9 KeiN daTe

Der graue Himmel konnte meine Vorfreude auf das Abendspiel nicht dämpfen, als ich am Freitagmorgen zur Schule aufbrach. Außerdem würde ich den Nachmittag mit Evan verbringen. Beim Gedanken daran, mit ihm allein zu sein, durchzuckte mich eine prickelnde Furcht – was für eine seltsam widersprüchliche Gefühlslage, sich zu freuen und gleichzeitig so viel Angst zu haben.

Auf dem Weg aus dem Haus kontrollierte ich noch einmal den Kalender in der Küche, um mich zu vergewissern, dass mein Spiel darauf stand. Wenn ein Termin nicht rechtzeitig dort vermerkt wurde, durfte ich ihn nicht wahrnehmen. Das galt auch für die Bibliotheksbesuche, die ich sorgfältig für jeden Sonntagnachmittag dort eintrug. Eigentlich wunderte es mich, dass man mir keinen Sender implantierte – aber dann hätte man ja einen Haufen Geld für mich ausgeben müssen, eine lächerliche Vorstellung.

»Guten Morgen«, begrüßte ich Sara fröhlich, als ich zu ihr ins Auto stieg.

»Guten Morgen«, antwortete Sara und sah mich neugierig an. Sie schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber im letzten Moment anders und stellte stattdessen das Radio lauter. Zu dröhnenden Schlagzeugrhythmen und Gitarrenriffs fuhren wir los. Ein Sänger jammerte über seine große Angst, missverstanden zu werden. Ich ließ mich von dem Song grinsend treiben.

»Gehst du tatsächlich nach der Schule zu Evan?«, fragte Sara nach einer Weile und stellte das Radio wieder leiser.

»Soweit ich weiß, ja«, antwortete ich und versuchte so beiläufig zu klingen, als hätte ich noch jede Menge anderer Dinge im Kopf.

»Dann sehe ich dich also beim Spiel heute Abend.«

»Aber wir treffen uns doch vorher noch in der Lernstunde, oder nicht?«

»Ich hab einen Brief von meinen Eltern dabei, der es mir erlaubt, heute früher zu gehen. Ich bin nachmittags bei Jill. Du könntest bestimmt auch früher Schluss machen, wenn du willst. Die Lehrer erwarten nicht, dass du ständig da bist, könnte ja sein, dass du noch was an der Zeitung zu tun hast oder so.«

Beim Gedanken, die Regeln zu brechen und die Schule ohne Erlaubnis früher zu verlassen, drehte sich mir fast der Magen um. Vielleicht war es aber auch der Gedanke, eine weitere Stunde allein mit Evan zu verbringen, der mich so in Aufruhr versetzte.

Sara beobachtete aufmerksam meine erschütterte Miene. »War nur ein Vorschlag, du musst es nicht machen.«

»Ich denk drüber nach«, murmelte ich. Wieder durchzuckte mich dieser Schauer aus Angst und Freude.

 

»Ich erwarte Details«, rief Sara mir über die Schulter zu, als sie nach der Morgenbesprechung den Raum verließ. Sie war schon auf dem Weg zu ihrem Kurs, doch dann bemerkte sie meinen benommenen Gesichtsausdruck und blieb stehen. »Bist du nervös?«

»Ich bin total durch den Wind«, flüsterte ich, ohne auf die Menschenmassen zu achten, die an uns vorbeiströmten.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, du hast ihm doch klipp und klar gesagt, dass du nur mit ihm befreundet sein willst. Aber wenn du wirklich Angst hast, mit ihm allein zu sein, kann ich dir auch gern eine Ausrede liefern, nicht hinzugehen.«

»Nein, ich bin gern mit ihm zusammen. Ich hab so was nur noch nie gemacht und bin unsicher, was mich erwartet. Es ist ja nicht das Gleiche, als wenn ich mich mit dir treffe.«

»Warum tust du nicht einfach so?« Sara lächelte mich ermutigend an. »Und vergiss nicht die Einzelheiten«, wiederholte sie mahnend, als wir zur Treppe gingen.

Im Englischkurs war Evan schon auf seinem Platz, als ich mich neben ihn setzte.

»Hi«, sagte er, und seine Lippen zuckten, als müsste er sich ein Grinsen verkneifen.

»Hey«, gab ich zurück, ohne zu ihm hinüberzuschauen.

»Möchtest du heute vielleicht die Lernstunde schwänzen und früher gehen?« Mein Herz setzte einen Schlag aus, und eine Million Ausreden rasten mir durch den Kopf.

»Klar«, hörte ich mich sagen, während ich ihm einen schnellen Blick zuwarf. Panik durchflutete mich, ich hatte noch nie die Regeln übertreten. Mit zittrigen Händen schlug ich mein Notizbuch auf und zog die Hausaufgaben aus meinem Rucksack, um sie abzugeben. Aus dem Augenwinkel meinte ich zu sehen, dass Evan jetzt tatsächlich grinste, aber ich starrte weiter auf meine Notizen.

»Du bist heute noch stiller als gewöhnlich«, bemerkte er, als es klingelte und wir unsere Bücher zusammenpackten.

»Wahrscheinlich bin ich in Gedanken schon bei den Tests nachher«, log ich. In Wirklichkeit machte ich mir überhaupt keine Sorgen wegen der Tests, die uns in Mathe und Anatomie erwarteten. Ich hatte gelernt und war mir ziemlich sicher, dass ich den Unterrichtsstoff in- und auswendig kannte.

»Ich hätte nicht erwartet, dass du nervös bist.« Offensichtlich kannte er mich besser, als ich zugeben wollte.

»War eine Menge zu lernen – machst du dir etwa keine Sorgen?«, fragte ich und versuchte wieder einmal, von mir abzulenken.

