8 peCh
Ich erwachte wie jeden Morgen, um meinen normalen Tagesablauf zu beginnen – bis ich in den Spiegel blickte und unsanft daran erinnert wurde, dass es in meinem Leben keine wirkliche Normalität gab. Als ich meine grausige Frisur sah, wusste ich, dass ich zumindest versuchen musste, meine Haare zu waschen und zu föhnen. Ich würde ohnehin Aufmerksamkeit erregen, da brauchte ich nicht auch noch auszusehen, als hätte ich auf der Straße übernachtet.
Mein Kopf dröhnte immer noch, aber die Beule auf meiner Stirn war deutlich abgeschwollen. Duschen und Haarebürsten waren einigermaßen erträglich, und meine Augen tränten nur ganz leicht, als ich mich föhnte.
Ich dachte schon, vielleicht könnte ich den Tag doch irgendwie überleben, aber dann stieg ich ins Auto ein. Sara fiel bei meinem Anblick die Kinnlade herunter. Sie sagte nichts, und ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht richtig deuten, da eine riesige Sonnenbrille fast ihr ganzes Gesicht verdeckte. Wortlos reichte sie mir eine Wasserflasche und eine Packung Aspirin. Vielleicht würde dieser Tag nun doch der längste meines Lebens werden.
»Danke«, sagte ich und nahm ein paar Pillen mit einigen großen Schlucken Wasser. Trotz meiner Anspannung versuchte ich, mich einigermaßen normal zu benehmen.
Sara sah mich kaum an. Ich klappte die Blende herunter, um meine Vertuschungen zu begutachten, und versuchte herauszufinden, warum Sara so distanziert war. Ich hatte den Pony in die Stirn gekämmt, damit man den blauen Fleck nicht sah, und unter den Haarfransen war auch das Klammerpflaster kaum zu erkennen.
»Okay«, sagte ich schließlich. »Warum redest du nicht mit mir und würdigst mich kaum eines Blickes?«
»Emma«, stieß sie verzweifelt hervor. »Schau dich doch an!«
»Was denn?«, erwiderte ich und schielte wieder in den Spiegel. »Ich finde, ich habe es ziemlich gut versteckt.«
»Das meine ich ja.« Ihre Stimme zitterte. Sie hörte sich an, als würde sie gleich weinen. »Du solltest so etwas nicht verstecken müssen, niemals. Ich weiß, du willst mir nicht erzählen, was wirklich passiert ist, aber ich weiß, dass du nicht hingefallen bist. Erzählst du mir wenigstens, worum es dabei ging?«
»Was spielt das denn für eine Rolle?« Meine Stimme war ganz schwach, ich hatte Saras heftige Reaktion nicht erwartet. Natürlich rechnete ich nicht damit, dass sie sich verhielt, als wäre nichts geschehen, aber ich wollte doch nicht, dass sie meinetwegen weinte.
»Für mich spielt es aber eine Rolle«, stieß sie mühsam hervor, und ich sah, wie sie sich unter ihrer Brille die Augen trockentupfte.
»Sara, bitte wein doch nicht«, flehte ich. »Es geht mir gut, das schwöre ich dir.«
»Wie kann es dir damit denn gutgehen? Du bist ja nicht mal wütend.«
»Ich hatte das ganze Wochenende, um darüber hinwegzukommen«, gab ich zu. »Außerdem möchte ich nicht wütend sein. Ich möchte nicht, dass sie so eine Macht über mich hat. Natürlich geht es mir damit nicht gut«, fuhr ich fort und deutete auf meine Stirn, »aber was für eine Wahl hab ich denn? Ich werde damit fertig. Also wein bitte nicht. Sonst fühle ich mich ganz schrecklich.«
»Sorry«, murmelte sie.
Wir fuhren auf den Parkplatz, sie nahm die Brille ab und tupfte sich im Rückspiegel noch einmal die Augen.
»Ich bin okay«, beteuerte sie und versuchte zu lächeln.
»Wie schlimm sieht es denn aus? Sei ehrlich.«
»Du hast es wirklich ganz gut hingekriegt, das meiste fällt kaum auf«, räumte sie ein. »Aber ich kann es schlecht ertragen, weil ich die Wahrheit weiß.« Andererseits wusste sie ja nicht einmal die Hälfte.
