5 vErsChwiNden
Als wir ankamen, füllte sich der Parkplatz bereits mit Autos, und die Zuschauer strömten zum Ticketschalter. Mich packte die Panik. Ich wusste, dass ich mich albern aufführte – es ging hier doch nur um ein Highschool-Footballspiel –, aber ich kam mir vor, als müsste ich nackt zur Schule gehen. Sara dagegen sprang aus dem Auto und winkte einer Gruppe von Mädchen, die kichernd und plaudernd zum Stadion unterwegs waren.
»Sara!«, riefen alle wie aus einem Munde und rannten zu ihr. Während sie sich zur Begrüßung fröhlich plappernd umarmten, stand ich abseits und fühlte mich auf einmal schrecklich ungeschützt in meinem eng anliegenden Pulli – der modische Schal verhüllte den tiefen Ausschnitt nur notdürftig.
»Emma?!«, rief Jill Patterson, und prompt drehten sich alle zu mir um und glotzten mich an. Meine Wangen glühten – ich hatte ja gewusst, dass die Schminke nicht notwendig gewesen wäre.
Mit zusammengekniffenen Lippen zwang ich mich zu lächeln und winkte den Mädchen beiläufig zu.
»Wow, du siehst ja toll aus«, stellte eine andere verblüfft fest, woraufhin auch die restlichen Mädchen mir überschwängliche Komplimente machten.
»Danke«, murmelte ich und wünschte mir wieder einmal, ich wäre unsichtbar.
Sara hakte sich unbeirrt bei mir unter und marschierte mit einem stolzen Lächeln zum Ticketschalter. Ich holte tief Luft und machte mich darauf gefasst, was der Abend noch so bringen würde. Zunächst einmal leider jede Menge weitere erstaunte Reaktionen und viel Gegaffe.
Es wurde getuschelt über meine Anwesenheit und meine Verwandlung, aber kaum jemand unternahm den Versuch, mit mir ins Gespräch zu kommen. Offensichtlich wusste niemand so recht, worüber man sich mit mir unterhalten sollte – umgekehrt war es genauso. Also ließ ich mich schließlich auf der Tribüne nieder und vertiefte mich in das Footballspiel. Sara jubelte für Jason, wurde aber immer wieder vom Spiel abgelenkt, weil fast jeder, der vorbeikam, irgendetwas mit ihr zu bereden hatte – sogar manche Eltern, die gekommen waren, um ihren Sohn oder das Footballteam als solches anzufeuern. Unbegreiflich, wie viele Leute Sara kannte und wie mühelos ihr geistreiche oder einfach nur freundliche Bemerkungen einfielen. Eigentlich hätte ich mir Notizen machen sollen.
Im dritten Viertel beschloss ich, mir eine heiße Schokolade zu holen, während Sara sich zusammen mit Jill und Casey plaudernd und kichernd auf den Weg zu den Toiletten machte. Weslyn war weiterhin auf dem Vormarsch, während ich in der Schlange stand, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat und den Ansagen des Stadionsprechers lauschte.
»Kein schlechtes Spiel, was?« Evans Stimme übertönte den Jubel der Menge und den tiefen Bariton des Ansagers. Als ich mich umdrehte, sah ich ihn direkt hinter mir stehen, in der Hand seine Kamera.
»Nein, ziemlich gut sogar«, antwortete ich so ruhig ich konnte. Auf einmal fühlte sich der Pulli an, als wollte er mich erdrosseln, und das hektische Hämmern in meiner Brust brachte meine Wangen schon wieder zum Glühen. »Schreibst du den Spielbericht für die Zeitung?« Sobald die Worte aus meinem Mund waren, wurde mir klar, wie dumm die Frage war. Natürlich berichtete er über das Spiel – ich hatte ihm ja selbst den Auftrag erteilt!
»Ja«, antwortete er, ohne darauf einzugehen, und hielt die Kamera in die Höhe. »Ich dachte, ich hätte gehört, dass du nie zu einem Spiel gehst?«
»Ich übernachte heute bei Sara«, erwiderte ich und dachte, das würde ihm wie allen anderen als Erklärung genügen. Aber er machte ein verdutztes Gesicht, und ich versuchte verzweifelt, mich an Saras vorgefertigte Antwort zu erinnern.
