14 LeeRe

Ich erwachte keuchend, schweißgebadet. Mühsam wälzte ich mich auf die Seite, setzte mich schwer atmend auf die Bettkante und versuchte mich zu orientieren. Mein Rollkragenpulli klebte an meinem entzündeten Rücken, alles, was ich fühlte, waren brennende Schmerzen. Ich schlich ins Badezimmer. Unterwegs hörte ich die Geräusche des Fernsehers – bestimmt saß George in der Küche, trank Kaffee und las die Zeitung.

Behutsam schälte ich mich aus dem Rollkragenpulli. Zum Vorschein kam ein Netz aus geschwollenen Striemen, die sich in unterschiedlicher Länge über meinen Rücken zogen. Zwar waren die Wunden schmal, meistens oberflächlich und zum Teil bereits von Schorf bedeckt, aber durch die Schwellung sahen sie viel schlimmer aus.

So gut ich konnte, schob ich meine Sorgen beiseite und ging unter die Dusche. Ich wünschte mir, ich hätte die Schmerzen zusammen mit dem Schweiß wegwaschen können, der von dem Albtraum noch auf meiner Haut klebte.

Den Rest des Tages blieb ich in meinem Zimmer und zwang mich, meine noch ausstehenden Hausaufgaben fertig zu machen. Dank der Arbeit glitt der Tag an mir vorüber, aber da ich wesentlich unkonzentrierter war als sonst, dauerte alles doppelt so lange.

Am frühen Nachmittag hörte ich Carol und die Kinder zurückkommen. Ich blieb außer Sichtweite, aber dann ging die Tür auf, und Carol stand vor mir.

»Sie müssen merken, dass mit dir alles in Ordnung ist, also sei gefälligst fröhlich, wenn du sie siehst«, verkündete sie mit kalter Stimme. »Und jetzt komm essen.«

Nachdem ich die Starre abgeschüttelt hatte, in die mich ihr plötzliches Auftauchen versetzt hatte, ging ich ins Esszimmer.

»Emma!«, begrüßte Leyla mich und umarmte mich fest. Ich zuckte nicht mit der Wimper, als mich beim Bücken ein brennender Schmerz durchfuhr.

»War es schön bei eurer Oma?«, fragte ich. Strahlend erzählte Leyla von ihren Erlebnissen in Janets Haus.

Als ich merkte, dass Jack mich ansah, lächelte ich ihm beruhigend zu. Nach eingehender Prüfung kam er wohl zu dem Schluss, dass das Lächeln echt war, und erwiderte es. Das Strahlen kehrte in seine Augen zurück, und ich freute mich so darüber, dass mein Lächeln ganz von alleine entspannter wurde.

»Wir waren heute im Aquarium«, platzte er heraus und trug dann seinen Teil zu Leylas begeistertem Bericht über Haie und Seesterne bei.

So saß ich an meinem Platz, aß die von George zubereitete Mahlzeit, richtete aber meine ganze Aufmerksamkeit auf die Geschichten der Kinder. Meine Tante und meinen Onkel sah ich nicht an. Als alle aufgestanden waren, erledigte ich die Hausarbeiten, die von mir erwartet wurden. Doch die Leere in meinem Inneren blieb. Später im Bett lag ich noch lange wach, überlegte, was mich am nächsten Morgen wohl erwarten würde, und versuchte, mich daran zu erinnern, wie ich am schnellsten zur Bushaltestelle kam. Denn ich fürchtete, Sara würde mich nicht abholen.

 

Und Sara war tatsächlich nicht da. Zwar freute ich mich, Evans Auto zu sehen, aber es bedeutete, dass ich Sara noch schlimmer verletzt hatte als angenommen, und das war eine niederschmetternde Erkenntnis.

Ich öffnete die Autotür und wurde mit einem warmen Lächeln empfangen. »Guten Morgen.«

»Guten Morgen.« Ich erwiderte das Lächeln. »Danke, dass du mich abholst. Das weiß ich wirklich zu schätzen.« Als ich einstieg, erfüllte mich sofort wieder sein berauschender sauberer Duft. Eigentlich kein schlechter Start in den Tag.