»Wenn irgendjemand fragt – und ich weiß, das wird passieren –, dann sag bitte, dass ich auf dem nassen Fußboden ausgerutscht bin und mir den Kopf am Couchtisch angeschlagen habe.« Sara verdrehte die Augen.
»Was denn – fällt dir vielleicht was Besseres ein?«, entgegnete ich sofort.
»Nein.« Sie seufzte. »Behalte das Aspirin ruhig. Ich denke, du wirst es brauchen.«
»Wollen wir?«, fragte ich zögernd. Mir gefiel es gar nicht, dass Sara so aufgewühlt war, vor allem auch noch meinetwegen. Wut und Trauer passten überhaupt nicht zu ihrer Persönlichkeit, und es war mir furchtbar unangenehm, das mitansehen zu müssen.
Sie atmete hörbar aus und nickte.
Einige meiner Mannschaftskolleginnen und ein paar andere Tratschtanten fragten mich zwar nach meiner Verletzung, aber die meisten starrten mich nur an. Nach dem Desaster am Freitag hätte ich eigentlich daran gewöhnt sein müssen, aber ich wünschte mir von Herzen, wieder unsichtbar zu sein – oder wenigstens nichts von den Gerüchten zu wissen, die über mich kursierten.
Ich gelangte zu meinem Englischkurs, ohne unterwegs mehr als zwei Leuten meinen Unfall erklären zu müssen. Dann saß ich auf meinem üblichen Platz und zog meinen Aufsatz heraus, um ihn abzugeben.
»Tut das noch weh?«, fragte Evan vom Stuhl neben mir. Im gleichen Moment näherte sich Brenda Pierce dem Platz, auf dem sie seit dem ersten Kurstag gesessen hatte, und verzog genervt das Gesicht, weil er besetzt war. Aber Evan lächelte nur höflich und zuckte die Achseln.
»Tja, jetzt gibt es zumindest eine Mitschülerin, die dich nicht leiden kann«, meinte ich ironisch, um seiner Frage auszuweichen.
»Sie wird darüber hinwegkommen«, meinte Evan nicht sonderlich interessiert. »Und – hast du noch Kopfschmerzen?«
Ich runzelte die Stirn und gab widerwillig zu: »Na ja, ich hab vorhin ein paar Aspirin geschluckt. Demzufolge ist es besser, jedenfalls solange ich den Kopf nicht zu schnell bewege.«
»Gut«, sagte er. Außer ihm hatte sich bisher niemand erkundigt, wie ich mich fühlte.
»Und wie war der Rest deines Wochenendes?«, flüsterte er.
»Okay«, antwortete ich, ohne ihn anzuschauen.
Ms Abbott begann mit dem Unterricht. Nachdem wir unsere Aufsätze abgegeben hatten, verteilte sie den Text für unsere nächste schriftliche Aufgabe. Wir durften gleich in der Stunde mit dem Lesen der Kurzgeschichte beginnen.
»Sprechen wir eigentlich miteinander oder nicht?«, flüsterte Evan, als Ms Abbott den Raum verließ.
»Wir sprechen miteinander.« Ich sah ihn verwirrt an. »Warum?«
»Ich werde einfach nicht schlau aus dir, daher wollte ich sichergehen, dass wir auf demselben Stand sind.«
»Ich bin aber keine große Rednerin«, gestand ich und wandte mich wieder der Kurzgeschichte zu.
»Ich weiß.« Seine Antwort ließ mich aufhorchen – wieder lag dieses amüsierte Grinsen auf seinen Lippen.
Da ich nicht in der Stimmung war, ihn nach dem Grund für sein Grinsen zu fragen, das mich jedes Mal auf die Palme brachte, würdigte ich Evan den Rest der Stunde über keines Blickes mehr. Ich vermied es gezielt, mich mit dem Rätsel Evan Mathews zu beschäftigen. Heute nicht. Ich wollte einfach diesen Tag überstehen, ohne allzu viel Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Wenn das nur so einfach gewesen wäre.
Evan begleitete mich zu Ms Miers Kunstkurs. Zwar versuchte er nicht, mit mir zu reden, aber er warf mir immer wieder kurze prüfende Blicke zu, während ich teilnahmslos und in mich gekehrt neben ihm durch die Korridore schlenderte. Ich musste die emotionale Verbindung zur Außenwelt kappen, mich von dem Starren und Flüstern der anderen abschotten, um der lautlosen Wut und der Scham in meinem Inneren entfliehen zu können.