»Ich bin normalerweise so mit der Schule und allem anderen beschäftigt, dass ich nicht viel Zeit zum Ausgehen habe. Aber heute Abend hat es ausnahmsweise mal geklappt.«
Die Schlange bewegte sich vorwärts, ich mich ebenfalls, und Evan folgte mir.
»Oh«, sagte er, und mir war klar, dass er auch mit dieser Antwort noch nicht zufrieden war. »Geht ihr beiden nach dem Spiel zu der Party?«
»Ich denke schon«, antwortete ich zögernd. »Du auch?«
»Ja. Ich soll mich mit meinem Wagen an ein paar Jungs aus dem Fußballteam dranhängen.«
Ich nickte, weil mir nichts mehr einfiel. Dann wandte ich mich zur Theke um, damit er Gelegenheit hatte, unauffällig zu verschwinden und sich wieder ans Fotografieren zu machen. Allerdings vergewisserte ich mich nicht, ob er wirklich ging, und als ich meine Schokolade bezahlt hatte und mich wieder umdrehte, wartete er immer noch auf mich.
»Magst du ein bisschen mit mir rumlaufen, während ich ein paar Schnappschüsse mache?« Wieder blieb mir fast das Herz stehen. Konnte es sich vielleicht mal entscheiden, ob es mir aus der Brust springen oder endgültig den Dienst verweigern wollte? Dieses ruckartige Bremsen und Gasgeben wurde mir allmählich echt zu anstrengend.
»Na klar«, hörte ich mich antworten, ehe mein Gehirn registriert hatte, worauf ich mich einließ. Er lächelte, und mein Herz wurde schlagartig wieder lebendig. »Dann hast du dich also entschlossen, mit mir zu reden«, stellte Evan fest, ohne mich anzusehen.
»Ich sollte es eigentlich nicht. Aber es ist sowieso nur eine Frage der Zeit, bis du merkst, dass ich nicht interessant bin, und dann verschwinde ich für dich wie für alle anderen im Hintergrund.«
Er lachte, hob den Kopf und musterte mich, offenbar unsicher, ob ich es ernst meinte. Eine seltsame Reaktion, fand ich.
Dann zog er die Augenbrauen zusammen, lächelte wieder und sagte: »Genaugenommen denke ich, dass du jetzt, da du dich entschieden hast, mit mir zu reden – egal, ob du es solltest oder nicht –, noch interessanter geworden bist.« Ich stöhnte. Sein Lächeln wurde breiter, und er fügte hinzu: »Außerdem glaube ich nicht, dass du für mich jemals im Hintergrund verschwinden könntest. Na ja, zumindest nicht in diesem Pulli.«
Mir stieg das Blut ins Gesicht. »Der gehört Sara«, gestand ich mit gesenktem Kopf, um die drastische Farbveränderung zu kaschieren.
»Er gefällt mir«, gab er zu. »Die Farbe steht dir sehr gut.« Vielleicht war es doch keine gute Idee, mit ihm zu reden, ich konnte mir damit eine Menge Ärger einhandeln. Was sollte ich beispielsweise mit so einer Bemerkung anfangen? Ich nippte an meiner Schokolade, verbrannte mir die Zunge und sog Luft durch die Zähne, um sie zu kühlen.
»Zu heiß?«, fragte er.
»Ja – ich glaube, ich werde eine Woche lang nichts schmecken können.«
Wieder lächelte er. Ich fand, dass mein Herz diese Folter lange genug ertragen hatte, und schaute zu Boden.
»Ich hab bei der Bank eine Flasche Wasser in meiner Tasche, falls du was davon möchtest.«
»Nein, ist schon okay, danke. Dafür ist es eh zu spät.« Im Nu hatten wir die ganze Runde gemacht und wanderten an der Tribüne entlang, wo die Cheerleader das Publikum gerade dazu animierten, W-E-S-L-Y-N zu skandieren. Ich entdeckte Sara, die mir zuwinkte und mit offenem Mund auf Evan deutete. Ich zuckte die Achseln und wandte mich schnell ab, damit Evan nichts von unserem Austausch merkte.