»Warum sollte ich? Ich hab gelernt, mehr kann ich nicht tun.« Großartig, er war sich seiner Sache also auch in der Schule sicher – nicht nur überall sonst. »Wir sehen uns dann in Mathe.«

Geschichte, Chemie und meine beiden Tests lenkten mich genügend ab, um mich nicht die ganze Zeit zwanghaft mit dem Ende des Schultags und meinem Treffen mit Evan zu beschäftigen.

»Wie ist es bei dir gelaufen?«, fragte Evan, als wir mit Anatomie fertig waren.

»Ich denke, ich wusste ganz gut Bescheid«, gab ich sofort zu. »Und du?«

»Ich hab mich so durchgewurstelt«, meinte er achselzuckend.

Auf einmal fiel mir auf, dass er mit mir ging statt wie sonst in die entgegengesetzte Richtung.

»Wo gehst du hin?«

»Zu deinem Spind«, erklärte er geradeheraus.

»Warum?«, fragte ich etwas begriffsstutzig.

»Was? Willst du nicht mit mir essen?« Es klang beinahe beleidigt, andererseits kannte ich ihn besser – beleidigt zu sein war nicht seine Art.

»Du gehst doch nie mit mir zum Lunch, ich versteh dich nicht.«

»Es gibt für alles ein erstes Mal. Sara ist zu Jill gefahren, da dachte ich, vielleicht kannst du ein bisschen Gesellschaft brauchen.«

»Ach ja, richtig«, erinnerte ich mich. »Aber eigentlich hab ich gar keinen Hunger. Ich wollte mir nur eine Kleinigkeit holen und dann im Kunstraum schon mal anfangen.«

»Wärst du lieber allein?«

»Das ist mir egal, tu, was du magst.« Ich zuckte die Achseln und versuchte, desinteressiert zu wirken.

»Unmöglich«, entgegnete er salopp. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte wieder einmal zwischen den Zeilen zu lesen. Ehe ich eine Erklärung fordern konnte, fragte er: »Hast du vor, mich zu ignorieren, wenn ich meinen Lunch bei dir im Kunstraum esse?«

»Das muss ich gar nicht.« Wie konnte ich den ganzen Nachmittag mit ihm lebend überstehen? Vielleicht sollte ich mir eine Ausrede ausdenken und doch lieber in der Schule bleiben. Beim Gedanken daran zu kneifen setzte mein Herz einen Schlag aus – ich konnte mit Evan befreundet sein! Ich durfte nur nicht vergessen, was ich wollte.

Ich packte meine Bücher in den Spind, Evan legte seine ganz selbstverständlich dazu. Mir blieb der Mund offen stehen.

»Was?«, fragte er etwas abwehrend. »Nach dem Kunstkurs gehen wir zusammen los, dann nehme ich meinen Krempel wieder mit, versprochen.« Schweigend trotteten wir nebeneinanderher zur Cafeteria.

Ehe wir hineingingen, sagte er leise: »Du weißt, dass man sich seit neuestem erzählt, wir beide würden miteinander gehen, ja?« Ich blieb abrupt stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

»Es ist bloß ein Gerücht!«, beschwichtigte er mich schnell, hob abwehrend die Hände und setzte ein halbes Lächeln auf, das mich tierisch ärgerte.

»Möchtest du wirklich, dass ich nachher mit dir komme?«, fauchte ich ihn an.

»Selbstverständlich«, antwortete er eifrig.

»Dann erzähl mir so was nicht, sondern denk dran, dass ich nicht wissen will, was die Leute über mich erzählen.«

»Mir war nicht klar, dass unsere Freundschaft Regeln hat«, erwiderte er, schon wieder grinsend.

»Ich werde dich garantiert darauf aufmerksam machen, wenn du sie nicht befolgst, also versuch, dich daran zu halten, ja?« Eigentlich hatte ich gehofft, streng zu klingen, aber er grinste immer noch. Mit einem genervten Schnauben stürmte ich in die Cafeteria.

»Bist du mit deinen anderen Freunden auch so streng?«, fragte er leise lachend und versuchte, mit mir Schritt zu halten.

»Ich bin ansonsten nur mit Sara befreundet, und sie spielt nach den Regeln. Sie braucht keine Belehrungen.« Ich wollte, dass er mich ernst nahm, und funkelte ihn wütend an, aber er schien mein Verhalten immer noch eher spaßig als beleidigend zu finden.

»Du nimmst nur einen Müsliriegel und einen Apfel?«, fragte er und deutete mit dem Kopf auf die Sachen, die ich mir ausgesucht hatte.

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich keinen großen Hunger habe. Außerdem essen wir eh in ein paar Stunden, oder nicht?«

»Ja, aber du bist Sportlerin und hast heute Abend ein Spiel – da brauchst du schon ein bisschen mehr Nahrung.« Er klang beinahe besorgt.

»Na gut.« Ich gab nach und nahm noch eine Banane. Evan schüttelte den Kopf und musterte mich missbilligend.

»So ist es natürlich viel besser«, kommentierte er sarkastisch.

Ich ging weiter und überließ es ihm, mich wieder einzuholen, nachdem auch er sich seinen Lunch ausgesucht hatte.

Als wir den Kunstraum betraten, setzte er sich zum Essen auf den Hocker neben mich. Ich holte mein Projekt, das momentan noch aus einer größtenteils schwarzen Leinwand bestand, auf der sich unten verschiedene Grünschattierungen ausbreiteten. Ich entfernte das Foto, das ich auf der Rückseite befestigt hatte und auf dem das Oktoberlaub zu sehen war, und legte es neben mir auf den Tisch.

»Fällt es dir sehr schwer, mich zu mögen?«

Ich ging ganz selbstverständlich davon aus, dass er sich mal wieder mit mir anlegen wollte – bis ich mich umdrehte und sah, dass er ehrlich betroffen wirkte.