»Kein Problem«, erwiderte er lässig. Nachdem wir ungefähr eine Minute gefahren waren, meinte er: »Ich hatte angenommen, wir würden uns gestern in der Bibliothek treffen. Ich hatte nämlich einen tollen Plan, mit dem ich dich aufheitern wollte.«

Ich biss mir auf die Lippen. »Tut mir echt leid, das hab ich total vergessen. Es war nicht das beste Wochenende meines Lebens.«

»Verstehe«, meinte er. »Heute scheint es dir aber ein bisschen besserzugehen.«

»Ja, alles in Ordnung«, antwortete ich leise, obwohl mit mir gar nichts in Ordnung sein konnte, wenn Sara nicht mit mir im selben Auto sitzen wollte. Bei dem Gedanken, dass sie mir womöglich nie verzeihen würde, tat mir das Herz weh.

»Wie war das Homecoming-Spiel am Freitag?«, fragte ich und versuchte, einen einigermaßen interessierten Ton anzuschlagen.

»Weslyn hat verloren, aber es war knapp.«

»Bist du dann doch noch zum Ball gegangen?«

»Nein, ich hab mich in New York mit meinem Bruder und ein paar von seinen Freunden getroffen. Wir waren in einer Kneipe und haben uns eine Band aus der Gegend angeschaut.« Dann erzählte er mir von dem Abend und dass ich mir die Band unbedingt anhören und vielleicht ein paar Songs herunterladen sollte. Ich gab mir Mühe, ihm zuzuhören, aber je näher wir der Schule kamen, desto unkonzentrierter wurde ich.

Ich landete erst wieder in der Realität, als er meinte: »Ich muss eine Möglichkeit finden, dich mit nach New York zu nehmen.«

»Was?! Nein – ich komm ganz bestimmt nicht mit nach New York.« Ich drehte mich zu ihm um und sah, dass er hinterhältig lächelte. »Wie nett von dir. Genau das brauche ich heute Morgen – eine Herzattacke.«

»Ich wollte doch nur sehen, ob du mir zuhörst«, gab er zurück.

Nach kurzem Schweigen versuchte er mich aufzumuntern. »Ich verspreche dir, es wird wieder besser.« Mir war natürlich klar, dass er da etwas versprach, von dem er keine Ahnung hatte, aber ich zwang mich trotzdem zu einem dankbaren Lächeln.

An diesem Tag kamen mir die Korridore noch länger und überfüllter vor als sonst – ich hatte das Gefühl, dass ich ewig brauchte, um zu meinem Spind zu gelangen. Mit laut klopfendem Herzen bog ich um die Ecke, aber als ich feststellte, dass niemand an meinem Nachbarspind stand, wurde ich traurig. Eilig sammelte ich meine Bücher zusammen und schlüpfte, ohne jemanden anzuschauen, zur Morgenstunde. Dort ließ ich mich auf dem erstbesten Platz nieder und wartete auf die täglichen Ankündigungen und den Anwesenheits-Check, um danach meinen sicher unerträglich langen Tag beginnen zu können. Aber ich schaffte es nicht, mich umzuschauen, ob Sara auch da war.

Allerdings sah ich sie im Lauf des Tages. Ihre leuchtend roten Haare waren selbst in dem Gewimmel auf den Korridoren gut auszumachen. Meistens war sie in Begleitung von Jill oder Jason. Jetzt wusste ich jedenfalls, dass sie zwar in der Schule war, mir aber gezielt aus dem Weg ging. Ich beobachtete sie aus der Ferne und wünschte mir, sie würde mich anschauen und sehen, wie zerknirscht ich war. Sagen konnte ich es ihr nicht, denn sie war ja nicht nahe genug, um zuzuhören.

Evan begleitete mich zu allen Kursen, sogar zu denen, an denen er gar nicht selbst teilnahm. Wäre mein Herz nicht anderweitig beschäftigt gewesen, hätte es in seiner Gegenwart vermutlich unkontrollierbar geflattert. Er versuchte, mich mit oberflächlichen Gesprächen abzulenken, deren Inhalte mir beim besten Willen nicht im Gedächtnis haften blieben. Als er begriff, dass ich nicht zuhörte, sondern nur höflich nickte, gab er auf.

Ich war so mit meinem eigenen schlechten Gewissen und meiner Trübsal beschäftigt, dass ich nicht darüber nachdenken konnte, wie es sich für ihn anfühlen musste, den ganzen Schultag neben der leblosen Hülle eines menschlichen Wesens herzulaufen. Ich war bestenfalls teilweise vorhanden, die Schuldgefühle fraßen mich langsam, aber sicher von innen her auf.

Nach einer Stunde stummer Qual auf dem Platz neben Sara war ich froh, den Journalistik-Kurs überstanden zu haben.