»Hast du schon viele Leute kennengelernt?«, fragte ich und gab mir Mühe, beiläufig zu klingen. Vielleicht belästigte er mich ja nur, weil er sonst keinen kannte. Warum er sich ausgerechnet mich aussuchte, war mir allerdings trotzdem ein Rätsel.
»Ja, schon«, antwortete er zu meinem Leidwesen, und es klang ehrlich. »Es hilft, wenn man in der Fußballmannschaft ist und bei der Zeitung mitmacht. Das liefert mir einen Grund, mit den Leuten zu reden, und irgendjemand ist immer gern bereit, mir zu erzählen, wer wer ist. So hab ich auch ein bisschen was über dich erfahren – was übrigens schwieriger war, als ich dachte.«
Ehe ich ihn fragen konnte, was er herausgefunden hatte, fuhr er fort: »Du heißt eigentlich Emily, richtig?«
Ich nickte und zuckte leicht die Achseln.
»Warum nennen dich dann alle Emma?«
Es war eine ganze Weile her, dass jemand dafür eine Erklärung verlangt hatte. Ich antwortete ihm ehrlicher als den anderen. »Mein Vater hat mich immer Emma genannt.«
Dabei beließ ich es, und er fragte nicht weiter nach.
Inzwischen hatten wir die Tribüne hinter uns gelassen und standen in ihrem Schatten auf der Aschenbahn. Der Jubel und die Ansagen wurden leiser, mein Puls beschleunigte sich, während meine Panik wuchs. Ich musste unbedingt erfahren, was er über mich gehört hatte, fürchtete mich jedoch gleichzeitig vor der Antwort.
Aber ich konnte mich nicht zurückhalten. »Was hast du denn sonst noch über mich gehört?«
Schmunzelnd antwortete er: »Du meinst, außer dass du perfekte Noten hast, in drei Sportmannschaften bist und so weiter?«
»Ja.« Gespannt hielt ich die Luft an. Nur Sara wusste Bescheid über mein Leben, oder? Unmöglich, dass er auch darüber etwas in Erfahrung gebracht hatte. Aber warum war ich dann so paranoid?
»Na ja, du schüchterst die meisten Jungs ein, deshalb fragt dich nie einer, ob du mit ihm ausgehst. Die Mädchen glauben, du bist verklemmt, und deshalb ist deine einzige Freundin das populärste Mädchen der Schule. Man geht davon aus, dass dir sonst niemand gut genug ist.« Meine Augen wurden immer größer, während er weitersprach. »Deinen Lehrern tust du leid. Sie glauben, dass du dich zu sehr unter Druck setzt, um perfekt zu sein, und deshalb nichts von dem mitkriegst, was die Highschool eigentlich ausmacht. Und dein Trainer findet, er hat Glück, dich in seiner Mannschaft zu haben. Er ist überzeugt, dass das Team ein Favorit für die diesjährige Meisterschaft ist, solange du dich nicht verletzt.«
Er wurde ernst, als er meinen eingeschüchterten Gesichtsausdruck sah. »Aber du bist doch erst seit einer Woche hier«, flüsterte ich. »Das haben die Leute dir tatsächlich alles erzählt?«
Verwirrt hielt Evan inne, dann fragte er: »Davon wusstest du nichts?« Ich konnte ihn nur stumm anstarren. »Ich dachte, du ziehst dich so zurück, weil du selbstbewusst bist und es dich nicht kümmert, was die anderen von dir denken. Aber du hattest echt keinen blassen Schimmer, was sie über dich sagen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ehrlich, ich hab nie viel darüber nachgedacht – es war mir nicht wichtig. Ich muss die Highschool nur irgendwie überstehen.«
»Warum?«, fragte er langsam.
Diese Frage konnte ich nicht beantworten, sie war der Grund, warum ich eigentlich überhaupt nicht mit ihm reden durfte. Zum Glück verkündete der Stadionsprecher in diesem Moment einen Touchdown für Weslyn, und der ohrenbetäubende Jubel rettete mich davor, lügen zu müssen. Ich blickte zur Anzeigetafel und sah, dass Weslyns Punktestand auf 28 stieg, während der der Gäste bei 14 blieb. Und es waren nur noch zwei Minuten zu spielen.
»Ich muss Sara suchen«, sagte ich. »Bis später dann.« Ehe er antworten konnte, war ich schon weg. Es gab so viel zu verarbeiten, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte.