»Nein, es fällt mir nicht schwer, dich zu mögen«, versicherte ich ihm. »Ich verstehe dich nur oft nicht. Du sagst Sachen, die für mich keinerlei Sinn ergeben oder die offenkundig viel mehr bedeuten können, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Ich versuche nur, mich davon nicht verrückt machen zu lassen – weiter nichts.« Damit wandte ich mich wieder meiner Malerei zu und begann, auf der Palette verschiedene Grüntöne zu mischen.

»Ich mache dich verrückt?«, hakte er nach, und wieder breitete sich sein typisches Grinsen auf seinem Gesicht aus. Ich verdrehte die Augen.

»Nicht, wenn ich es verhindern kann. Aber sich über mein Unbehagen lustig zu machen ist natürlich eine gute Methode, sich bei mir einzuschmeicheln«, konterte ich und warf ihm einen verärgerten Blick zu.

»Tut mir leid«, sagte er mit einem unaufrichtigen Lächeln.

»Ja, bestimmt«, schnaubte ich, dann widmete ich mich wieder meinen Farben, mischte und trug sie in Klecksen oder schweren Pinselstrichen auf die Leinwand auf. Ich gab mir alle Mühe, mich auf das Malen zu konzentrieren, obwohl Evan dicht hinter mir saß und mir schweigend zuschaute. Weil mich seine Gegenwart so durcheinanderbrachte, fiel mir auch nicht ein, was ich hätte sagen können, um die peinliche Situation aufzulockern. Also wandte ich ihm lieber den Rücken zu.

»Ich glaube, ich gehe eine Weile nach draußen und arbeite auch an meinem Projekt«, erklärte er schließlich. »Ich treff dich dann nach der Stunde an deinem Spind.«

»Okay«, antwortete ich, ohne aufzublicken. Als er den Raum verlassen hatte, legte ich den Pinsel beiseite und holte erst einmal tief Luft. Er machte mich tatsächlich verrückt, und meine abwehrenden Äußerungen störten mich, ganz gleich, wie sehr sie ihn zu amüsieren schienen. Schließlich hatte ich doch die bewusste Entscheidung getroffen, mit ihm befreundet zu sein und die Sache in den Griff zu bekommen. Bisher versagte ich allerdings erbärmlich. Ich hielt Evan so krass auf Distanz, dass ich im Grunde gemein zu ihm war. Wenn ich so weitermachte, würde er wahrscheinlich irgendwann nichts mehr mit mir zu tun haben wollen – ich hätte es ihm nicht verdenken können.

Nach dem Kurs wartete er wie versprochen bei meinem Spind auf mich.

»Hi«, sagte ich lächelnd und hoffte, dass er es nicht schon bereute, mich eingeladen zu haben.

»Hi.« Er erwiderte mein Lächeln.

»Wartest du auf mich, um dir noch mehr Gemeinheiten anzuhören?«, fragte ich leise und wandte mich ihm zu. Aber es fiel mir schwer, ihn anzuschauen. Immer wieder senkte ich den Blick und starrte auf den Boden.

»Damit komm ich schon zurecht.« Er neigte den Kopf und zwang mich damit, in seine faszinierenden graublauen Augen zu sehen. »Außerdem gewöhne ich mich allmählich daran, wie du auf mich reagierst, deshalb stört es mich eigentlich nicht. Und du kannst ja auch ganz schön witzig sein«, fügte er hinzu.

»Na toll – da fühle ich mich schrecklich, weil ich nicht nett zu dir war, und du findest das auch noch lustig. Anscheinend bringst du wirklich meine besten Seiten zum Vorschein, was?«, spottete ich und wandte mich dem Spind zu.

»Dafür bin ich ja da«, murmelte er in mein Ohr. Ich erstarrte.

Als er über meinen Kopf hinweg nach seinen Büchern griff und sein Hemd dabei meinen Rücken streifte, hielt ich unwillkürlich den Atem an, mein Herz begann seinen rituellen Tanz in meiner Brust, und ich wurde knallrot. Dann entfernte er sich wieder von mir, und ich atmete mit geschlossenen Augen langsam aus.

»Ich muss nur noch schnell ein paar Sachen aus meinem Spind holen, dann können wir gehen. Okay?«

»Klar«, flüsterte ich, immer noch ganz verstört.

Durch leere Korridore gingen wir zu Evans Spind, aus dem er ein paar Bücher herausnahm und sie in seinen Rucksack stopfte. Zu meiner großen Erleichterung gab es auch keine Zeugen, als wir gemeinsam zurückgingen. Ich legte wirklich keinen Wert darauf, den Gerüchten zusätzliche Nahrung zu geben – oder beim Schwänzen erwischt zu werden, selbst wenn es nur um die Lernstunde ging.

Als wir die Schule verließen, sah ich mich nervös um und erwartete, dass uns eine Stimme aufhielt und fragte, wo wir denn hinwollten. Aber nichts dergleichen geschah. Unter dem bleigrauen Himmel schlenderten wir wortlos zu Evans Auto. Er hielt mir wieder die Tür auf, und die Geste traf mich immer noch unvorbereitet. »Wird bestimmt ein interessantes Spiel heute Abend – im Schlamm«, bemerkte er, als er den Motor anließ.

»Ja, es wird sicher langsamer sein«, bestätigte ich, »aber ich mag es eigentlich, durch den Schlamm zu schlittern.«

»Ich weiß, was du meinst.«

Auf dem ledernen Autositz entspannte ich mich etwas, und wir unterhielten uns die ganze Fahrt über angeregt. Als wir seine Auffahrt erreichten, war meine wachsame Anspannung schon fast weggeschmolzen.