»Machen wir, dass wir wegkommen.«

»Hä?« Als ich aufblickte, stand Evan schon wieder neben mir.

»Machen wir, dass wir wegkommen«, wiederholte er.

War der Tag etwa schon vorüber?

»In deinem Zustand kannst du nicht mehr hierbleiben. Lass uns deine Sachen holen und zu mir nach Hause fahren.«

Als ich endlich begriff, was er meinte, fragte ich: »Aber hast du nicht Fußballtraining?« Ich wusste, dass der Coach uns Mädchen freigegeben hatte, weil er uns an den drei letzten Tagen vor dem Spiel am Freitag richtig hart rannehmen wollte – aber ich war ziemlich sicher, dass die Jungs bereits im Training waren. Ihr Spiel fand schließlich schon am Donnerstag statt.

»Ich hab einen von den Jungs gebeten, dem Coach zu sagen, ich hätte einen Arzttermin.«

Mir fiel kein Grund ein, seine Einladung auszuschlagen. Also folgte ich ihm zu meinem Spind und warf wahllos Bücher in meine Tasche. Dann begleitete ich Evan zu seinem Spind, aus dem er seine Sachen holte.

Auch die Fahrt zu ihm nach Hause hinterließ keinerlei Spuren in meinem Gedächtnis. Plötzlich wurden wir langsamer und bogen in die Auffahrt ein. Benommen sah ich mich um und fragte mich, wo meine Gedanken auf dem Weg hierher wohl gewesen waren. Hatte Evan womöglich versucht, mit mir zu sprechen? Hatte ich ihm womöglich auch geantwortet?

»Wir sind da«, verkündete er. An der Art, wie seine Stimme die Stille durchschnitt, merkte ich, dass wir höchstwahrscheinlich schweigend nebeneinandergesessen hatten. Vielleicht war ich sogar eingeschlafen.

Mit einem tiefen Atemzug stieg ich aus, aber ehe wir zum Haus gingen, sagte ich: »Evan, ich weiß nicht, ob du heute wirklich mit mir rumhängen willst.«

Er blieb mitten auf der Verandatreppe stehen. »Natürlich will ich das. Komm.«

Ich hätte mich gern dazu gezwungen, freundlich und eine angenehme Gesellschaft zu sein, damit seine Aufheiterungsversuche nicht völlig ins Leere trafen. Doch sosehr ich die Winkel meines Inneren auch absuchte, ich konnte keine auch nur annähernd überzeugende Rolle für mich finden. Also beschloss ich, mein Bestes zu tun und wenigstens nicht vollkommen am Boden zerstört zu wirken.

In der Küche holte Evan zwei Limoflaschen aus dem Kühlschrank und ging dann vor mir den langen Korridor hinunter, der in einen hellen Raum mit einem Klavier und einem eingebauten Bücherschrank führte. Bis auf ein paar große Topfpflanzen war das von Fenstern eingerahmte Zimmer leer, eine hölzerne Wendeltreppe führte zu einer Galerie, von der man den Raum überblicken konnte.

Ich folgte Evan auf die Galerie und von dort zu einer Tür. Der dahinterliegende Raum war dunkel und wesentlich kleiner als Saras Zimmer, aber immer noch locker doppelt so groß wie meines – und es hatte obendrein noch ein eigenes Bad. Sich überlappende Poster von Sportlern und Musikern bedeckten die Wand hinter Evans Bett, in der Ecke gegenüber stand ein einfacher schwarzer Schreibtisch mit einem Drehstuhl, darüber hing eine Pinnwand mit Fotos von Freunden und ein paar zerknitterten Konzert-Tickets. Ein großes Bett beanspruchte die Mitte des Zimmers, gegenüber war eine ebenfalls espressobraune Kommode mit einem Flachbildfernseher. Evan stellte seinen Rucksack neben dem Schreibtisch ab, bediente ein paar Tasten auf seinem Laptop, und sofort erfüllten wohltuende Klänge und Rhythmen den Raum.

»Tut mir leid, aber ich hab keine andere Sitzgelegenheit als das Bett«, sagte er und hielt mir eine der Limoflaschen hin.

Ich blieb stocksteif im Türrahmen stehen. Mein Herz fand in der Höhle, in der es gefangen gehalten wurde, einen neuen Rhythmus. Auf seinem Bett sitzen? Ernsthaft? Langsam ging ich darauf zu und setzte mich auf die Kante, war aber noch nicht bereit, der Matratze auch meine Beine anzuvertrauen.