Ich entdeckte Sara an der Seitenlinie, hinter dem Seil, das das Spielfeld von der Aschenbahn trennte.
»Da bist du ja!«, rief sie. »Hast du gesehen, wie Jason den letzten Touchdown gemacht hat?«
»Ich hatte keine gute Sicht«, gestand ich, während sie schon wieder in die Hände klatschte und die Verteidigung anfeuerte, den Ball zu halten.
Dann zog sie mich beiseite, weg von der Menge. »Erstens«, sagte sie, »erstens wirst du mir vor dem Einschlafen heute Nacht jedes Wort von dem Gespräch zwischen dir und Evan berichten. Alle haben über euch beide geredet. Ich glaube, die halbe Schule geht davon aus, dass ihr zusammen seid.« Mir blieb der Mund offen stehen.
»Ich weiß, es ist albern«, räumte Sara achselzuckend ein. »Aber es hat dich noch nie jemand mit einem anderen Menschen als mir so viel reden sehen. Deshalb hassen dich die meisten Mädchen jetzt, und die Jungs kapieren nicht, was an Evan so toll sein soll. Eigentlich ziemlich lustig.«
»Großartig«, grummelte ich und verdrehte die Augen.
»Jedenfalls werde ich nach dem Spiel vor der Kabine auf Jason warten und ihn fragen, ob er mit zur Party kommt. Wartest du mit mir?«
»Klar, aber nicht vor der Kabinentür. Das ist nicht mein Stil, ich setz mich lieber auf die Treppe, okay?«
»Okay.« Ihre Augen blitzten. »Ich kann nicht glauben, dass ich das mache!«
»Er wird ja sagen, ganz bestimmt«, versicherte ich ihr.
»Hoffentlich.«
Das Lufthorn zeigte schmetternd das Spielende an. Ein letzter Jubel des begeisterten Heimpublikums gratulierte dem Team zum Sieg. Auf dem Weg in die Kabine sprangen die Jungs einander gegen die Brust und knufften sich in die Schulterschoner.
Sara und ich ließen uns Zeit, während die Massen durch die Tore hinausströmten. Ein paar Leute fragten uns, ob sie uns bei der Party sehen würden, was Sara enthusiastisch bejahte. Als wir uns der Kabine näherten, begann sie nervös die Hände zu ringen. Ich fand es beinahe unterhaltsam. So unsicher und aufgeregt hatte ich sie noch nie erlebt.
»Wünsch mir Glück.«
»Ich bin ganz in deiner Nähe«, versprach ich und stieg die Treppe hinauf, um die Situation von oben beobachten zu können.
Sara ging vor der geöffneten Flügeltür auf und ab. Immer wieder spähte sie nervös zu mir hinauf, und ich grinste ihr aufmunternd zu. Es dauerte nicht lange, bis die Spieler die Kabine allmählich verließen, geduscht, angezogen, die Sporttasche über der Schulter. Die meisten grüßten Sara im Vorbeigehen. Offensichtlich machten sich ein paar von ihnen sogar Hoffnungen, dass Sara ihretwegen hier wartete, und reagierten etwas enttäuscht, wenn sie nichts weiter sagte.
Doch dann erschien endlich Jason Stark, die blonden Haare noch feucht vom Duschen. Ich hielt den Atem an. »Hi, Jason«, sagte Sara, und in ihrer Stimme lag nichts von ihrem typischen Selbstbewusstsein – aber ihr Lächeln machte das wieder wett.
»Hi, Sara«, antwortete er, offensichtlich überrascht. Ich lauschte gespannt.
Eine Sekunde verging. Als er sich schon abwandte, fragte Sara: »Gehst du zu Scotts Party?«
Wieder reagierte er erstaunt. »Äh, ich weiß nicht. Ich bin nicht mit dem Auto hier, und ich glaube, Kyle wollte gleich nach Hause.«
»Du könntest mit mir fahren, wenn du lieber zur Party möchtest«, platzte Sara heraus.
Mir blieb die Luft weg. Was sollte das denn jetzt? Ihr Auto hatte doch nur zwei Sitze! Tatsächlich warf sie mir einen kurzen Blick zu und zog betreten den Kopf ein.