Evan wohnte in einem der historischen Häuser im Stadtzentrum. Eine lange Auffahrt führte an einem makellos gepflegten Rasen mit einem großen Ahornbaum entlang zu dem von der Straße zurückgesetzten Farmhaus mit schwarzen Fensterläden. Eine breite Veranda mit weißen Schaukelstühlen und einer Hängematte umschloss das große Gebäude, das mich an ein dreidimensionales Norman-Rockwell-Gemälde erinnerte. Am Ende der Auffahrt war eine zweistöckige Scheune zu einer Garage umgebaut worden, dahinter lag eine ausgedehnte, von Bäumen umgebene Wiese. Ein Nachbarhaus war nicht in Sicht.

Durch eine Tür neben der Veranda kamen wir in die Küche. Nun mochte das Gebäude zwar historisch sein, aber die große Wohnküche war ausgestattet mit jeder erdenklichen modernen Annehmlichkeit. Trotzdem verströmte sie mit ihren freigelegten Balken und den in einem warmen Braunton gehaltenen Holzbohlenwänden einen rustikalen Landhaus-Charme.

»Magst du was trinken? Es gibt Limo, Wasser, Saft und Eistee«, sagte Evan, nachdem er seinen Rucksack auf einem Stuhl abgestellt hatte. Eine Kücheninsel trennte den Kochbereich vom etwas tiefer liegenden Essbereich, drei breite Stufen führten zu einem großen Tisch aus dunklem Holz.

»Eistee wäre wunderbar.« Ich setzte mich auf einen Stuhl an der Insel, während Evan einen Krug aus dem Kühlschrank holte und zwei Gläser mit Eistee füllte.

»Eure Zeitung gefällt mir übrigens sehr gut«, sagte er und reichte mir mein Glas. »Die meiner früheren Schule wirkte viel unprofessioneller, weil alles im Haus gedruckt wurde. Sie war mehr ein Flugblatt als eine Zeitung. Aber die Weslyn High Times ähnelt tatsächlich einer echten Zeitung.«

»Danke. Hast du eigentlich schon Feedback zu deinem Artikel bekommen – du weißt schon, er war ja auf der ersten Seite.«

»Ja, hab ich«, gab er lächelnd zu – ihm war klar, dass ich kein weiteres Wort der Anerkennung über den Artikel verlieren würde, egal, wie gut er geschrieben sein mochte. »Aber es waren hauptsächlich Fragen nach meinen Interviewpartnern, also Versuche, eine Unsicherheit einer bestimmten Person zuzuordnen. War ein bisschen ärgerlich, aber ich hätte es eigentlich erwarten sollen.«

Nach einem kurzen Moment fügte er hinzu: »Ich habe dich nicht interviewt, weil ich dachte, das könnte einen Interessenkonflikt geben.«

»Ich glaube auch nicht, dass ich mich von dir hätte interviewen lassen«, erwiderte ich. »Aber wenn ich mich doch bereit erklärt hätte, was hättest du mich dann gefragt?« Kaum waren die Worte aus meinem Mund, bereute ich sie schon. Warum stellte ich mich selbst auf den Präsentierteller? Evan von meinen Selbstzweifeln zu erzählen stand nicht sehr weit oben auf meiner Prioritätenliste.

»Nenn mir einen Teil deines Körpers, der dich verunsichert. Was würdest du daran verändern wollen?« Sein Gesicht war ruhig und aufmerksam, was mich überraschte. Eigentlich hatte ich gedacht, dieses Thema würde sein typisches Grinsen hervorzaubern.

Ich zögerte.

»Okay, dann sag ich dir erst meine Antwort, vielleicht hilft dir das weiter«, schlug er vor, immer noch vollkommen ernst.

»Dich stört etwas an deinem Körper?«, fragte ich ein wenig spöttisch.

»Ja, ich hasse meine Füße. Die sind so riesig«, gestand er.

»Deine Füße? Welche Schuhgröße hast du denn?«

»Achtundvierzig, und der Durchschnitt liegt bei vierundvierzig. Es ist echt schwierig, Schuhe zu finden, die mir gefallen und in die ich reinpasse.« Seltsamerweise klang es kein bisschen aufgesetzt.

»Ich kann dir ganz ehrlich sagen, dass mir das noch nie aufgefallen ist. Vielleicht, weil du so groß bist. Oder vielleicht, weil die meisten Leute nicht gerade auf deine Füße achten.« Auf einmal wurde mir klar, wie leicht er meine Bemerkung missverstehen konnte, und ich wurde rot.

»Echt?« Jetzt grinste er tatsächlich und bestätigte meine Befürchtungen.

»Du weißt doch, was ich meine«, erwiderte ich scharf und wurde knallrot.

»Und was ist deine Schwachstelle?«, hakte er nach.

»Mein Mund«, gestand ich zögernd. »Ich hab mir immer gewünscht, er wäre schmaler. Ich hab sogar schon vor dem Spiegel geübt, die Lippen einzuziehen.« Wie üblich gab ich mehr preis, als ich eigentlich wollte.

»Echt? Aber ich mag deine vollen Lippen«, entgegnete er, ohne zu zögern. »Die sind perfekt zum K-«

»Sag es nicht«, fiel ich ihm ins Wort und wurde noch röter.

»Warum denn nicht?«, fragte er und runzelte die Stirn.

»Möchtest du mit mir befreundet sein?«

»Ja«, antwortete er rasch.

»Dann solltest du so was nicht sagen, das ist eine Grenzüberschreitung. Erinnerst du dich an die Regeln, die ich aufgestellt habe? Du hältst dich nicht an sie«, erklärte ich mit fester Stimme und hoffte, dass er mich diesmal ernst nehmen würde.

»Was ist, wenn ich nicht mit dir befreundet sein möchte?«, meinte er herausfordernd, fing wieder an zu grinsen und starrte mir direkt in die Augen. Offensichtlich war es für ihn ein Ding der Unmöglichkeit, mich ernst zu nehmen.

