23. Kapitel

Zu Hause

Sandy wartete seit Stunden in dem verschlossenen Haus. Sie würde so großen Ärger mit ihren Eltern bekommen wie noch nie zuvor, überlegte sie. Außerdem langweilte sie sich, was fast noch schlimmer war. Deshalb konnte sie, als sie draußen ein Geräusch hörte, nicht widerstehen, durchs regenbeschlagene Fenster zu spähen. Die Sicht war verschwommen. Naserümpfend ging sie zur Haustür und öffnete sie einen Spaltbreit. Der Sturm war vor einer Stunde abgeflaut, aber es war noch immer düster und nass, und man konnte kaum etwas erkennen.

Sie ging auf die Veranda, schlich die Stufen hinab und spähte in die Dunkelheit. Als sie zur Straße hinüberblickte, keuchte sie auf. Neben dem Bordstein vor Nates Gartenweg ragte ein riesiger Schatten auf, und dahinter bewegte sich etwas.

Leichtfüßige Schritte drangen an ihr Ohr. Sie ging weiter, neugierig und erschrocken zugleich. Einen Moment später lehnte sie sich über Nates Gartenzaun. Draußen konnte sie die Umrisse eines riesigen Ungetüms erahnen. Es war drei Meter hoch und sechs Meter lang, hatte einen rechtwinkligen, an den Ecken abgerundeten Körper, und der Kopf war ein großer rundlicher Klumpen, der wie ein Schildkrötenkopf daraus hervorragte.

«Was willst du?«, fragte plötzlich eine schemenhafte Gestalt aus der Dunkelheit.

Sandy fuhr zusammen und unterdrückte einen Aufschrei, als die Gestalt näher kam. Es war Lilli.

Sandy atmete auf. »Was tust du hier?«

»Da der Sturm vorbei ist, verschwinde ich jetzt, so wie ihr gesagt habt. Ich wollte meinen Käfer holen. Den Bus werde ich wohl noch hierlassen müssen.«

Jetzt sah Sandy es auch: Der große schattenhafte Körper gehörte gar nicht irgendeinem Ungetüm, sondern es war Lillis vor Neebors Haus abgestellter Anhänger, der ihr einen solchen Schreck eingejagt hatte. Davor stand der Käfer. Der Dämonenfresser war also nicht aufgetaucht. Sie ärgerte sich, dass sie sich wegen eines ausrangierten Busses fast vor Angst in die Hosen gemacht hätte.

Die beiden standen am Gartenzaun und beäugten einander beklommen. Sie waren noch nie nur zu zweit gewesen, dachte Sandy, und sie merkte, dass es viel schwerer war, das Mädchen nicht zu mögen, wenn kein anderer dabei war. Sie betrachtete Lilli. Ihre Kleidung war durchnässt, und das normalerweise wild abstehende Haar klebte ihr klitschnass am Kopf, so dass sie aussah wie ein trauriger streunender Hund.

»Wo willst du denn hin?«, fragte Sandy.

»Keine Ahnung. Irgendwohin. Ich habe bisher noch keinen Ort gefunden, an dem ich es länger aushalte. Als ich Nate kennenlernte, dachte ich: ›Wenigstens gibt es noch jemand anderen, der so ist wie ich.‹ Aber er ist dein Freund, stimmt’s?«

Sandy nickte. »Hast du das nicht gewusst?«

»Ich habe nicht gefragt. Ich wollte nicht. Hätte ich aber tun sollen. Tut mir leid.« Lilli sah Sandy prüfend an. »Aber es ist schon in Ordnung. Eure Auren sind extrem unterschiedlich, aber sie ergänzen sich.«

»Wirklich?«

»Ja. Wenn ich es mir genau überlege, dann passen sie trotz aller Unterschiede sogar sehr gut zusammen. So wie Lila und Gelb gut zusammenpassen. Und in bestimmten Momenten verschmelzen sie sogar miteinander.«

»Und was bedeutet das dann?«

»Dass man mit dem anderen herumknutscht.« Lilli grinste und zwinkerte Sandy zu. »Hör mal, ich wusste nicht, dass ihr beiden zusammen seid. Ich meine, zugegeben, ich hätte es wissen sollen, aber ich war so aufgeregt, jemanden kennengelernt zu haben, der so ist wie ich, dass ich gar nicht auf die Idee kam, er könnte eine Freundin haben.«