»Äh, ja, das könnte ich vielleicht«, stimmte er bedächtig zu. »Macht es dir nichts aus?«
»Nein, nein«, antwortete sie beiläufig. »Ich finde, du solltest deinen Sieg angemessen feiern.«
»Okay, ich sag nur schnell Kyle Bescheid. In einer Minute bin ich zurück.« Als die Kabinentür sich hinter ihm geschlossen hatte, sah Sara zu mir hoch, sprang ein paarmal in die Luft und stieß einen lautlosen Triumphschrei aus. Ich lachte.
»Sieht ganz danach aus, als bräuchtest du eine Mitfahrgelegenheit«, stellte eine selbstbewusste, charmante Stimme unten an der Treppe fest. Erschrocken fuhr ich herum und entdeckte Evan, der zu mir heraufschaute.
»Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Wie machst du das bloß?«, schoss ich zurück.
»Was denn?«
»Einfach so aus dem Nichts aufzutauchen. Ich hör dich nicht mal kommen, plötzlich bist du da«, erklärte ich vorwurfsvoll.
»Vermutlich bist du einfach nicht aufmerksam genug. Ich glaube, du bist zu sehr damit beschäftigt, im Hintergrund zu verschwinden.« Er kicherte leise, und ich sah ihn genervt an. »Tja, möchtest du nun eine Mitfahrgelegenheit zur Party? Oder willst du lieber auf Jason Starks Schoß sitzen?«
»Das hast du also auch gesehen? Ist das deine Lieblingsbeschäftigung – rumlaufen und die Leute belauschen?«
»Ich hab nach dem Spiel Siegerfotos für meinen Artikel gemacht und war unterwegs zur Kabine, um den Rest von meinen Sachen zu holen. Da hab ich zufällig mitgekriegt, dass die beiden was Wichtiges zu bereden hatten. Also hab ich gewartet, bis sie fertig sind«, verteidigte er sich. »Außerdem sieht es eher danach aus, als wärst du da oben die Spionin.«
»Ich bin bloß hier, um meine Freundin zu unterstützen«, fauchte ich.
»Klar.« Er lachte. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte, meinen Ärger hinunterzuschlucken.
»Also, willst du jetzt mitfahren oder nicht?«, kam Evan auf sein Angebot zurück.
»Na gut«, zischte ich, aber das belustigte ihn nur noch mehr. Lachend verschwand er in der Kabine. Warum fand er mich so komisch? Es nervte mich tierisch. Aber warum fuhr ich dann mit ihm zur Party? Vor allem jetzt, da ich wusste, wie über uns getratscht wurde. Wenn ich mit ihm gemeinsam da auftauchte, heizte das die Gerüchteküche weiter an.
Doch welche Rolle spielte das jetzt noch? Evan zufolge mochte mich ohnehin niemand besonders – was kümmerte es mich also, was sie sagten, wenn ich mit ihm aufkreuzte? Aber es kümmerte mich. Nicht gemocht zu werden war viel schlimmer, als unsichtbar zu sein. Ich holte tief Luft und atmete das Gefühl aus, ehe es weh tun konnte. Ich brauchte nicht zu wissen, was andere Leute über mich dachten.
Ehe ich noch weitergrübeln konnte, kam Sara die Treppe heraufgerannt. »Em, es tut mir so leid, es ist mir rausgerutscht, bevor ich Zeit hatte, darüber nachzudenken.«
Ich sah Jason neben der Kabine auf sie warten.
»Schon okay, Evan nimmt mich mit«, beruhigte ich sie.
»Evan? Echt?« Sie kniff die Augen zusammen und beäugte mich prüfend.
»Keine Sorge, wir sehen uns dann dort. Okay?« Ich zwang mich zu einem unterstützenden Lächeln.
»Okay«, antwortete sie, immer noch zögernd.
»Ehrlich. Jetzt geh endlich. Ich werde direkt hinter dir sein.« Sie umarmte mich aufgeregt und hüpfte dann die Treppe hinunter zu Jason. Ich sah ihnen nach, wie sie zu Saras Auto gingen, bereits tief in ein Gespräch versunken.
»Fertig?«, fragte Evan von unten. Ich erschrak schon wieder. »Hast du mich ehrlich nicht aus der Kabine kommen sehen?«
»Vermutlich hab ich nicht nach dir Ausschau gehalten«, gab ich bockig zurück.