Obwohl ich kaum atmen konnte, begegnete ich seinem spöttischen Blick und weigerte mich, die Augen zu senken. »Dann können wir nicht befreundet sein«, antwortete ich kategorisch.

»Was, wenn ich mehr als nur mit dir befreundet sein möchte?« Sein Grinsen wurde breiter, er stützte sich mit den Unterarmen auf die Kücheninsel und beugte sich näher zu mir.

»Dann gibt es gar nichts zwischen uns.« Zwar bekam ich kaum noch Luft, und mein Herz drohte stehenzubleiben, aber ich hielt trotzig seinem Blick stand, während er immer näher kam. Ich war wild entschlossen, nicht nachzugeben.

»Okay, dann sind wir eben Freunde«, erklärte er, richtete sich unvermittelt auf und trank einen großen Schluck Eistee. »Kannst du Pool spielen?« Ich brachte ein paar Sekunden kein Wort heraus – mir schwirrte der Kopf, und ich hatte Mühe, mein Herz wieder an seinen angestammten Platz zu befördern.

»Ich hab’s noch nie probiert«, stotterte ich.

Ich atmete tief ein und schaffte es aufzustehen. Evan wartete geduldig auf mich und hielt mir die Tür auf.

Wir betraten die große weiße Scheune und gelangten in einen Raum, in den mühelos zwei Autos passten. Rechts von der Treppe führte eine weitere Tür ins Unbekannte.

Auf den Regalen an der gegenüberliegenden Wand lagen Werkzeuge und andere Garagenutensilien, aber mir fiel vor allem das Sportequipment auf, das unter der Treppe verstaut war. Da gab es Schneeschuhe, Skier, zwei Surfbretter, ein paar Wakeboards und vieles andere. Ich entdeckte Behälter mit Basketbällen, Fußbällen, Volleybällen – ich kam mir vor wie in einem Sportgeschäft.

»Sieht nicht aus, als würdest du dich langweilen«, stellte ich fest, als wir die Treppe hinaufgingen. Er lachte.

Ich folgte ihm in einen voll eingerichteten Freizeitraum. An der gegenüberliegenden Wand war eine Bar aus dunklem Holz mit einer flachen Steinplatte, reich bestückt, mit passenden Barhockern. Links davon standen eine überdimensionale braune Ledercouch und ein Fernsehsessel vor einem großen Flachbildfernseher. Mehrere Videospiele und entsprechende Geräte lagen auf dem Boden. Ich fragte mich, ob alle reichen Kinder auf der Weslyn High so gut ausgestattet waren wie Sara und Evan.

An einer Seite des Raums war ein Pooltisch aufgebaut, der von verchromten Büchsenlampen beleuchtet wurde. Drum herum gab es jede Menge Platz, den Queue zu manövrieren, ohne gegen eine Wand zu stoßen. Rechts von der Tür hing ein Dartboard an der Wand, links waren zwei Kickertische, dahinter wieder eine geschlossene Tür. Die tiefrotgestrichenen Wände und die freigelegten Balken an der schrägen Decke verliehen dem Raum eine maskuline Aura, die von den gerahmten Rockkonzert-Postern noch betont wurde. Darauf waren Bands aus mindestens zwei Jahrzehnten zu sehen.

»Mit dieser Methode versucht meine Mutter, meinen Bruder öfter nach Hause zu locken«, erklärte Evan, während er langsam zur Bar ging. »Dieser Raum ist also mehr für ihn als für mich gedacht. Mein Zeug ist im anderen Zimmer.« Er deutete mit einem Kopfnicken zu der geschlossenen Tür.

Dann stellte er die Anlage hinter der Bar an, und sofort dröhnte aus den strategisch angebrachten Lautsprechern Musik. Er drosselte die Lautstärke etwas, damit wir einander noch verstehen konnten.

»Die hab ich noch nie gehört«, bemerkte ich, nachdem ich eine Weile der Rockband gelauscht hatte, die einen unverkennbaren Reggae-Einschlag hatte. »Gefällt mir.«

»Ich hab sie bei einem Konzert in San Francisco gesehen und mochte sie sehr. Wenn du mir deinen iPod gibst, kann ich sie dir runterladen.«

»Gern.«

»Wollen wir es erst mal mit den Darts probieren?«, schlug er vor und ging zu der Ecke, in der das Dartboard hing. Während er die Darts aus dem Brett zog, setzte ich mich auf einen der Barhocker.

»Ich glaube, ich habe bis jetzt nur ein einziges Mal Darts gespielt, und zwar beschissen«, warnte ich ihn. Er gab mir drei Pfeile mit silberfarbenen Federn und behielt die mit den schwarzen Federn selbst in der Hand. Dann stellte er sich auf die Linie, die auf den dunklen Holzboden gemalt war, und warf seine Pfeile ganz locker auf die Zielscheibe. Bei ihm sah das kinderleicht aus, aber ich ließ mich nicht irreführen.

»Wir wärmen uns erst mal ein bisschen auf, dann sehen wir weiter.« Ich ging zu der Linie, und er zeigte mir, wie ich den Dart halten sollte, um ihn kontrollieren zu können. Ich gab mir alle Mühe, es zu begreifen. »Am schwierigsten ist es, sich an das Gewicht des Pfeils zu gewöhnen, aber nur so kannst du den Winkel und die Geschwindigkeit deines Wurfs bestimmen. Dann zielst du und wirfst, schnell und ruhig.« Er tat es, und der Pfeil landete im angepeilten Ziel.

»Du solltest dich lieber nicht in meiner Nähe aufhalten, wenn ich es versuche«, riet ich ihm, und er ließ sich sicherheitshalber auf einem Barhocker nieder. Mein erster Wurf war so schwach, dass ich das Bord komplett verfehlte. Der Pfeil landete in dem schwarzen Brett dahinter.