Nun fasste Sandy einen Entschluss. Sie hatte nichts mehr gegen Lilli. Das impulsive, umherziehende Mädchen war nicht berechnend oder hinterhältig – Lilli ließ sich einfach vom Wind dorthin tragen, wo das Schicksal sie hinführte. Leider führte es einen manchmal zum Freund eines anderen Mädchens oder stellte einem im vollen Lauf ein Bein, so dass man der Länge nach hinschlug. Und Lilli war das genaue Gegenteil von ihr. Sandy plante ihre Tage bis ins letzte Detail und wog jede Entscheidung sorgfältig ab. Genau genommen war sie viel berechnender als das Mädchen auf der anderen Seite des schmiedeeisernen Zauns, und sie hatte kein einziges Mal versucht, nett zu ihr zu sein.

»Weißt du, ich kann es dir gar nicht übelnehmen, dass du Nate interessant gefunden hast«, sagte Sandy. »Er ist ja auch interessant.«

Lilli sah erleichtert aus. »Danke. Ich bin schon so lange allein. Ich brauchte einfach die Nähe zu einem anderen Menschen. Ich bin nämlich nicht wie andere Mädchen. Ich bin ...«

»Besonders?«, sagte Sandy.

»Eigenartig.«

»Einzigartig.«

Lilli merkte, dass sie das Wortgefecht mit Sandy vermutlich nicht gewinnen würde. »Ausgeflippt?«, versuchte sie es noch einmal.

»Ausgeflippt und ziemlich cool«, sagte Sandy.

»Findest du?« Lillis Stirnrunzeln verwandelte sich in ein weiches, hoffnungsvolles Lächeln.

»Ja«, antwortete Sandy. »Manchmal wäre ich gerne genauso locker drauf wie du.«

»Keine Sorge. Du hast schon eine ziemlich entspannte Art, glaub mir.«

»Und ich wette, du hättest manchmal gern ein bisschen mehr Ordnung in deinem Leben, oder?«, sagte Sandy.

»Eigentlich nicht«, entgegnete Lilli.

In diesem Augenblick kam eine dunkle Gestalt die Straße heraufgehumpelt.

»Nate!«, rief Sandy. Sie ließ das Gartentor offen und rannte der Gestalt entgegen. Doch es war nicht Nate. Der Besucher hatte einen röhrenartigen Körper, einen runden Kopf und lange dünne Glieder. Im Halbdunkel sah er kaum wie ein Mensch aus. Es war Calamitous.

»Ah, da ist der bunt angemalte Bus«, sagte er. »Calamitous hat ihn wiedergefunden.« Er schnüffelte in die Luft. »Er ist noch immer leer, aber ganz in der Nähe sind noch viele andere, nicht wahr?« Er wandte sich langsam zu Nates Haus um und folgte seiner Nase.

Lilli lugte hinter Sandy hervor. »Ich schwör dir, der Kerl ist ein Spanner«, flüsterte sie ihr zu.

»Aha!« Calamitous rang die nervösen Hände. »Das andere Weibchen, das, das sie gehütet hat«, sagte er und trat nun vollständig aus dem Schatten heraus. Die Mädchen keuchten auf. Sein Gesicht war zerfleischt, und beim Gehen presste er die Hand gegen die Seite und verbarg damit einen länglichen Gegenstand unter dem Mantel. »Ladet ihr mich ein hereinzukommen? Ja? Nein? Benötigt Calamitous dazu wirklich eure Erlaubnis?«

»Fehlt Ihnen etwas?«, fragte Sandy. »Brauchen Sie einen Arzt?«

»Ach was, nein, nein«, kicherte Calamitous. »Ich habe nur meine letzte Mahlzeit verpasst und verspüre einen ... Mordshunger.« Er taumelte vorwärts, streckte die langgliedrige Hand nach Lilli aus und strich ihr über den Kopf, als wolle er von dem Mädchen kosten.