»Heute könnt ihr ein bisschen auf dem Schulgelände herumspazieren und euch zu ein paar Schnappschüssen inspirieren lassen, die wir für unseren Kalender verwenden werden«, verkündete Ms Mier. »Die eingereichten Fotos werden an der Wand am Haupteingang ausgestellt, damit Schüler und Lehrer sie ansehen können. Dann wird über die zwölf potentiellen Werke im Kalender abgestimmt, das Kunstwerk mit den meisten Stimmen kommt außerdem noch aufs Cover. Hat jemand Fragen dazu?«
Die Klasse schwieg. Ms Mier bat ein paar Schüler, die Kameras aus dem Abstellraum zu holen und sie zu verteilen.
»Reichst du auch etwas ein?«, fragte ich Evan, der mit seiner Kamera hinter mir stand. Als ich mich kurz zu ihm umdrehte, erwischte ich ihn mit erstaunt hochgezogenen Augenbrauen. Anscheinend hatte es ihn überrascht, meine Stimme zu hören.
»Ja, ich reiche auch ein Foto ein.«
»Seid bitte alle in vierzig Minuten wieder im Klassenraum, um die Kameras zurückzugeben«, ordnete Ms Mier an.
Die Kursteilnehmer strömten auf den Korridor hinaus, in Richtung der Treppe, die zur Rückseite der Schule führte. Ich nahm lieber die Seitentreppe zum Fußballfeld und den Tennisplätzen.
»Stört es dich, wenn ich dich begleite?«, fragte Evan vom oberen Treppenabsatz. Ich war schon halb unten und blickte mit einem Achselzucken zu ihm hoch. Schweigend folgte er mir.
Als wir ins Freie traten, blies mir eine frische Brise entgegen, die mich frösteln ließ und mich aus meiner Starre weckte. Den Blick auf die leuchtenden Herbstfarben der Bäume gerichtet, machte ich mich auf den Weg zum Fußballfeld.
»Haben deine Eltern eigentlich irgendwas gesagt, als du nach der Party so durchgeweicht nach Hause gekommen bist?«
»Die waren gar nicht da«, antwortete er abschätzig.
»Macht dir das was aus – dass sie meistens nicht da sind?« Ich stellte die Frage, ohne nachzudenken, und erwartete keine ehrliche Antwort, denn es ging mich ja nichts an.
Aber er erwiderte geradeheraus: »Ich hab gelernt, damit zurechtzukommen. Als mein Bruder noch da war, fiel es mir leichter. Du wohnst bei deiner Tante und deinem Onkel, richtig?«
»Japp.« Ich bückte mich, um das Spielfeld durch den Zaun zu fotografieren, wobei ich das Objektiv so einstellte, dass die Farben ineinander verschwammen. Dann stand ich wieder auf und ging weiter in Richtung des Wäldchens hinter der Tribüne.
»Das ist bestimmt nicht einfach, was?«, fragte Evan so beiläufig, als wüsste er die Antwort bereits.
»Nein, es ist nicht einfach«, bestätigte ich. Ich hatte nicht das Gefühl, lügen zu müssen – noch nicht. Wir befanden uns auf einer Gratwanderung, wir machten Enthüllungen, ohne allzu viel preiszugeben.
»Strenge Regeln?« Wieder eine Frage, die eher wie eine Feststellung klang.
»Kann man wohl sagen«, antwortete ich, während ich weiter unscharfe Fotos von dem farbenprächtigen Laub schoss. »Und du hast überhaupt keine Regeln?«
»So ungefähr.«
Evan sah mich an und zuckte zusammen, als der Wind mir im gleichen Moment die Haare aus dem Gesicht blies. Ich wurde rot. Vermutlich hatte er den blauen Fleck bis zu diesem Moment noch gar nicht bemerkt.
»Hast du oft so ein Pech?«, fragte er.
»Kommt drauf an, wo ich bin«, sagte ich, ohne eine wirkliche Antwort zu geben, und bemühte mich, mit den Fingern die Haare wieder so über meine Stirn zu legen, dass sie die blaue Erinnerung an mein Pech verdeckten.
»Wie viele Geschwister hast du denn?«, erkundigte ich mich, um das Gespräch zurück auf ihn zu lenken.