Evan stopfte sich am Kopfende des Betts ein Kissen in den Rücken und nahm neben mir auf der tiefroten Tagesdecke Platz. Mir war klar, dass ich, wenn ich ihn anschauen wollte, weiter aufs Bett klettern musste. Also streifte ich schließlich doch meine Schuhe ab, rutschte aber ans Fußende und ließ mich dort im Schneidersitz nieder.

»Ich mag es nicht, wenn du so durcheinander bist«, sagte Evan schließlich.

»Sorry«, erwiderte ich leise und blickte auf meine Hände hinunter. Mehr fiel mir nicht ein.

»Ich wollte, ich könnte irgendetwas tun, damit es dir bessergeht. Magst du mir nicht vielleicht erzählen, was passiert ist?« Ich schüttelte den Kopf. Eine Minute schwiegen wir beide und lauschten der beruhigenden Hintergrundmusik.

»Sara redet bald wieder mit dir«, sagte Evan, als wäre das eine Tatsache.

»Ich weiß nicht«, flüsterte ich. Wieder tat mir das Herz weh, wenn ich daran dachte, warum sie es womöglich nicht tun würde. »Ich hab ihr ziemlich scheußliche Dinge an den Kopf geworfen.« Auf einmal waren meine Augen voller Tränen, die ich aber energisch wegzublinzeln versuchte.

Evan rutschte zu mir, legte seine warme Hand auf meine Wange und wischte eine Träne weg, die sich selbständig gemacht hatte.

»Sie wird dir verzeihen«, sagte er leise, dann zog er mich an sich und legte die Arme um mich. Ich vergrub den Kopf an seiner Brust und ließ endlich meinen Tränen freien Lauf. Erst nach einer ganzen Weile nahm ich mich zusammen und richtete mich wieder auf.

»Du erlebst mich immer in meinen besten Momenten, was?« Ich versuchte zu lächeln und hatte auf einmal das Gefühl, mich viel zu weit aus meiner Deckung gewagt zu haben.

»Das ist doch nicht schlimm.«

Ich war nicht sicher, was er damit meinte, beschloss aber, es auf sich beruhen zu lassen.

»Darf ich mal dein Bad benutzen?«

»Klar.«

Ich ging in das kleine Badezimmer, schloss die Tür hinter mir und wusch mir mit reichlich kühlem Wasser die Gefühle vom Gesicht. Im Spiegel sah ich in die hellbraunen Augen, die meinen Blick erwiderten, und ermahnte mich streng, mich zusammenzunehmen. Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, atmete ich noch einmal tief und ruhig durch, dann erst öffnete ich die Tür. Dass der Atemzug auch Evans beruhigenden Duft enthielt, war ein willkommener Nebeneffekt.

Inzwischen saß er wieder am Kopfende des Betts und zappte sich durch die Kanäle auf seinem Flachbildfernseher.

»Hast du immer noch nicht alles ausgepackt?«, fragte ich mit einer Kopfbewegung zu den zwei ungeöffneten Kisten mit dem Etikett »Evans Zimmer«. Eine stand unter dem leeren Bücherregal, die andere unter dem Fenster.

»Es wird allmählich«, antwortete er ausweichend.

»Wie kommt es, dass der Rest des Hauses aussieht, als würdet ihr schon seit Jahren hier wohnen, und du kriegst es nicht mal fertig, ein paar Kisten auszupacken?«

Evan lachte kurz auf.

»Wir beherrschen die Kunst des Umziehens aus dem Effeff. Meine Mutter plant schon vorher genau, wo alles hingestellt, verstaut und aufgehängt werden soll, dann heuern meine Eltern immer die gleichen Umzugsleute an, die nicht nur alles einpacken und ins neue Haus transportieren, sondern dort auch alles wieder auspacken und aufbauen. Wir kommen rein, und alles ist fertig. Nur meine Sachen fassen sie nicht an.«

»Und …?«, hakte ich nach, denn ich wollte unbedingt, dass er mir den Grund für seine zugeklebten Kisten erklärte.

»Na ja … ich hab noch nicht endgültig entschieden, ob ich bleibe.« Irgendein Gefühl schoss durch mich hindurch – ich wusste nicht, was es war, aber es fühlte sich ein bisschen an wie Panik.

»Oh«, brachte ich nur heraus.

»Hast du Lust auf einen Film?«

»Klar.« Ich ging zur freien Seite des Betts, stopfte mir das zweite Kissen in den Rücken und setzte mich neben Evan.