Sandy packte Lilli bei der Hand, fuhr herum und zog das Mädchen auf Nates Veranda und ins Haus hinein, dann schlug sie die Tür hinter ihnen zu.

RUMMS!

 

Einige Minuten später schleppten sich Nate und Richie auf die Veranda, erschöpft und bis auf die Haut durchnässt. Pernikus und Nik hoppelten neben ihnen her und traten sich aus Spaß gegenseitig ins Hinterteil.

»Tut mir leid, Alter, dass Flappy der Täter war«, sagte Richie und klopfte Nate auf den Rücken. »Ich bin sicher, dass er nich weiß, was er tut, wenn er so groß wird.«

»Ich möchte nicht darüber reden«, murmelte Nate.

Er ging zur Tür und griff nach dem Drehknauf. Doch der ließ sich nicht bewegen. »Tür, öffne dich«, sagte Nate. Einer der vielen Schließriegel bewegte sich, glitt aber nicht zurück, sondern nach vorn in den Türrahmen. Offenbar verriegelte sich die Tür selbst.

RUCK-RUCK-RUCK-RUCK!

Nate hämmerte gegen das Holz. »Los, öffne dich!«

Plötzlich flog die Tür auf, und Lilli ging mit einem Feuerlöscher auf Nate los. Weißer Löschschaum spritzte ihm ins Gesicht, und er taumelte rückwärts über die Veranda.

»Hör auf!«, rief Sandy.

»Oh, Mist.« Lilli ließ den Feuerlöscher sinken. Zoot, der auf ihrem Kopf gethront hatte wie ein unförmiger rosa Hut, verschwand schnell im Muster ihrer Bluse.

Sandy rannte hinaus, um Nate zu helfen. «Wir dachten, du wärst Calamitous.«

»Calamitous?«, erwiderte Nate und spuckte Schaum aus.

»Er war hier«, sagte Lilli, »und hat sich aufgeführt wie ein Verrückter.«

»Er war völlig zerschunden und hat von sich selbst in der dritten Person geredet«, fügte Sandy hinzu. »Er schnüffelte herum, da sind wir ins Haus gerannt und haben uns eingeschlossen.«

»Auch das noch«, sagte Nate. »Wir müssen unbedingt verhindern, dass er herausfindet, was wir hier tun! Wann habt ihr ihn zuletzt gesehen?«

WUMM!

Plötzlich fiel Calamitous von der Verandadecke herab und landete auf seinen vier dünnen Gliedmaßen.

Richie machte einen Satz rückwärts. »Was zum ...!«

»Ohhh!«, entfuhr es Lilli.

Calamitous baute sich vor den vieren auf und schnüffelte wie wild; Geifer tropfte ihm aus dem Mund. Sein Blick heftete sich auf Nik und Pernikus.

»Wie konnten Sie sich so lange an der Decke festklammern?«, fragte Nate. Er funkelte Calamitous misstrauisch an. Irgendetwas stimmte definitiv nicht mit dem Mann. Er hatte ihn von Anfang an seltsam gefunden. Nate wusste nur nicht genau, was seinen Argwohn erregte.

»Sie sind hier!«, kicherte Calamitous. »Hunderte, vielleicht tausende. Du weißt nur nichts mit ihnen anzufangen.«

»Siehst du?«, sagte Lilli. »Völlig verrückt.«

»Was wollen Sie?«, fragte Nate vorsichtig und wünschte plötzlich, der seltsame Mann stünde nicht zwischen ihm und der Haustür, hinter der sich all seine Geheimnisse verbargen.

Calamitous grinste. »Ich will sie auffressen«, krächzte er.

Er holte mit einem insektenartigen Arm aus und stieß Richie von der Veranda. Sein Körper begann zu zittern, sich aufzublähen und zu verzerren. Der Mantel fiel von ihm ab und offenbarte die aus ihm herausragende Harpune, deren mit einem Widerhaken versehene Spitze in Calamitous7 Leib steckte.

»Widerlich!«, stieß Lilli hervor.

»Zurück!«, rief Nate den anderen zu.

Calamitous verwandelte sich vor ihren Augen in einen schleimigen Riesenwurm. Weitere dürre Insektenbeine bohrten sich durch seinen Anzug und rissen ihn in Fetzen.