»Nur den einen Bruder, Jared. Er ist Freshman in Cornell. Und du?«
»Ich hab weder Brüder noch Schwestern, nur meine beiden kleinen Cousins. Ist dein Bruder dir sehr ähnlich?«
»Überhaupt nicht. Er ist still, eher musisch als athletisch veranlagt und total entspannt.«
Ich lächelte, Evan lächelte zurück, und mein Herz erwachte aus seinem zweitägigen Schlaf.
Er fuhr fort mit den Fragen. »Welche Colleges ziehst du in Erwägung?«
»Hauptsächlich ein paar in Kalifornien, aber auch welche in der Gegend von New York und New Jersey. Wenn sie mich nehmen, würde ich furchtbar gern nach Stanford gehen.«
»Ich habe gehört, dass sich ein Scout aus Stanford am Donnerstag dein Spiel angeschaut hat.«
Ich nickte, dann stellte ich die Kamera scharf, richtete sie wieder auf das Gebüsch und zoomte, um diesmal die Einzelheiten der gefallenen Blätter einzufangen.
»Und wo bewirbst du dich?«
»Natürlich in Cornell, aber ich habe Freunde an verschiedenen Unis in Kalifornien, daher gehe ich vielleicht auch dorthin zurück. Ich hab ja noch genug Zeit zum Überlegen.«
So setzten wir unsere sorgfältig ausbalancierte Gratwanderung fort, bis es Zeit war, in den Klassenraum zurückzukehren.
»Du hast am Freitag ein Abendspiel, stimmt’s?«, fragte Evan, als wir die Treppe hinaufgingen.
»Ja.«
»Was machst du vor dem Spiel?«
»Wahrscheinlich bleibe ich in der Schule und erledige meine Hausaufgaben.«
»Hast du vielleicht Lust, mit mir was essen zu gehen?«, fragte er weiter und zögerte einen Moment auf dem Treppenabsatz, ehe er die Flügeltüren öffnete, die in den Korridor führten. Ich blieb stehen. Mein Herz ebenfalls.
»Und ja, das wäre dann ein Date – nur dass wir uns richtig verstehen«, fügte er hinzu. Jetzt verschlug es mir auch noch den Atem.
»Okay.« Ich atmete endlich aus, konnte mich aber immer noch nicht von der Stelle rühren. Hatte ich mich etwa gerade zu einem Date verabredet?
»Großartig«, sagte er und produzierte ein strahlendes Lächeln, das mein Herz in einem so rasanten Tempo wiederbelebte, dass mir ganz schwindlig wurde. »Dann sehen wir uns nachher in Mathe.« Damit ging er weiter, an der Tür des Kunstraums vorbei.
Ich brachte meine Kamera in den Abstellraum und ging wie benebelt zu meinem Spind zurück.
»Woher kommt denn dieses versonnene Grinsen?«, hörte ich Sara fragen, ihre Stimme schien mindestens eine Meile weit entfernt. Mühsam richtete ich meine Aufmerksamkeit auf sie – mir war überhaupt nicht bewusst gewesen, dass ich grinste.
»Das erzähl ich dir später.« Das Grinsen verwandelte sich in ein Lächeln.
»Ich hasse es, wenn du das sagst«, stöhnte sie, wusste aber, dass sie zwischen den Unterrichtsstunden gar keine Zeit hatte, mich zu verhören. Ich packte meine Bücher und lief zu Chemie.
Der Unterricht ging quälend langsam voran. Ich machte mir mechanisch Notizen und arbeitete mit meiner Chemiepartnerin an unserer Laboraufgabe, aber jedes Mal, wenn ich auf die Uhr schaute, waren gerade mal fünf Minuten verstrichen. Endlich klingelte es.
»Ich hoffe, es geht dir bald besser«, sagte meine Partnerin, und ich sah sie verwundert an. »Du hast heute so einen abwesenden Eindruck gemacht.« Als ich daraufhin anfing zu grinsen, war sie noch verwirrter.
An meinem Spind wartete bereits Evan auf mich.
»Sorry, aber ich hab beschlossen, nicht im Klassenraum auf dich zu warten«, erklärte er.