»Gehen wir.« Er streckte mir die Hand hin, eine Einladung, ihm meine zu geben, aber ich ging stirnrunzelnd an ihm vorbei. Mein abweisendes Verhalten schien ihn allerdings nicht im Geringsten aus der Fassung zu bringen, er schlenderte ganz entspannt neben mir her zum Parkplatz. Nichts an Evan ergab Sinn, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund trafen wir immer wieder zusammen.
Er nahm Kurs auf einen schwarzen BMW-Sportwagen. Sonst achtete ich eigentlich nie auf die Autos auf dem Parkplatz. Die meisten Stadtbewohner konnten sich passend zu ihren schicken Eigenheimen noch einen Luxusschlitten leisten; demzufolge fuhren natürlich auch ihre Kinder Autos, die den Erfolg ihrer Eltern widerspiegelten. Vielfältigkeit gab es in Weslyn nur in puncto Automarke, nicht in puncto ethnische Gruppe. Da ich gar kein Auto besaß, zählte ich sowieso zu einer Minderheit. Ich hatte nicht mal einen Führerschein.
Evan öffnete mir die Beifahrertür. Ich stutzte, bevor ich einstieg, solch ritterliche Gesten war ich nicht gewöhnt.
»Weißt du, wo wir hinmüssen?«, fragte er, als er seine Tür schloss.
»Nein. Du auch nicht?«
Er lachte. »Ich bin gerade erst hergezogen, ich weiß nicht, wo die anderen wohnen. Ich dachte, wenigstens das würdest du wissen.« Ich schwieg.
Kurz entschlossen ließ Evan das Fenster herunter und rief einem Jungen, den er offensichtlich kannte, zu: »Dave, fährst du auch zu Scott?« Die Antwort konnte ich nicht hören. »Stört es dich, wenn ich dir folge?«, fragte Evan weiter.
Dann ließ er den Motor an, fuhr los und reihte sich hinter einem silbergrauen Land Rover ein.
»Ich hab dir nicht den Abend verdorben, oder?«
»Nein«, sagte ich lässig und zog mir langsam den Schal vom Hals. »Aber wenn es dir nichts ausmacht, würde ich lieber nicht mehr darüber reden, was andere Leute von mir halten, okay?«
»Nie mehr«, versprach er. »Wie sind denn die Partys in Weslyn so?«
Ich kicherte leise. »Fragst du mich das im Ernst?«
»Okay«, erwiderte er bedächtig. »Na ja, vermutlich finden wir es beide heute Abend raus, was?« Ich schwieg wieder.
»Wenn du lieber was anderes machen möchtest – ich bin zu allem bereit«, bot er an. Ich sah zu ihm hinüber und konnte kaum atmen.
»Nein, ich möchte zur Party«, log ich, obwohl ich fast an meinen Worten erstickte. »Außerdem treffe ich Sara dort, erinnerst du dich?«
Der Land Rover entfernte sich von der Schule, und wir fuhren durch mir unbekannte stille Straßen. Evan stellte das Radio an. Wie nicht anders zu erwarten, hatte ich keine Ahnung, welche Frau sich da zu wuchtigen Gitarrenrhythmen darüber beklagte, dass das Leben beschissen war. Evan reduzierte die Lautstärke, damit wir uns unterhalten konnten. Was hatte er mir denn noch zu sagen?
»Wo hast du gewohnt, bevor du hierhergekommen bist?«
Einen Moment zögerte ich. Konnte ich ihm die Wahrheit sagen, ohne mich in die Bredouille zu bringen?
»In einer kleinen Stadt bei Boston.«
»Dann hast du also immer in New England gelebt?«
»Japp«, bestätigte ich. »Und wo hast du in Kalifornien gewohnt?«
»San Francisco.«
»Warst du nur hier und in San Francisco oder auch noch anderswo?«
Evan stieß ein kurzes Lachen aus. »Seit ich denken kann, sind wir ungefähr jedes Jahr umgezogen. Mein Dad ist Anwalt bei einem Finanzkonzern, und er muss immer dorthin, wo er gerade gebraucht wird. Ich hab schon in New York gewohnt, in verschiedenen Teilen von Kalifornien, in Dallas, in Miami und ein paar Jahre sogar in einigen europäischen Ländern.«
»Macht dir das nichts aus?«, fragte ich, froh, dass wir über ihn redeten und nicht über mich.
