonach suchen wir denn?«, fragte Richie.
Nate spürte, wie sich seine Nackenhärchen sträubten, ein Kribbeln, als würde ihm eine Spinne über die nackte Haut krabbeln. Er blickte geradewegs nach oben.
»Danach«, sagte er.
Hoch über ihnen im Zentrum des tosenden Wirbelwinds schwebte eine dunkle Gestalt. Als die beiden hinaufschauten, schlug die Entschlossenheit in Nates Blick erst in Unsicherheit, dann in Angst um. Eine ferne Erinnerung stieg in ihm auf, und er verspürte die gleiche Beklommenheit wie zuvor in Lillis Anhänger, als die visuellen Manifestationen seine tiefsten Empfindungen dargestellt hatten. Der Wirbelwind über ihm klang vertraut, allzu vertraut. Die schäumenden Wellen, die in der Ferne den Kutter umkreisten, erinnerten ihn an eine lange vergangene Nacht, an den Albtraum aus seiner Kindheit.
»Ich kenne dieses Wesen«, überlegte er halblaut, und seine Stimme zitterte.
»Klar, das is Flappy, oder?«, erwiderte Richie, der annahm, Nate rede mit ihm.
»Nein, das kann nicht sein«, sagte Nate, mehr zu sich selbst als zu Richie. »Es ist jemand anders.« Plötzlich schüttelte er dem Unbekannten drohend die Faust entgegen. »Ich kenne dich, Dämon! Ich kenne diesen Wind!«
Dann stellte er sich breitbeinig an den Bug des Schiffes. »Ich fordere dich heraus, du Mörder! Du hättest vor Jahren auch mich umbringen sollen, als du mir meine Eltern geraubt hast. Denn jetzt bin ich zurückgekommen!«
»Nate, beruhig dich«, sagte Richie nervös.
Aber der junge Hüter war zu aufgewühlt. »Komm runter und kämpfe!«
Einen Moment lang tat sich nichts, dann machte die Gestalt über ihnen eine Kehrtwendung und schoss auf die Wasseroberfläche herab. Sie hatte riesige Flügel, die die Luft peitschten und in alle Richtungen orkanartige Windböen auslösten. Allmählich wurden seine gewaltigen Ausmaße deutlich. Das Wesen war so groß wie ein Linienbus, selbst wenn man die Flügel nicht dazurechnete, die genau genommen ein bisschen zu klein waren für den riesigen Körper. Es war sogar noch größer als der Troll, und sie befanden sich genau an der Stelle, auf die der Dämon herabstieß.
»Nein!«, brüllte Richie. »Hau ab! Lass uns in Ruhe!«
Nate stürmte über das Vorderdeck, schwang die Harpunenkanone herum und kippte sie steil nach oben, so dass der Lauf fast senkreckt in die Höhe zeigte.
»Na komm schon, du Mörder!«, rief er und nahm die Gestalt mit der Harpune ins Visier.
Allmählich konnte Richie ihren Gegner erkennen. Es war ein riesiges, reptilienartiges Geschöpf, und es flatterte wild mit seinen kleinen Flügeln.
»Nate«, rief er, »das ist Flappy!«
Der junge Hüter erstarrte. Nun merkte auch er, wen er vor sich hatte. Sein erster Gehilfe – den er jahrelang nur als seinen kleinen aufgekratzten Gefährten gekannt hatte – war in freier Wildbahn tatsächlich zu einem riesigen, kampfbereiten Ungeheuer herangewachsen, so wie Zunder, so wie Kail, und genauso wie damals in jener Nacht, als Flappy seine Eltern und ihn in die tosenden Meeresfluten geschleudert hatte.
Nates Gedanken taumelten zu dem Tag zurück, als sein Mentor, Mr. Dhaliwahl, zum ersten Mal die Knobelbox geöffnet hatte. Nate hatte damals erst seit einem knappen Monat als Lehrling bei Dhaliwahl gewohnt, und seine Rolle als künftiger Dämonenhüter war ihm noch nicht vollends klar gewesen.