In diesem Moment erschien auch Sara. »Hi, Evan.« Hinter seinem Rücken warf sie mir einen argwöhnischen Blick zu. Ich schaute in meinen Spind und presste fest die Lippen zusammen, um das Lächeln zurückzuhalten.
»Kannst du mir sagen, welche Dinge man dir erlaubt?«, fragte Evan, als wir nebeneinanderher zum Kurs gingen.
»Nicht viel«, antwortete ich ernst und hatte auf einmal keine große Lust mehr zu lächeln.
»Aber alles, was mit der Schule zusammenhängt, ist okay, richtig?«, versuchte er zusammenzufassen.
»So ziemlich. Vorausgesetzt, jemand fährt mich, und ich bin vor zehn zu Hause.«
»Würden sie es irgendwie rausfinden, wenn du sagst, dass du was für die Schule machst, in Wirklichkeit jedoch etwas anderes tust, dabei aber die Zehn-Uhr-Regel einhältst?«
Ich sank auf meinen Platz. Mein Magen hing mir praktisch im Brustkorb, denn ich ahnte, worauf er hinauswollte – und davor hatte ich solche Angst, dass ich nicht einmal daran denken wollte.
»Ich weiß nicht. Warum?« Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich, in seinem Gesicht zu lesen.
»Hab ich mich nur gefragt«, antwortete er unverbindlich. Dann wurden wir aufgefordert, unsere Hausaufgaben abzugeben, und meine Aufmerksamkeit richtete sich mit einem Ruck auf den Unterricht.
Auf dem Weg zu Anatomie setzte Evan sein Verhör fort. »Hast du jemals absichtlich etwas getan, von dem du wusstest, dass du es nicht sollst?«
»Was denn zum Beispiel?« Mir gefiel die Richtung nicht, die er mit seinen Fragen einschlug.
»Hast du dich beispielsweise schon mal aus dem Haus geschlichen oder behauptet, du wärst in der Bibliothek, bist aber stattdessen ins Kino gegangen?« Ich sah ihn mit großen Augen an und schluckte den Kloß hinunter, der sich vor Nervosität in meinem Hals gebildet hatte.
»Anscheinend nicht«, schloss er aus meinem Schweigen und meinem wahrscheinlich hörbaren Schlucken.
»Woran denkst du denn?«, fragte ich schließlich.
»Ich versuche nur, mir über etwas klarzuwerden.«
»Worüber?«
»Über uns«, sagte er im selben Moment, in dem wir das Klassenzimmer betraten. Dann ging er sofort zu seinem angestammten Platz.
Ich stolperte zu meinem und konnte schon wieder kaum atmen. Evan war so verwirrend, und ich wünschte mir, ich könnte vorausahnen, wann er solche Dinge von sich gab.
»Mr Mathews«, wies Mr Hodges ihn an, »würden Sie sich bitte zu Ms Thomas an den Tisch setzen? Wie es aussieht, ist ihr Partner nicht mehr in diesem Kurs, und es hat keinen Sinn, zwei Einzeltische zu besetzen, vor allem, wenn wir mit dem Sezieren beginnen.«
Ich senkte den Kopf und starrte auf die schwarze Tischplatte, damit niemand sah, wie mir das Blut ins Gesicht schoss.
Evan setzte sich neben mich und sagte: »Hi«, als hätten wir uns noch nie gesehen.
Tatsächlich brachte ich ein Lächeln und ebenfalls ein »Hi« zustande.
Nachdem Mr Hodges seinen Unterricht über die Knochen in der Hand begonnen hatte, kritzelte ich unauffällig auf einen leeren Zettel: Gehst du etwa schon davon aus, dass es ein Uns gibt?
Als Antwort schrieb Evan darauf: Noch nicht.
Weil ich nicht verstand, was er damit meinte, runzelte ich die Stirn, und er fügte hinzu: Ich bereite mich nur darauf vor.
Mein Herz fühlte sich seltsam schwer an, als fiele ich gleich in Ohnmacht. Auf Evans Gesicht lag ein breites Grinsen, aber ich fand sein Verhalten überhaupt nicht witzig. Von seinen Fragen und Kommentaren wurde mir schwindlig. Ich stopfte den Zettel hinten in meinen Ordner, starrte auf meine Notizen und versuchte, meine knallroten Wangen hinter meinen Haaren zu verstecken.
