11 diE BibLiotHek
Ich kniete vor dem Kühlschrank und wischte die hintere Wand sauber, als mir ein grausamer Hieb die Luft aus den Lungen presste. Ich stöhnte vor Schmerz laut auf, ging zu Boden und hielt mir den Bauch. Tränen schossen mir in die Augen. Verzweifelt rang ich nach Atem.
Da ich nicht wusste, ob mich eine weitere Attacke erwartete, rollte ich mich zusammen, die Knie schützend an den Körper gezogen. Über mir stand Carol und schwang Jacks Aluminium-Baseballschläger. Wütend starrte sie auf mich herab. Ich drückte mich an den Kühlschrank, als könnte ich mich vor ihr verstecken.
»Du bist ein Nichts. Ein wertloses, nutzloses Stück Nichts. Glaub nur nicht, dass aus dir jemals etwas anderes wird als eine jämmerliche Schlampe.« Damit drehte sie sich um und ging.
Ganz allmählich bekam ich wieder Luft und konnte etwas leichter atmen. Ich rappelte mich zitternd auf, wischte mir die Tränen vom Gesicht und hielt mir den Bauch. Gedankenlos räumte ich den Kühlschrank ein und ging dann ins Badezimmer.
Rote nasse Augen starrten mir aus dem Spiegel entgegen, dumpf studierte ich das blasse Bild. Langsam ausatmend versuchte ich, meine bebenden Gliedmaßen wieder in den Griff zu bekommen, dann spritzte ich mir mit den Händen kaltes Wasser ins Gesicht, eine Wohltat. Die Wut, die in mir aufstieg, unterdrückte ich entschlossen, füllte stattdessen meine Lungen mit einem weiteren beruhigenden Atemzug und erinnerte mich daran, dass ich nicht für immer hier leben würde. Dann kehrte ich in die Küche zurück, um meine häuslichen Pflichten zu erfüllen.
Als ich mich am nächsten Morgen im Bett aufrichtete, blieb mir erneut die Luft weg, und ich fasste mir keuchend an den Bauch. Er schmerzte, als hätte ich ungefähr tausend Situps gemacht. Aber ich würde trotzdem in die Bibliothek gehen. Den ganzen Tag im Haus zu bleiben kam nicht in Frage.
Natürlich hinderten Carol und George mich nicht im Geringsten am Weggehen. Ich war sicher, dass sie mich ebenso dringend aus dem Haus haben wollten, wie ich darauf brannte, es zu verlassen. Ich versprach, zum Abendessen um sechs wieder da zu sein, und machte mich mit meinem Fahrrad auf den Weg. Die Bewegung war für meine empfindliche Muskulatur zwar eine Qual, aber ich hielt durch und schaffte es irgendwann sogar, den Schmerz auszublenden – eine Fähigkeit, die ich mir im Lauf der Jahre erfolgreich angeeignet hatte.
Als ich mich der Bibliothek näherte, schlug mein Herz nicht nur vor Anstrengung schneller, sondern auch, weil ich mich ehrlich darauf freute, Evan zu sehen. Eigentlich hätte ich Angst davor haben müssen, erwischt zu werden, aber ich wusste ja nicht erst seit gestern Abend, dass Schmerzen unvermeidlich waren, ganz gleich, ob ich etwas Verbotenes tat oder nicht. Da war es doch besser, sich die Strafe auch zu verdienen. Ich schloss mein Fahrrad an den Ständer vor dem Gebäude und rannte die Treppe hinauf. Ehe ich hineinging, entdeckte ich Evan, der schon an der Hauswand lehnte.
»Hi«, sagte er und grinste mich an.
»Hi«, antwortete ich, und mein Herz legte eine noch schnellere Gangart ein. Ihn hier stehen und auf mich warten zu sehen bestätigte mir nur noch einmal, dass es das Risiko wert war.