»Früher nicht, da fand ich es sogar toll, an einen neuen Ort zu ziehen, und hab mich gefreut. Es hat mir nichts ausgemacht, Freunde zurückzulassen, weil ich überzeugt war, ich würde sie irgendwann wiedersehen.
Jetzt, in der Highschool, ist es nicht mehr so einfach. In den zwei Jahren, die wir in San Francisco waren, hab ich ein paar richtig gute Freundschaften geschlossen, deshalb ist es mir schwergefallen, von dort wegzugehen. Außerdem hab ich auch keine Lust mehr darauf, ständig um meine Position im Sportteam zu kämpfen. Meine Eltern haben mir angeboten, ich könnte in San Francisco bleiben, bis ich fertig bin, aber ich hab mich entschieden, Connecticut eine Chance zu geben. Wenn es mir hier nicht gefällt, ziehe ich zurück.«
»Allein?«, fragte ich erstaunt.
»Ich bin sowieso so gut wie allein«, antwortete er nüchtern. »Mein Vater arbeitet die ganze Zeit, und meine Mutter sitzt in ungefähr jedem Spendenkomitee zwischen hier und San Diego und ist deshalb ständig auf Reisen.«
»Bestimmt kann Weslyn San Francisco nicht das Wasser reichen. Ich würde mich sofort für Kalifornien entscheiden.«
»Weslyn ist interessant.« Jetzt sah er mich mit seinem berüchtigten Grinsen an. Zum Glück war es dunkel, und er konnte nicht sehen, dass ich puterrot wurde. Verlegen schaute ich aus dem Fenster, ich hatte immer noch keine Ahnung, wo wir waren.
»Ich hoffe, du merkst dir, wo wir hinfahren, weil du nämlich selbst rauskriegen musst, wie du wieder nach Hause kommst«, warnte ich ihn.
»Was denn – soll ich dich etwa nachher nicht zu Sara fahren?«
Ich war nicht sicher, ob er es ernst meinte.
»Wir haben ja kein Date«, platzte ich heraus. Kaum waren die Worte aus meinem Mund, bereute ich sie auch schon zutiefst.
»Ich weiß«, antwortete er fast ein bisschen zu schnell, und ich bereute meine Bemerkung noch mehr. »Ich dachte, Sara fährt Jason nach Hause.«
»Oh«, flüsterte ich und kam mir vor wie ein Idiot.
»Ich kann ja anbieten, Jason mitzunehmen, dann kannst du nachher zusammen mit Sara aufbrechen«, schlug er vor. »Vielleicht wäre das für alle Beteiligten einfacher.«
Schweigend folgten wir dem Land Rover eine lange, rechts und links von parkenden Autos gesäumte Auffahrt hinauf – es konnte auch ein Privatweg sein, so sehr zog sich die Strecke. Schließlich hielt Evan hinter dem Land Rover und stellte den Motor ab.
»Wenn das jetzt blöd für dich ist, kann ich auch alleine reingehen, dann bemerkt niemand, dass wir zusammen gekommen sind«, schlug er vor. Offenbar hatte ich ihn echt gekränkt.
»Nein, ist schon okay«, sagte ich leise. «Ich hätte das mit dem Date nicht sagen sollen. Ich hab mich nicht so gut im Griff wie sonst – aus irgendeinem Grund vor allem dann, wenn ich mit dir zusammen bin.«
»Hab ich gemerkt«, meinte Evan spöttisch. »Ich weiß nie, wie du reagieren wirst. Das gehört auch zu den Dingen, die dich so interessant machen.« Sein makelloses Lächeln schimmerte im sanften Licht der Laternen, die die Auffahrt beleuchteten.
»Bringen wir’s hinter uns«, sagte ich leise und öffnete die Autotür.
»Möchtest du wirklich reingehen?«, fragte Evan, als wir uns dem Haus näherten.
Ich holte tief Luft, antwortete: »Ja, es wird bestimmt Spaß machen«, und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. Garantiert klang ich nicht sonderlich überzeugend, aber er stellte mich deswegen nicht zur Rede.