»Bis später!«, sagte Evan nach der Stunde, ließ mich stehen und verschwand. Ich sah ihm verdattert nach. Natürlich war mir klar, dass seine Fragen und verrückten Kommentare irgendeinem Zweck dienten, aber ich hatte keine Ahnung, welchem.
Als ich zu unseren Spinden kam, stand Sara schon davor. Wortlos schloss ich auf und verstaute meine Bücher, denn ich wusste genau, was sie von mir erwartete.
»Tu mir das nicht an«, warnte sie mich ungeduldig.
Aber ich versuchte trotzdem, sie abzulenken. »Wie war eigentlich dein Date mit Jason am Wochenende?«
»Nein, diesmal kommst du damit nicht durch, auf gar keinen Fall«, schimpfte sie, immer noch viel zu ernst für die Sara, die ich kannte. »Über mich sprechen wir später – jetzt leg endlich los.«
Ich zögerte und gab mir Mühe, das, was ich ihr gleich erzählen würde, überhaupt erst einmal zu verdauen.
»Wir haben am Freitag nach der Schule ein Date, vor dem Fußballspiel. Wir gehen zusammen essen«, gestand ich, unsicher, was ich sonst noch sagen sollte.
»Wow«, erwiderte Sara beeindruckt. »Großartig. Das ist echt toll, Em. Ich habe ein richtig gutes Gefühl bei Evan.«
»Ich freue mich, dass wenigstens du das so siehst.«
Sie starrte mich verständnislos an.
»Ich kapiere ihn immer noch nicht, Sara«, gestand ich mit einem tiefen Seufzer, als wir die Treppe zur Cafeteria hinuntergingen. »Er stellt mir ständig Fragen und macht kryptische Bemerkungen, die mir das Gefühl geben, zwischen den Zeilen lesen zu müssen, aber ich verstehe einfach nicht, was er von mir will. Und wenn ich eine Chance bekomme, ihn zu fragen, was er eigentlich meint, dann verschwindet er einfach.«
»Ich weiß, dass er zurzeit seine Interviewbögen einsammelt und noch ein paar Gespräche führen muss – für den Artikel, der morgen fällig ist. Am Anfang des Journalistik-Kurses interviewt er mich. Vielleicht ist er ja deshalb verschwunden.«
»Ich mach mir eigentlich keine Sorgen darüber, wo er hingeht«, korrigierte ich, denn ich wusste, dass Sara mich beruhigen wollte. »Er geht einfach weg, nachdem er eine Bemerkung gemacht hat oder nachdem er mir eine Frage gestellt hat, für die ich eine Erklärung brauche. Das macht mich wahnsinnig.«
»Was denn beispielsweise?«
»Ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll.«
»Magst du ihn?« Wir zogen die Stühle an unserem Tisch in der hinteren Ecke der Cafeteria hervor.
»Ich bin immer noch dabei, ihn zu enträtseln. Aber ich gewöhne mich daran, mit ihm im Klassenraum zu sitzen und mit ihm die Korridore entlangzulaufen. Ich habe nicht mehr den Impuls, ihn wegzuschubsen, wie vorher. Also ist er womöglich dabei, mich mürbe zu machen.«
»Vielleicht magst du ihn aber auch«, konterte Sara mit einem verschlagenen Grinsen.
Ehe ich antworten konnte, kam Jason mit einem Essenstablett auf unseren Tisch zu.
»Hey, Sara«, begrüßte er sie und zögerte kurz, bevor er sich neben sie setzte.
»Hallo, Jason.« Sie strahlte und verrückte ihren Stuhl so, dass sie ihn direkt ansehen konnte. Plötzlich hatte ich das Gefühl, Zeuge von etwas zu sein, das nicht für fremde Augen bestimmt war.
»Ich hol mir was zu essen«, verkündete ich, aber meine Ansage stieß auf taube Ohren.
Auf dem Rückweg zum Tisch sah ich, wie Sara und Jason sich albern anlächelten, ich konnte nur hoffen, dass ich Evan nicht genauso anschaute. Wenn ich in Evans Gegenwart auf alle anderen einen solchen Eindruck machte, käme ich mir endgültig wie ein Idiot vor – andererseits sah es bei Jason und Sara aber auch geradezu ekelerregend bezaubernd aus. Ich kehrte angesichts ihrer hemmungslosen Flirterei lieber nicht an den Tisch zurück, sondern suchte Zuflucht im Journalistik-Raum. Dort konnte ich schon mal mit meinem Artikel anfangen.