»Na, bist du bereit, ein paar Bälle zu schlagen?«
»Ich bin zu allem bereit«, verkündete ich und folgte ihm die Treppe hinunter zu seinem Auto.
»Zu allem, was?«, wiederholte er und öffnete die Autotür für mich.
Ich zögerte und sah ihn direkt an, ehe ich ins Auto kletterte. »Ja, zu allem«, bestätigte ich dann und lächelte.
Seine graublauen Augen blitzten, und er erwiderte mein Lächeln – natürlich ohne eine Ahnung davon zu haben, was ich wirklich meinte.
»Okay«, sagte er und schlug die Tür hinter mir zu.
»Wie war dein Samstag?«, fragte er, als wir die Bibliothek hinter uns ließen.
»Ereignislos. Und wie war deiner?«
»Ich war in New York bei einem Benefizdinner meiner Mutter. Also auch ereignislos.«
»Klingt ganz danach«, meinte ich sarkastisch. Er grinste.
Als wir beim Sportgelände ankamen, hörten wir schon quer über den Parkplatz das klackende Geräusch von Aluminiumschlägern, die auf Bälle trafen. Und woanders wurde anscheinend Golf gespielt.
»Ist dir kalt?«, fragte Evan.
»Nein, es ist richtig schön heute«, erwiderte ich. Warum fragte er mich so etwas?
»Ich dachte, du hättest gerade gefröstelt.«
»Nein, alles in Ordnung«, winkte ich ab. Mir war nicht aufgefallen, dass mein Körper auf das Geräusch reagiert hatte.
Wir gingen zum Büro, um uns Helme und Schläger zu holen.
»Hast du schon mal Baseball gespielt?«, fragte Evan, als wir neben den Softball-Käfigen standen.
»Nur in der Grundschule«, gestand ich.
»Dann zeig ich es dir besser erst mal, bevor du es selbst versuchst.« Evan ging weiter zum etwas schwierigeren Baseball-Bereich. »Ich fange hier an, damit ich dir erklären kann, was du tun musst, und dann probierst du es in der langsameren Softball-Maschine.«
»Ich würde lieber in der Baseball-Maschine bleiben.«
»Auch gut«, stimmte er sofort zu. »Kannst du das mal für mich halten?« Er zog die Jacke aus und gab sie mir. Während ich sie faltete und über meinen Arm legte, konnte ich nicht umhin, seinen dezenten sauberen Duft wahrzunehmen. Mein Herz sauste los, und ich musste tief Luft holen.
Ehe er die Münzen einwarf, stellte er sich in Schlagposition, erklärte mir die richtige Haltung und den richtigen Griff, dann demonstrierte er einen Schwung mit dem Schläger. Ich hörte zu, so gut ich konnte, aber immer wieder schweifte ich in Gedanken ab und beschäftigte mich mit seinen schlanken Muskeln, die sich unter seinem Shirt abzeichneten. Aber dann schüttelte ich meine Träumerei ab und konzentrierte mich wieder auf das, was er sagte. Schließlich bezahlte er, und schon begannen ihm die Bälle entgegenzufliegen.
Die meisten der mechanischen Würfe traf Evan problemlos. Ich beobachtete, wie die Bälle über das Netz zum hinteren Teil des eingezäunten Bereichs segelten. Nur wenn er mir erklärte, wie man den Schläger möglichst gleichmäßig schwang, oder er eine Bemerkung darüber machte, dass man den Ball unbedingt im Auge behalten müsse, verpasste er gelegentlich einen Wurf. Die Bälle sausten mit so schwindelerregender Schnelligkeit auf ihn zu, dass ich nicht mal wusste, wie er sie überhaupt sehen, geschweige denn im Auge behalten konnte.