Er wählte einen Actionfilm aus seiner digitalen Filmbibliothek. Aber es dauerte nicht lange, da wurden meine Augenlider schwer. Nach einer Weile kapitulierte ich und überließ mich dem Schlaf.

»Emma«, flüsterte Evan mir ins Ohr. Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass seine Stimme real war. »Em, der Film ist vorbei.« Seine Stimme klang viel zu nah.

Ich riss die Augen auf. Mein Kopf war in seine Schulterkuhle gerutscht, sein Arm ruhte oben auf meinem Kissen. Schnell richtete ich mich auf und blinzelte angestrengt den Schlaf weg.

»Sorry, ich wollte eigentlich nicht den ganzen Film verpennen.« Ich streckte die Arme über den Kopf, in der sicheren Erwartung, dass ich mich versteift hatte, aber zu meiner Überraschung tat nichts weh.

»Ist doch okay«, erwiderte er lachend. »Aber ich glaube, du hast auf mein Hemd gesabbert.«

Mir blieb der Mund offen stehen. »Hab ich gar nicht.«

»Nein, war nur ein Witz.« Er lachte noch lauter.

»Du bist so ein Idiot«, schimpfte ich und warf ihm ein Kissen an den Kopf.

Evan fing das Kissen und schleuderte es postwendend zu mir zurück. Ich sprang auf und griff mir das Kissen hinter ihm, schwang es über den Kopf und traf seinen Rücken. Aber er riss mir die Beine weg, und ich kippte aufs Bett, was meinem Rücken gar nicht guttat. Er fing an, mein Gesicht mit dem Kissen zu bearbeiten.

»Das ist geschummelt«, protestierte ich unter dem Kissen hervor und versuchte, den Schmerz zu verdrängen. »Tackling gilt nicht.«

»Mach es doch auch«, schlug er vor.

»Na gut.« Ich stürzte mich auf ihn und schubste ihn mit aller Kraft. Als er auf den Rücken fiel, setzte ich mich auf seinen Brustkorb und klemmte mit den Knien seine Arme fest. Dann schwang ich wieder mein Kissen, und diesmal traf es ihn ins Gesicht.

»Oh, jetzt wirst du gemein«, grunzte er, zog aber fast mühelos seine Arme unter mir hervor und drehte mich auf den Rücken. Die Hände rechts und links von meinem Kopf aufgestützt, sein Körper noch immer zwischen meinen Knien liegend, schaute er grinsend auf mich herab. Ich spürte seinen warmen Atem im Gesicht, und das Brennen auf meinem Rücken verschwand. Doch dann fiel uns beiden gleichzeitig auf, wie nahe wir uns waren und dass niemand mehr ein Kissen in der Hand hatte. Ich hielt die Luft an und sah mit großen Augen zu ihm empor. Langsam verblasste sein Grinsen.

»Wollen wir eine Runde Pool spielen?«, fragte ich schnell und rollte mich unter ihm hervor, während er sich zur Seite fallen ließ. In einer fließenden Bewegung stand ich auf, packte meine Schuhe und verließ hastig das Zimmer. Evan sah mir vom Bett aus nach, immer noch seitlich auf den Ellbogen gestützt, aber ich flitzte die Treppe hinunter, so schnell ich konnte.

Mit erhitzten Wangen erschien er schließlich bei mir in der Küche.

»Möchtest du ein Wasser?«, fragte er und öffnete den Kühlschrank.

»Gern«, antwortete ich, aber jetzt konnte ich den Schmerz auf meinem Rücken nicht mehr verdrängen, den die Kissenschlacht verursacht hatte. »Können wir vielleicht stattdessen Darts spielen?«, fragte ich, und während er mir den Rücken zuwandte, schluckte ich mit dem Wasser schnell zwei Ibuprofen, die ich mir heute Morgen in die Tasche gesteckt hatte.

»Auch gut«, meinte Evan und studierte einen Moment mein Gesicht. Ehe er den Schmerz erkennen konnte, der in meinen Augen aufblitzte, verzog ich das Gesicht schnell zu einem Grinsen. Er erwiderte es, und ich folgte ihm in die Garage.

Nach ein paar Übungsrunden wanderten meine Gedanken wieder zu den unausgepackten Kisten in seinem Zimmer.

»Ich dachte, es gefällt dir hier?«, meinte ich und sah, wie er vor seinem nächsten Wurf zögerte.