Da der Kurs im Computerraum stattfand, kam niemand außer Ms Holt herein, die ein paar Sachen von ihrem Schreibtisch holte und sich meine Fortschritte ansah. Nach Journalistik hatte sie keinen Unterricht mehr, also blieb ich auch in der Lernstunde hier und vergrub mich in meine Hausaufgaben, um nicht über Saras Reaktion auf Evans ungebrochenes Interesse nachgrübeln zu müssen. Aber meine Gedanken wanderten zwangsläufig immer wieder zu diesem Thema zurück.
Ich war überwältigt von dem Wirbelwind, in den ich da geraten war und der in so kurzer Zeit alles auf den Kopf gestellt hatte. Ich war dabei, die Kontrolle zu verlieren, und das machte mich panisch. Auf einmal konnte ich mich kaum noch auf das konzentrieren, was mir früher so natürlich vorgekommen und so leichtgefallen war. Das Ende meiner Schulzeit war in Sicht, ich konnte jetzt doch nicht alles aufs Spiel setzen.
Wenn ich es einigermaßen heil ins College schaffen wollte, musste ich panikeinflößende Situationen wie diese Party meiden – und auch ansonsten alles, was mich dermaßen von meinem Ziel ablenkte. Dazu gehörte auch … das Date mit Evan. Mein Herz wurde schwer. Aber ich wusste, dass ich es nicht anders bewältigen konnte. Es stand einfach zu viel für mich auf dem Spiel.
»Da bist du ja«, rief Evan und betrat den Raum. »Ich hab mich schon gefragt, wo du steckst.«
»Hi«, antwortete ich, ohne den Blick von der Tastatur zu heben.
»Hier ist es definitiv ruhiger«, bemerkte er, dann fiel ihm wohl meine abweisende Körperhaltung auf. »Was ist denn los?«
»Ich kann mich nicht mit dir verabreden«, platzte ich hastig heraus. »Ich muss mich auf die Schule und meine sonstigen Pflichten konzentrieren. Ablenkungen kann ich überhaupt nicht brauchen. Tut mir leid.«
»Bin ich eine Ablenkung?«
»Na ja … schon. Allein die Tatsache, dass ich über dich nachdenke, ist eine Ablenkung, und ich kann mir nicht noch mehr außerschulische Aktivitäten aufhalsen.« Das klang viel schlimmer, als es sich vorhin in meinem Kopf angehört hatte.
»Vergleichst du unser Date etwa mit dem Kunstclub?« Ich konnte nicht erkennen, ob er das beleidigend oder amüsant fand.
»Nein.« Ich stieß einen frustrierten Seufzer aus. »Evan, ich bin in diesen Dingen überhaupt nicht fit. Ehrlich gesagt hatte ich noch nie im Leben ein Date, und ich bin einfach nicht bereit für so was. Jetzt ist es raus. Reicht dir das?« Während meiner spontanen Beichte war mein Gesicht knallrot angelaufen. Ich erzählte ihm immer noch zu viel über mich – auch über diesen Teil meines Lebens musste ich unbedingt die Kontrolle zurückgewinnen. Es gab viel zu viel, was er nicht erfahren durfte, ich konnte nicht riskieren, dass ich mich verplapperte.
Sein Versuch, sein typisches Grinsen zu unterdrücken, schlug fehl. Ich gab ein verärgertes Knurren von mir und warf ihm das oberste Taschenbuch von dem Stapel vor mir an den Kopf.
»Ich bringe immer das Beste in dir zum Vorschein, was?« Mit einem kurzen Auflachen wich er meiner Attacke aus. »Okay, dann haben wir also kein Date. Aber wir können trotzdem weiter zusammen rumhängen, ja?«
»Solange du mir versprichst, mich nicht zu fragen, ob ich mit dir ausgehe, nicht von uns redest, als gehörten wir zusammen, und keine Kommentare zu meinen Pullovern abgibst«, erklärte ich. Mir war klar, dass das sehr alberne Bedingungen waren, aber mein widerspenstiges Herz brauchte das, um eine Freundschaft mit Evan Mathews überleben zu können.