Als die Runde vorbei war, gingen wir hinüber zu einer der langsameren Wurfmaschinen. Evan begleitete mich in das Kabuff, um mich einzuweisen, und ich ahmte seine Haltung nach, so gut ich konnte. Er stellte sich hinter mich und legte die Hände auf meine Hüften, um den Schlagwinkel zu justieren. Dann schlang er die Arme um meine Schultern, griff nach dem Schläger und legte seine Hände auf meine. Zwar strengte ich mich an zu verstehen, was er mir dabei sagte, aber hauptsächlich hörte ich mein in der Brust hämmerndes Herz, während sein Atem meinen Nacken kitzelte. Evan ermahnte mich, die Ellbogen nach oben zu nehmen und vollführte dann behutsam einen langsamen Schwung mit mir. Dabei presste sich sein warmer Brustkorb an meinen Rücken, und wieder zog mich sein sauberer, beinahe süßer Duft in Bann.
»Fertig?«, fragte er und trat einen Schritt zurück.
»Klar«, antwortete ich benommen. Mir war nicht bewusst gewesen, dass er seine Instruktionen beendet hatte.
»Ich stell mich hier in die Ecke, damit ich deinen Schwung korrigieren kann.«
»Bist du sicher, dass das geht? Ich will dich ja nicht bewusstlos schlagen.« Er lachte und sagte, das würde er schon zu verhindern wissen. Dann drückte er auf den Schalter, der die Würfe in Gang setzte. Der erste Ball flog an mir vorbei, bevor ich Zeit hatte zu reagieren.
»Ich dachte, das sollen langsame Schläge sein«, rief ich vorwurfsvoll.
»Konzentrier dich auf den Ball«, erklärte Evan geduldig. Ich sah, wie der nächste Ball aus der Maschine kam, und schwang den Schläger. Diesmal traf ich den Ball immerhin am Rand, und er schnellte direkt vor mir in die Luft. Zwar brannte die Drehbewegung wie Feuer in meinen empfindlichen Bauchmuskeln, aber ich verzog keine Miene, denn ich war entschlossen, mir von den Schmerzen nicht den Tag verderben zu lassen.
»Genau!«, lobte Evan. Nach einigen weiteren Schwüngen mit ein paar schwachen Treffern bezahlte er noch eine Runde, blieb aber nicht im Käfig, sondern setzte sich draußen auf eine Bank.
Mit jedem Pitch wurde ich besser, allmählich fand ich meinen Rhythmus. Bald segelten die Bälle schwungvoll durch die Luft. Natürlich schaffte ich keine ganz so weiten Schläge wie Evan, aber wenigstens traf ich mein Ziel.
»Schon viel besser«, sagte er anerkennend. Ich genoss die Bewegung und merkte, dass jedes Mal, wenn der Schläger den Ball berührte, meine Anspannung schwand und auch die Schmerzen ein bisschen nachließen.
»Das war toll«, bemerkte Evan, als wir zu den schnelleren Wurfmaschinen weitergingen. »Du hast es schnell begriffen, aber ich hab eigentlich auch nichts anderes erwartet.«
Nachdem wir beide ein paar Runden geschlagen hatten, schlug Evan vor, uns einen Burger aus dem kleinen Restaurant neben dem Büro zu holen.
»Was möchtest du nächstes Wochenende lernen?«, fragte Evan, als er das Tablett mit dem Essen auf den Tisch stellte. »Golf?«
»Golf interessiert mich eigentlich nicht«, gab ich zu. »Und ich weiß auch nicht, ob wir für nächstes Wochenende schon Pläne machen sollten.«
»Aber wenn wir etwas unternehmen könnten, was würdest du dann gerne machen?«, hakte er nach. Plötzlich leuchteten seine Augen auf. »Ich weiß genau das Richtige.« Ein verschmitztes Grinsen erschien auf seinem Gesicht.
»Was denn?«, fragte ich vorsichtig.
»Das verrate ich dir nicht, aber es wird dir garantiert gefallen.«
Ich kniff die Augen zusammen und musterte sein selbstzufriedenes Gesicht.