»Der Dämonenfresser!«, brüllte Richie.

Sie sprangen alle von der Veranda ins Gras oder in die lebenden Büsche. Nik aber war zu langsam. Calamitous bekam den kleinen Muskelprotz mit einem seiner langen Scherenarme zu fassen. Nik wandte sich dem Arm zu und brach ihn mit seinen gewaltigen Kräften entzwei, aber Calamitous ließ aus derselben schleimigen Gelenkpfanne einfach einen neuen Arm herausschießen und bekam den kleinen Dämon wieder am Fußknöchel zu fassen. Er hielt Nik kopfüber vor sein aufgerissenes Maul, das voller messerscharfer Zähne war. Trotz seiner gewaltigen Kraft war Nikolai hilflos.

Pernikus packte den Feuerlöscher und flitzte auf die Veranda zurück, rammte Calamitous die Spritzdüse ins Maul und füllte es mit Schaum.

Nate brüllte seinen Gehilfen zu: »Nik, Pernikus, haut ab!«

Das Ungeheuer wirbelte herum, verwirrt und überrascht, und spuckte feuerhemmenden weißen Schaum wie ein tollwütiger Hund. Nik wand sich aus der Umklammerung und sprang zusammen mit Pernikus von der Veranda.

Eine Engelsstatue neben der Tür wandte sich um und wollte ebenfalls flüchten. Das war ein Fehler, denn die Bewegung entging den Glupschaugen des Ungeheuers nicht. Calamitous stopfte sich den Engel ins Maul und zerbiss die Statue in eine Million Einzelteile, dann fuhr er herum und nahm einen Bissen von dem dämonischen Strauchwerk entlang der Veranda, als wäre sie eine Salatbar.

Lilli, Sandy und Richie rannten über den Rasen, um sich in Sicherheit zu bringen, aber Nate stand da wie erstarrt.

»Die Tür!«, rief er.

Die anderen blieben stehen und wandten sich um. Die Haustür stand offen und zitterte erschrocken in den Angeln. Trotz seiner sich rasend schnell vollziehenden Verwandlung war Calamitous noch Mensch genug, um das Wort »Tür« zu verstehen. Der riesige Wurm schnellte vorwärts, schlug sie entzwei und verschlang einen Bissen von dem jahrhundertealten Holz, dann stürmte er ins Haus, wo sich die übrigen Dämonen verbargen.

»Neiiin!«, brüllte Nate.

Drinnen ertönte jetzt eine Kakophonie aus Kreischen, Angstschreien und wildem Gebrüll.

Nate stürmte auf die Veranda zurück, während im Haus fürchterliche Schmatzgeräusche zu hören waren.

»Nate, geh da nicht rein!« Es war Sandy, die Stimme der Vernunft.

»Hör doch, was da passiert!«, rief Nate. »Da drin sterben meine Dämonen.«

»Es ist meine Schuld«, sagte Lilli. »Ihr hattet recht. Ich habe ihn hergeführt.«

Nate rannte zu seiner eingeschlagenen Haustür. Die ganze obere Hälfte fehlte. Er packte den Knauf, der ihm sogleich leblos in die Hand fiel. Die Dämonentür war tot.

»Du kannst ihn nicht aufhalten!«, rief Sandy.

»Aber ich kann doch nicht hier draußen herumstehen und nichts tun!«, rief Nate zurück.

»Aber ich habe das Kompendium gelesen«, widersprach Sandy. »Er ist kein Dämon. Du hast keine Macht über ihn.«

»Ich geh da nicht rein, um gegen ihn zu kämpfen. Ich will nur meine Dämonen retten. Lilli, du verstehst mich doch, oder?«

Aber sie stürmte schon an ihm vorbei ins Haus.

»Warte!«, brüllte Nate, doch sie war bereits verschwunden. Er hörte einen gewaltigen Zusammenprall. »Alle anderen bleiben draußen!«, rief er und rannte hinter Lilli her.

»Auf keinen Fall«, sagte Richie, der sah, wie sein Freund sich ins Schlachtgetümmel stürzte, und ihm hinterherstürmte.