»Okay. Glaube ich jedenfalls.« Er nickte bedächtig. »Aber du sprichst weiterhin mit mir, und ich kann im Unterricht neben dir sitzen und sogar mit dir durch die Korridore laufen, ja?«
»Klar«, antwortete ich nach kurzem Zögern.
»Können wir auch mal außerhalb der Schule rumhängen?«, hakte er nach.
»Wann sollten wir denn nach der Schule etwas zusammen machen?«
»Am Freitag zum Beispiel – kein Date, versprochen. Aber du kannst nach der Schule vorbeikommen, dann machen wir bis zum Spiel irgendwas«, schlug er vor. »Wenn es dir lieber ist, meinetwegen auch die Hausaufgaben.«
Argwöhnisch kniff ich die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, ob er seinen Vorschlag ernst meinte. Wichtiger noch – ich musste entscheiden, ob ich mit seinem Angebot umgehen konnte. In meinem Kopf schrie eine kleine Stimme, ich solle nein sagen, aber ich hörte nicht auf sie.
»In Ordnung«, gab ich nach. »Aber nur als Freunde.«
»Das krieg ich hin«, antwortete er verschmitzt. »Vorerst jedenfalls.«
»Evan!«
»Ich mach nur Witze.« Er hob kapitulierend die Hände. »Ich kann mit dir befreundet sein, kein Problem.«
Dann ertönte die Klingel und verkündete das Ende des Schultags. Im Nu füllten sich die Korridore mit den Stimmen und Schritten der Schüler, die darauf brannten, von hier wegzukommen.
»Viel Glück bei dem Spiel heute«, sagte ich, während ich meine Bücher zusammenpackte.
»Danke«, antwortete er. »Dann sehen wir uns morgen in Englisch?«
»Ich werde da sein.«
Er lächelte mir zu und ging.
Ich blieb noch einen Moment sitzen und ließ meinen Versuch, wieder Ordnung in mein Leben zu bringen, Revue passieren. Es war nicht so gelaufen wie geplant, ich hätte Evan ganz aus meinem Leben streichen sollen, und ein Teil von mir war wütend, weil ich es nicht getan hatte. Schließlich wusste ich doch, was für ein Risiko ich einging, wenn ich einen anderen Menschen an meinem Leben teilhaben ließ! Zwar versuchte ich mir einzureden, dass es möglich war, mit Evan befreundet zu sein und mich trotzdem voll auf die Schule zu konzentrieren, aber ich war längst nicht so zuversichtlich, wie ich es mir gewünscht hätte.
Der Rest des Tages verlief in meiner üblichen Routine. Beim Fußballtraining bekam ich Kopfschmerzen vom Rennen, aber ich hielt durch. Sara erzählte überschwänglich von Jason und ihrem Date, was mich davon überzeugte, dass sie das emotionale Trauma von heute früh überwunden hatte.
Auch die restliche Woche verging im gewohnten Alltagstrott, mit dem einzigen Unterschied, dass ich in den meisten Kursen und auch auf dem Weg in die Klassenräume mit Evan zusammen war. Er respektierte meine Zurückhaltung und begrenzte das Gespräch auf Schulthemen. Ich atmete, mein Herz klopfte weiter. Gelegentlich tickte es allerdings völlig aus und sauste los, wenn ich Evans faszinierendes Lächeln sah oder wenn er mir ein bisschen zu lange in die Augen schaute. Doch ich schaffte es, selbst das weitestgehend hinzunehmen. Die Schule war wieder mein sicherer Ort, und das half mir, wenn ich die Schwelle der Instabilität zu Hause überschreiten musste.
Ich mied Carol, so gut es ging, obwohl sie es fertigbrachte, mir jedes Mal, wenn sie mich sah, eine scharfzüngige Beleidigung an den Kopf zu werfen. Am Dienstag hatte ich ein Auswärtsspiel, am Mittwoch arbeitete ich am Layout der Zeitung und so kam ich erst nach dem Abendessen heim. Mittwochnacht war ich sogar so mutig, mich um zwei Uhr früh in die Küche zu schleichen, mir aus dem Kühlschrank ein Stück kaltes paniertes Hühnchen mit auf mein Zimmer zu nehmen und so meinen heftig knurrenden Magen zu beschwichtigen. Meine gesamte Konzentration war darauf gerichtet, die nächsten sechshundertsiebenundsechzig Tage zu überleben – so gut es eben ging.