»Uups, sorry«, sagte ich und verzog das Gesicht. Es würde eine langwierige Angelegenheit werden, wenn ich es noch nicht mal schaffte, die Zielscheibe zu treffen.

»Dafür ist das Schutzbrett ja da. Du bist nicht die Erste und wirst garantiert auch nicht die Letzte sein, die mal danebentrifft«, versicherte mir Evan. »Wir spielen nicht richtig, bis du dich sicher fühlst. Versuch es noch mal.« Den nächsten Pfeil warf ich mit etwas mehr Schwung, und er landete auf Nummer 20 – zwar nicht in dem Punktebereich, sondern auf der Zahl selbst, aber immerhin.

»Na, wenigstens habe ich das Board getroffen«, meinte ich optimistisch. Evan lachte und sammelte die Darts ein.

Wir spielten noch drei Runden, und schließlich traf ich konstant den Bereich innerhalb des farbigen Rings. Zwar war es nicht immer genau das Ziel, das ich angepeilt hatte, aber ich wurde eindeutig besser. Selbst die Würfe, die fast – oder auch deutlich – danebengingen, verunsicherten mich nicht. Dank Evans Geduld und seinen guten Tipps fiel mir das nicht mal schwer. Ich hatte tatsächlich Spaß.

Dann spielten wir eine Runde Cricket. Um die unterschiedlichen Voraussetzungen etwas auszugleichen, ließ ich Evan zwei Schritte von der Linie zurücktreten. Aber er gewann trotzdem – es war nicht mal knapp. Während des Spiels unterhielten wir uns über Sport, was wir alles schon ausprobiert oder – vor allem in meinem Fall – noch nicht ausprobiert hatten.

»Dann bist du also in allen Sportarten toll, was?«, meinte ich, nachdem Evan mir von seinen Surf- und Kiteboarding-Erlebnissen in allen möglichen Teilen der Welt berichtet hatte.

»Nein, ich probiere alles aus, aber gut bin ich bloß in wenigen Sachen. Mein Bruder beispielsweise spielt deutlich besser Pool und Darts als ich. Im Fußball bin ich ganz ordentlich, aber auch nicht der Beste – das Gleiche gilt für Basketball. Ich glaube, am besten spiele ich Baseball, ich hab einen konstanten Schwung und eine ziemlich gute Reaktionszeit als Shortstop.

Außerdem – ich wette, du wärst mit ein bisschen mehr Erfahrung in den meisten Sachen besser als ich. Fußball spielst du schon mal definitiv besser. Ich hab dich bisher noch nicht beim Basketball gesehen, aber ich hab gehört, dass du einen richtig beeindruckenden Drei-Punkte-Wurf hast.« Als ich ihn so über meine sportlichen Fähigkeiten reden hörte, bekam ich heiße Wangen.

»Ich liebe Fußball, ich mag Basketball, und im Frühling laufe ich gern – nur um etwas zu tun zu haben. Weil ich Mannschaftssport mache, brauche ich nicht am Turnunterricht teilzunehmen, deshalb habe ich auch schon lange nichts Neues mehr ausprobiert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich so gut wäre.«

»Willst du es rausfinden?«

»Was meinst du?«, fragte ich vorsichtig.

»Ich treffe dich morgen in der Bibliothek, dann sehen wir weiter.« Mein Magen krampfte, sobald ich nur ans Lügen dachte. »Oder vielleicht lieber nicht«, verbesserte er sich, als er mein bleiches Gesicht sah.

»Morgen kann ich nicht«, sagte ich leise, doch ehe ich wusste, was ich tat, fügte ich hinzu: »Aber am Sonntag ginge es sicher.« Evans Augen funkelten. Mein Herz nahm wieder Tempo auf.

»Echt?«, fragte er zweifelnd.

»Ja, klar«, bekräftigte ich mit einem Lächeln. »Woran hast du denn gedacht?«

»Magst du die Wurfmaschinen ausprobieren?«

»Baseball? Warum nicht«, antwortete ich achselzuckend.

»Um die Mittagszeit?«

»So gegen zwölf.«

»Großartig.« Jetzt strahlte er übers ganze Gesicht, und mir wurde schwindlig, weil mir das Blut in den Kopf schoss. »Wollen wir jetzt vielleicht was essen? Du hast doch bestimmt Hunger nach deinem jämmerlichen Lunch.«

»Ich könnte schon was vertragen«, meinte ich lässig, ohne auf seine Stichelei einzugehen, und er stellte die Musik aus.

 

Von einem Hocker an der Kücheninsel aus beobachtete ich, wie er Sachen aus dem Kühlschrank und aus den Schränken holte und anfing, Sellerie, Pilze, Huhn und Ananas kleinzuschneiden.

»Was hast du eigentlich vor?«, fragte ich, denn so einen Aufwand hatte ich gar nicht erwartet. Ich hatte eher mit Pizza oder Sandwiches gerechnet.

»Ich will eine Huhn-Ananas-Pfanne kochen«, erklärte er. »Sorry, ich hab dich gar nicht gefragt, ob du irgendwas überhaupt nicht magst. Ist das okay?«

»Aber sicher«, antwortete ich bedächtig. »Du kannst also kochen?« Ich wusste nicht, warum mich das so überraschte. Schließlich hätte ich allmählich an Evan Mathews Unberechenbarkeit gewöhnt sein müssen. Staunend sah ich zu, wie er abmaß, mischte und schnippelte.