«Streck die Hand aus, mein Junge«, sagte Dhaliwahl mit seinem breiten ostindischen Akzent, während er mit seinen verschrumpelten alten Fingern den Deckel aufschraubte. »Ich möchte dir etwas zeigen. Hier, nimm.«
Nate tat wie geheißen, und ein winziges Geschöpf krabbelte aus dem Behälter auf seine Hand. Dem Anschein nach ein kleiner Drache. Er schnaubte und blies Nate die Haare aus dem Gesicht.
»Kann er Feuer speien?«, fragte Nate.
Dhaliwahl verzog das Gesicht. »Sei nicht albern. Das ist kein Wesen aus einem Kindermärchen. Er ist ein Winddämon.« Dhaliwahl atmete tief durch. »Ich möchte dir zeigen, wie sanft er sein kann, und dir beibringen, dass diese wilden Geschöpfe keinen Schaden anrichten.«
»Schaden anrichten?« Nate runzelte die Stirn. »Wie sollte dieser kleine Kerl das denn anstellen? Er ist ja richtig süß. Darf ich ihn behalten?«
»Ihn behalten?« Dhaliwahl zögerte. »Das halte ich nicht für klug.«
»Ich soll doch ein Hüter werden, oder?«
Dhaliwahl sah ihn gequält an, wenngleich Nate damals noch nicht wusste, warum. Der kleine Dämon legte sich auf die Seite und pustete Nate übermütig in die Nasenlöcher.
»Schau. Er mag mich«, lachte Nate. Er hatte nicht viel gelacht, seit seine Eltern bei dem grauenvollen Sturm ertrunken waren, der ihn zur Waise gemacht hatte, aber das zerrupfte kleine Wesen sah so hilflos und possierlich aus, dass er nicht anders konnte, als zu kichern. Der Winddämon sprang wieder auf, flatterte Nate auf den Kopf und zerzauste ihm die Haare, dann plumpste er zu Boden.
»So ein verrückter kleiner Kerl«, sagte Nate. »Ich nenne ihn Flappy.«
Der Dämon hatte sich inzwischen ein anderes Spiel ausgedacht, tobte in der Zimmerecke mit den Staubflu-sen herum und jagte ihnen vergeblich nach, während seine Luftstöße sie immer wieder vor ihm hertrieben.
»Na schön«, sagte Dhaliwahl schließlich. »Ihr beiden seid ein ungleiches Paar, aber vielleicht tut es euch gut, einander verstehen zu lernen.«
Die Wahrheit traf Nate mit der Wucht eines Güterzugs – sein eigener kleiner Gehilfe hatte den Sturm verursacht, in dem seine Eltern umgekommen waren.
Flappy kam auf das Boot zugeschossen und brachte stürmische Winde, Chaos und den Tod mit sich. »Du warst es!«, brüllte Nate. »Deinetwegen sind meine Eltern ertrunken!«
Er packte den Hebel, mit dem man die Harpune ab-schoss. »Ahhhhh!«, brüllte er.
Flappy sauste herab, trunken von seiner neu entdeckten Macht; er erkannte seinen eigenen Hüter nicht mehr. Genau genommen erkannte keiner der beiden den anderen – Wut, Chaos, Rachegelüste und der berauschende Strudel todbringender Macht, all das überlagerte das eigentlich sanfte Gemüt der beiden, die sich nun als unversöhnliche Feinde wiedersahen. Nate fauchte und zielte mit seiner Waffe. Der Winddämon schoss über das Wasser hinweg und zog einen Schweif aus Gischt hinter sich her.
Plötzlich schnellte das wurmartige Ungeheuer aus der Tiefe empor und ließ eine Riesenwelle über das Bootsheck schwappen. Pernikus stand auf dem hinteren Schott und wurde von der Wasserwand über Bord gespült.
Nate war zu sehr auf das Ziel seiner Wut konzentriert, um den Blick von Flappy loszureißen. Nik warf eine Schwimmweste ins Wasser, aber da schnappte plötzlich ein Riesenmaul danach, noch ehe sie Pernikus erreichte, und spuckte sie dann zerfetzt wieder aus.
Richie wirbelte auf der Suche nach einer Waffe herum und griff nach der Signalpistole.