»Oh, ich hab übrigens deinen iPod im Auto. Du hast eine sehr interessante Musikauswahl. Wenn ich die Playlist durchgeschaut hätte, ohne zu wissen, wem sie gehört, hätte ich gedacht, sie stammt von einem Jungen. Na ja, mit einer Ausnahme …«
»Der Song ist ideal, wenn ich nicht einschlafen kann«, erklärte ich hastig und wurde rot.
»Er ist sehr …« Evan zögerte und suchte nach dem richtigen Wort.
»… beruhigend«, fiel ich ihm ins Wort.
»Klar.« Er lachte. »Er sorgt für eine gewisse Stimmung, sagen wir es doch mal so.« Mein Gesicht wurde immer röter.
Als wir später im Auto saßen und zur Bibliothek zurückfuhren, stellte Evan eine der Fragen, auf die ich mich bereits gefasst gemacht hatte. »Warum wohnst du eigentlich bei deiner Tante und deinem Onkel?« Mein Herz setzte einen Schlag aus, aber ich wusste, dass es ihn nur noch neugieriger machte, wenn ich der Antwort auswich.
»George ist der Bruder meines Vaters«, begann ich. »Mein Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich sieben war, deshalb haben George und seine Frau Carol mich bei sich aufgenommen.«
»Was ist mit deiner Mutter?« Mir war klar, dass seine Fragen nicht aufdringlich gemeint waren, aber sie holten mich von unserem Ausflug mit einem Schlag in die unvermeidliche Wirklichkeit zurück.
Also atmete ich tief durch und antwortete ihm ehrlich und knapp, in einem Ton, als läse ich aus einer Zeitung vor. Ohne emotionalen Bezug, ohne jegliches Gefühl – nur die Wahrheit, in ihrer einfachsten Form.
»Nach dem Tod meines Vaters ist meine Mutter krank geworden und konnte nicht mehr für mich sorgen.«
»Oh, das tut mir leid«, antwortete Evan aufrichtig. Ich zwang mich zu einem Lächeln und ließ sein Mitgefühl an mir abperlen. Ich wollte sein Mitleid nicht, es machte mich unruhig.
Schon vor langer Zeit hatte ich akzeptiert, dass der Tod meines Vaters und der Absturz meiner Mutter unverbrüchlich zu meinem Leben gehörten – ich konnte der Trauer darüber nicht nachgeben. Deshalb weigerte ich mich, Selbstmitleid zu empfinden oder von anderen Menschen Mitleid für meine Lage zu erhalten. Außerdem musste ich mich auf die Gegenwart konzentrieren – was beinhaltete, Carols Zorn zu überleben –, ich konnte es mir nicht leisten, in der Vergangenheit zu leben. Meine Zukunft war das Einzige, was für mich momentan wichtig war.
»Und – hast du morgen ein Spiel?«, fragte ich und versuchte, den Themenwechsel, den ich so dringend brauchte, möglichst locker klingen zu lassen. Bis wir wieder bei der Bibliothek ankamen, unterhielten wir uns über die letzten beiden Wochen der Fußballsaison.
»Bis morgen dann«, sagte ich beiläufig – und weil ich sonst nichts zu sagen wusste.
»Bye«, antwortete er, ehe ich die Autotür schloss. Ich spürte seinen Blick auf mir, als ich zu meinem Fahrrad ging, aber ich schaute nicht zurück, und nach einer Weile fuhr er endlich weg.
Ich radelte nach Hause und traf überpünktlich zum Abendessen ein. Es gab gegrillte Käsesandwiches und Suppe. Ich konnte den Tag mit Evan noch eine Weile nachklingen lassen. In Gedanken spielte ich alles, was ich erlebt hatte, noch einmal durch und brachte es sogar fertig, die strafenden Blicke zu ignorieren, mit denen ich bedacht wurde, als ich mir Suppe nachnahm. Möglicherweise lächelte ich dabei sogar ein wenig.