»Ich muss oft für mich allein sorgen, deshalb kann ich kochen, ja«, antwortete er, ohne mich anzusehen. »Du also nicht?«

»Seit dem Hauswirtschaftsunterricht in der achten Klasse hab ich es nicht mehr versucht.«

»Hm, eigentlich überrascht mich das.« Mehr sagte er nicht, und ich hatte nicht die Absicht, ihm die Regeln in Carols und Georges Küche zu erläutern.

»Kann ich dich was fragen?«, platzte ich heraus, ohne richtig darüber nachzudenken, was ich sagen wollte. Allmählich wurde mir das zur Gewohnheit, und es verschlimmerte die Lage für mein Herz und meinen Kopf eher, als dass es sie verbesserte. Wenn ich mit Evan zusammen war, erwischte ich mich ständig, wie ich Dinge preisgab, fragte und billigte, die mein Gehirn in einen Schockzustand versetzten.

»Schieß los.« Evan hielt inne und lehnte sich an die Küchentheke, das Messer in der Hand.

»Kriegst du immer, was du willst?« Er sah mich fragend an, also gab ich der Versuchung nach, es zu erklären. »Ich meine, bist du bei jedem Mädchen so direkt wie bei mir?«

Er kicherte, was überhaupt nicht die Reaktion war, die ich erwartet hatte.

Evan zögerte so lange, dass ich mir schon wünschte, ich hätte nicht gefragt. Aber dann antwortete er lächelnd: »Nein. Normale Mädchen könnten damit nicht umgehen. Die reagieren eher auf Andeutungen und Flirterei. Ich weiß, dass alles, was ich zu einem anderen Mädchen sage, sofort an die beste Freundin und irgendwann an den ganzen Rest der Schule weitergegeben wird, deshalb ist Direktheit in den meisten Situationen nicht angebracht. Aber diese Situation hier ist nicht wie die meisten, und du bist überhaupt nicht wie andere Mädchen.« Damit drehte er sich um und machte sich wieder an die Essensvorbereitungen.

Seine Antwort verblüffte mich zutiefst. Wenn das als direkt galt, war ich froh, kein normales Mädchen zu sein, denn ich hatte auch so bestenfalls die Hälfte von dem verstanden, was er gesagt hatte. Ich wollte jedoch nicht mal den Versuch wagen, es zu verstehen, aus Angst vor noch mehr Verwirrung.

»Okay«, sagte Evan schließlich und ließ, noch immer mit dem Rücken zu mir, das ganze kleingeschnippelte Zeug von seinem Schneidebrett in den Wok auf dem Herd rutschen. »Ich hab auch eine Frage an dich.« Was hatte ich da nur angestoßen – ich seufzte und machte mich innerlich auf alles gefasst.

»Wie kommt es, dass du noch nie ein Date hattest?« Jetzt drehte er sich zu mir um und wartete offensichtlich gespannt auf meine Antwort.

»Warum sollte ich?«, war das Erste, was aus meinem Mund kam.

Evan schwenkte den Inhalt des Woks hin und her. »Das hab ich nicht erwartet«, lachte er. Ich fummelte verlegen an meinem Pullover herum und zuckte die Achseln. Ich musste das Thema wechseln, aber mir fiel nichts Gescheites ein.

»Hat dich schon mal jemand geküsst?«, fragte Evan da auf einmal. Ich sperrte den Mund auf, schon wieder wurde mein Kopf heiß.

»Na, das war ja wirklich direkt«, meinte ich vorwurfsvoll. »Ich glaube nicht, dass ich diese Frage beantworten möchte.«

»Hast du aber schon«, erwiderte er mit einem vielsagenden Schmunzeln. »Gut zu wissen.«

»Lass uns das Thema wechseln«, forderte ich, während sich die Hitze von meinem Gesicht bis hinter die Ohren ausbreitete. »Wo hast du am liebsten gewohnt?«

Er antwortete nicht.

»Evan?«

»Was? Sorry, ich hab deine Frage nicht gehört«, gab er zu und schob gedankenverloren die brutzelnden Sachen im Wok herum. »Ich hab nur überlegt, wer es gewesen sein könnte. Aber wenn es einer von der Schule war, hätte ich das bestimmt inzwischen erfahren. Ist er vielleicht auf dem College?« Er lehnte sich an die Theke, um mich zu taxieren, als könnte er die Antwort an meinem knallroten Gesicht ablesen.

»Du vergisst schon wieder die Grenze«, erinnerte ich ihn.

»Was? Aber jetzt geht es doch gar nicht um dich und mich«, verteidigte er sich. »Ich dachte, so was erzählt man sich, wenn man befreundet ist. Ich verrate dir auch, mit wem ich meinen ersten Kuss hatte, wenn dir das ein besseres Gefühl gibt.«

»Nein, nicht wirklich«, erklärte ich. »Es interessiert mich nicht, und ich werde deine Frage über meine privaten Erfahrungen auch nicht beantworten. So gut befreundet sind wir nun auch wieder nicht.«

»Aber du hast schon jemanden geküsst – damit hatte ich recht, oder?«

Ich starrte ihn an. »Und wenn schon? Was für eine Rolle spielt es denn, ob ich schon mal jemanden geküsst habe oder nicht?«

»Aber du hattest noch nie ein Date«, sinnierte er, als wäre das ein Rätsel, das er zu lösen versuchte. Wenn er glaubte, die Antwort würde eine Überraschung enthüllen, stand ihm definitiv eine Enttäuschung bevor. Zum Glück war das Essen fertig, und er stellte zwei gefüllte Teller auf die Theke.

»Das ist echt gut«, stellte ich schon nach dem ersten Bissen fest. Endlich konnte ich das Thema wechseln, und zum Glück musste ich nicht mal lügen, denn es schmeckte mir wirklich. Obwohl es mir ganz und gar nicht gefiel, ständig von Evan beeindruckt sein zu müssen.

»Danke«, meinte er abwesend. Vermutlich dachte er immer noch über das nach, was ich vorhin gesagt hatte.