»Nate!«, brüllte er. »Das Ding is zurückgekommen!« Richie richtete die Pistole auf das Ungeheuer, das durch die brodelnden Fluten auf Pernikus zuschwamm.
KNALL!
Das Leuchtgeschoss segelte durch die Luft, fiel aber noch vor dem Angreifer herunter und verlosch zischend im Wasser. Pernikus ruderte panisch mit den Ärmchen. Anders als das auf ihn zuschießende Ungeheuer war der schelmische Hauskobold kein geborener Schwimmer. Richie blieb keine Zeit, um eine neue Leuchtpatrone nachzuladen, und Nate war zu beschäftigt. Der kleine Dämon war dem Tod geweiht.
Aber das Ungeheuer sauste an Pernikus vorbei, ohne sich für den Hausdämon zu interessieren. Stattdessen hielt es auf die lohnendere Beute zu – Flappy.
Als Richie sah, was das Ungeheuer vorhatte, rief er seinem Mentor zu: »Nate! Ich weiß, wer das is! Das is der Dämonenfresser!«
Diese Offenbarung riss Nate aus seiner Erstarrung. Er löste den Blick von Flappy, während zwischen ihnen der Dämonenfresser durch die Wellen pflügte.
Flappy bremste nicht ab, und so prallten die beiden im nächsten Moment hart mit den Köpfen zusammen.
RUMMS!
Die Kollision der Giganten ließ in alle Richtungen Wassermassen aufspritzen und auf den WANDERER herabprasseln, so dass Nate und Richie einen Moment lang nicht erkennen konnten, wie der Kampf weiterging.
Als Nate blinzelte und sich das brennende Salzwasser aus den Augen wischte, sah er, dass der Dämonenfresser sich um einen von Flappys Flügeln geschlungen hatte wie eine Python, die versucht, einen Adler zu fangen. Der Winddämon wirbelte im Kreis um den Angreifer herum und verursachte einen schäumenden Wasserstrudel, in dem beide zu ertrinken drohten.
Nate zielte mit der Harpunenkanone. »Mörder!«, rief er.
»Erschieß Flappy nich!«, flehte Richie. »Er wollte deine Eltern nich umbringen. Er war bloß ein außer Kontrolle geratenes wildes Tier, so wie jetzt auch.«
Nate schien ihn gar nicht zu hören und zielte sorgfältig. Das Maul des Dämonenfressers weitete und dehnte sich, um mehr und mehr von Flappy zu verschlingen, während die beiden Titanen langsam im Wasserstrudel versanken.
Flappy wurde also aufgefressen, sagte sich Nate. Aber der Winddämon befand sich genau im Fadenkreuz seiner Harpune. Er konnte Flappy selbst töten. Er brauchte nur zu schießen, oder er überließ die Sache einfach dem Dämonenfresser. So oder so, der Tod seiner Eltern würde mit der Vernichtung des Dämons, der sie umgebracht hatte, endlich gerächt werden.
»Du hast mir beigebracht, sie nich zu töten.« Richie stand plötzlich neben seinem Mentor. »Nich mal die Gefährlichen. Weil ihnen nich bewusst is, was sie anrichten, stimmt’s?«
Nate nickte, drückte aber trotzdem ab.
PENG!
Die Harpune löste sich aus ihrer Halterung.
»Neiiin!«, rief Richie und hielt sich die Ohren zu, während eine Rauchfahne aus der Kanone aufstieg.
Aber das Geschoss traf nicht Flappy. Stattdessen bohrte sich die Harpune in den Dämonenfresser und ragte ihm plötzlich wie durch Zauberei aus dem Leib. Das Wesen brüllte, ließ Flappy los und stürzte in die Wellen zurück, wo es sich zuckend hin und her warf, als Nate die elektrische Winde einschaltete und es heranzog. Er ließ das Gerät laufen und rannte auf die Brücke, wo er den Gashebel nach vorn stieß und den Motor anwarf.
Der Dämonenfresser versuchte sich loszureißen, war aber durch die fest in seinem Außenskelett steckende Harpune an das Boot gefesselt. Der WANDERER raste auf ihn zu wie eine nicht aufzuhaltende Dampfwalze.