»Können wir das Thema jetzt bitte auf sich beruhen lassen?«, bettelte ich.

»Klar, aber irgendwann wirst du es mir sagen.«

»Ich verstehe überhaupt nicht, warum du das wissen willst.« Leider war der Satz bereits über meine Lippen gekommen, bevor mir klarwurde, dass ich damit genau das Thema forcierte, das ich so gerne ad acta legen wollte.

»Ich versuche immer noch, aus dir schlau zu werden«, sagte Evan.

»Spar dir die Mühe, ich bin nicht so interessant.« Evan reagierte nicht, sondern blickte mit seinem verschmitzten Grinsen auf den Teller und spießte mit der Gabel ein Stück Huhn auf.

Beim Essen schaffte ich es endlich, das Gespräch auf die Frage zurückzulenken, wo Evan am liebsten gewohnt hatte. Er beschrieb ausführlich, was er an den verschiedenen Städten und Ländern mochte und was nicht. Ich atmete auf. Endlich war ich seiner Fragerei entkommen, bei der ich unweigerlich viel zu viel von mir preisgab. Während er von einem Ski-Trip erzählte, den er vor ein paar Jahren mit seinem Bruder in der Schweiz gemacht hatte, half ich ihm beim Abwasch. Wo er mit seinen siebzehn Jahren schon überall gewesen war und was er alles erlebt hatte, faszinierte mich, vor allem weil ich im Gegensatz zu ihm noch nie über die Grenzen von New England hinausgekommen war.

»Hast du den Führerschein?«, fragte Evan, als wir uns wieder an der Theke niederließen.

»Nein, noch nicht«, gestand ich.

»Wie alt bist du denn?«

»Sechzehn.«

»Du bist erst sechzehn?« Er machte einen überraschten Eindruck.

»Oh, dann weißt du anscheinend doch noch nicht alles über mich, was?«, witzelte ich. »Ich hab in der Grundschule eine Klasse übersprungen. Im Juni hatte ich Geburtstag, aber ich war zu beschäftigt mit der Schule, um den Führerschein zu machen.«

Das war natürlich eine Riesenlüge. Damit ich die Fahrerlaubnis erhalten konnte, musste mein Vormund einen zweistündigen Eltern-Kurs besuchen – und das würde niemals passieren. Carol und George brauchten sich nicht darum zu bemühen, mich von einem Ort zum anderen zu fahren – was juckte es sie also, ob ich den Führerschein hatte oder nicht? Außerdem – was hätte er mir genutzt, ich konnte mir sowieso kein Auto leisten.

»Kannst du denn fahren?«

»Sara hat versucht, mir auf leeren Parkplätzen die Grundlagen beizubringen. Sie möchte mit mir auch auf der Straße fahren, aber ich würde sterben, wenn etwas mit ihrem Auto passiert. Wenn wir erwischt werden und sie ihren Führerschein verliert, wäre das für uns beide blöd.«

»Hat sie Automatik oder Gangschaltung?«

»Automatik.«

»Das wundert mich. Möchtest du gern lernen, mit Gangschaltung zu fahren?«

»Heute nicht«, antwortete ich rundheraus.

»Dann an einem Bibliothekstag?«, schlug er vor.

»Vielleicht«, meinte ich zögernd. Wie viele Bibliotheks-Events plante er denn? Der Gedanke, erwischt zu werden, verursachte mir Magenschmerzen. Schlimm genug, dass ich mich bereit erklärt hatte, am Sonntag mit ihm zu den Wurfmaschinen zu gehen. Noch mehr Exkursionen konnte ich auf gar keinen Fall riskieren.

»Willst du mir deinen iPod geben, und ich lade die Musik für dich runter, die wir vorhin gehört haben?«

»Es würde mir echt was ausmachen, übers Wochenende ohne meine Musik auskommen zu müssen – eigentlich brauche ich sie auch vor dem Spiel heute.« Ich kramte in meinem Rucksack und überlegte, ob ich ihm das Gerät geben sollte oder nicht.

»Ich kann dir so lange meinen leihen«, bot er spontan an. Tauschten wir jetzt schon unsere persönlichen Besitztümer aus? Die im Grunde einfache Geste fühlte sich ganz danach an. Vielleicht interpretierte ich aber auch nur zu viel hinein. Entspann dich. Es war doch nur Musik.

»Okay.« Ich gab ihm meinen grellgrünen Player und bekam dafür seinen schwarzen. Vielleicht war es nur Musik, aber mein Herz pochte so wild, als hätten wir gerade Ringe getauscht.

»Ich muss mich langsam fertig machen für das Spiel. Bist du so nett, mir das Bad zu zeigen, damit ich mich umziehen kann?«

»Klar.«

Ich folgte ihm in einen hellgelbgestrichenen Raum, der elegant möbliert war. Es gab dort eine weiße, mit hellblauem Samt bezogene viktorianische Couch sowie dazu passende Stühle. Ein kleiner, aber wunderschöner Kristalllüster hing über einem antiken Couchtisch, das Panoramafenster gewährte einen Ausblick über den gesamten Vorgarten. Der Raum öffnete sich zu einem Empfangsbereich bei der Haustür. Dort standen auf einem kleinen Tisch an der Wand ein bunter Blumenstrauß und dicht daneben ein Foto von vier Leuten – vermutlich die Familie Mathews.

Durch einen langen Korridor, der von dem eleganten Raum abging, gelangten wir zu einer Tür. »Der Lichtschalter ist drinnen rechts«, erklärte Evan. »Ich bin dann in der Küche.«

»Danke«, antwortete ich, dann schloss ich die Tür, ließ mich dagegenfallen und starrte auf das Mädchen im Spiegel, das mich mit erhitzten Wangen anstrahlte. Sie wirkte so … glücklich.