RATSCH-RATSCH-RATSCH-RATSCH!
Die Schiffsschraube traf den Dämonenfresser, schrammte an seinem Außenskelett entlang und zerschnitt das Harpunenseil, wodurch das Ungeheuer freikam.
Flappy hatte sich aufgerappelt und stieg in die Luft; der Sturm erhob sich von neuem.
Richie sah Flappy gen Himmel flüchten und griff instinktiv nach der Knobelbox. Das Boot war allerdings viel zu weit entfernt, als dass er mit der Box den riesigen Dämon hätte erreichen können. Er schraubte den Deckel auf und spürte den Sog des uralten Artefakts, der darauf versessen war, das Chaos einzufangen und zu beschützen. Es war eines der machtvollsten Dämonenhüter-Werkzeuge überhaupt, und Richie schob die Box kurzerhand in die neu geladene Signalpistole und feuerte.
WUMM!
Die Patrone katapultierte die Knobelbox himmelwärts, mitten in Flappys aufgerissenes Maul. Der riesige Dämon verschluckte sie, dann hielt er ruckartig inne, und ein gewaltiger Windstoß fuhr herab und ließ Richie, Nate und Nik in allen Richtungen übers Deck purzeln.
Flappy begann zusammenzuschrumpfen. Nate starrte nach oben, unsicher, was da im Gange war. Er hatte nicht gesehen, wie Richie die Knobelbox abgeschossen hatte, und hätte er es getan, so wäre er entsetzt gewesen, das unbezahlbare Werkzeug womöglich für immer verschwinden zu sehen. Auch Richie beobachtete die Szene, aber er wusste genau, was los war – die Knobelbox saugte den Winddämon von innen auf. Flappy warf sich herum, dann implodierte er und verschwand in dem Behälter, der ihn aufsog wie ein Staubsauger.
Und plötzlich lag eine gespenstische Stille über der Bucht. Die Knobelbox fiel vom Himmel und schlug auf dem Deck des Kutters auf, um dann auf die Reling zuzugleiten.
«Nate, halt sie fest!«, rief Richie, aber sein Mentor kauerte zusammengesunken am Steuer, körperlich und seelisch ausgelaugt.
Die Box prallte an einer Klampe ab, flog in die Luft und rutschte über die Bootskante. Richie hechtete hinterher, erwischte sie aber nicht mehr. Die Schachtel fiel mit einem Platsch ins Wasser und verschwand aus seinem Blickfeld.
Richie lag bäuchlings auf dem Deck. »Äh, Nate ...«, sagte er. Aber bevor er sich zu seinem Mentor umdrehen konnte, tauchte Pernikus im Wasser auf und hielt vorsichtig die Knobelbox in die Höhe.
»Dämon über Bord!«, rief Richie.
Nate rührte sich noch immer nicht, sondern blickte nur starr aufs Wasser.
»Hol ihn raus, Nik!«, befahl Richie.
Der Mini-Muskelmann zog an einer langen Stange ein Fangnetz durchs Wasser und fischte Pernikus heraus. Richie half dem kleinen Schelm an Bord, nahm die Box an sich und ging zu Nate.
»Der Dämonenfresser is verschwunden«, sagte er zu ihm und half ihm auf die Beine.
Das Ungeheuer war tatsächlich entkommen und hatte sich mit seinen schleimigen, austauschbaren Gliedmaßen in die dunklen Tiefen der Meerenge verzogen.
»Ich weiß«, murmelte Nate. »Ich habe meinen Gehilfen gerettet.«
»Das hast du richtig gemacht«, sagte Richie und sah den älteren Jungen mit aufrichtiger Bewunderung an.
»Findest du wirklich?«, fragte Nate.
»Ja, aber jetzt sollten wir nach Hause fahren«, sagte Richie. »Es is kalt, wir sind klitschnass, und Sandy wird sich Sorgen machen.«
Nate starrte hinaus auf den Puget-Sund und nickte geistesabwesend. Aber er trat nicht zur Seite, sondern umklammerte mit weiß hervortretenden Fingerknöcheln weiter das Steuer.
»Rutsch mal ein Stück«, sagte Richie. »Ich fahre.«