»Was meinst du damit?«

»Du hast gesagt, du weißt nicht, ob du bleibst, und deshalb hast du die Kisten nicht ausgepackt.«

Evan hielt inne, ehe er seinen letzten Pfeil warf, und drehte sich zu mir um. »Hast du Angst, du würdest mich vermissen?«, erkundigte er sich mit einem schiefen Grinsen.

Missbilligend zog ich die Augenbrauen hoch und weigerte mich, ihm darauf eine Antwort zu geben.

»Mir gefällt es hier«, lenkte er nach seinem Wurf ein. »Ehrlich gesagt, hab ich noch nirgends mein ganzes Zeug ausgepackt. Sogar nach den zwei Jahren in San Francisco standen noch unausgepackte Kisten rum.«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er nachdenklich. »Vielleicht war ich nie vollständig davon überzeugt, dass ich bleibe – und ich hatte recht. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet: Würde es dir was ausmachen, wenn ich wegginge?«

Ich zuckte die Achseln. »Ich würde es überleben«, meinte ich lächelnd, unfähig, mich diesem Thema ernsthaft zu widmen.

»Jetzt bist du der Idiot«, meinte er. »Aber keine Sorge, ich werde nicht mit Pfeilen nach dir werfen.«

Der restliche Nachmittag verging mit Darts und Kicker, und schließlich hatten sich auch die brennenden Schmerzen zu einem leichten Simmern abgekühlt. Noch immer gewann Evan jedes Spiel, aber er schien beeindruckt zu sein, weil es manchmal schon ziemlich knapp ausging. In seiner Gegenwart konnte ich meine Angst in Schach halten, und ich war ihm dankbar, dass er mir geholfen hatte, dem Rest des Schultages zu entfliehen. Es war so hart, in Saras Nähe zu sein und zu wissen, wie wütend sie auf mich war. Aber nach Hause zu gehen war noch schlimmer.

Meine Stimmung kippte, als ich in Evans Auto stieg. Natürlich bemerkte er es, aber er sagte nichts, um mich abzulenken, und so bereitete ich mich in der Stille auf die Spannungen vor, die zu Hause immer noch schwelten.

»Bis morgen dann«, sagte Evan leise, als ich die Autotür öffnete. Ich nickte und hielt inne, um ihn anzuschauen.

»Danke für den Nachmittag.« Ich lächelte ihn etwas zaghaft an, und er lächelte zärtlich zurück.

»Wessen Auto war das?«, fragte Carol, als ich durch die Tür trat.

»Saras Auto ist gerade in der Inspektion«, log ich. Vor lauter Angst, sie könnte mich durchschauen, schoss ein nervöses Zucken von meinem Bauch hinauf in meine Brust. Aber ich überprüfte nicht, ob meine Befürchtung stimmte, sondern ging schnell in mein Zimmer.

 

Als ich am nächsten Morgen die Auffahrt hinunterging und Evans Auto entdeckte, reagierte ich mit den gleichen gemischten Gefühlen. Langsam begriff ich, wie unwahrscheinlich es war, dass Sara mir verzieh. Und ich konnte ihr keinen Vorwurf machen, ich war wirklich grausam zu ihr gewesen. Außerdem – warum sollte ihr etwas daran liegen, sich weiter mit meinem irren Leben zu beschäftigen? Ich war doch selbst nicht sicher, wie ich es aushalten sollte.

Ich wusste, ich würde zu Evan niemals dasselbe Vertrauen haben wie zu Sara – ich kämpfte ja immer noch damit, unsere momentane Nähe überhaupt zuzulassen. Vermutlich war es ziemlich egoistisch von mir gewesen, ganz selbstverständlich davon auszugehen, dass Sara immer für mich da sein würde. Wir kamen aus verschiedenen Welten, es war unvermeidlich, dass sie irgendwann zusammenprallten. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen.

Evan erlaubte mir zu trauern, ohne sich einzumischen. Er begleitete mich durch das Gewimmel auf den Korridoren zu meinen Kursen, und irgendwie überstand ich den Tag. Die Unterrichtsstunden rauschten zusammenhanglos an mir vorüber. Die Minuten schlichen dahin, die Leere breitete sich immer mehr aus. Irgendwann verschwand auch Evan, und es wäre mir gar nicht weiter aufgefallen, wenn ich ihn auf dem Weg zu meinem Spind nicht plötzlich dort stehen gesehen hätte.

Er hatte mir den Rücken zugewandt und redete mit jemandem. Und er machte einen aufgeregten Eindruck. Dann entdeckte ich die rote Haarmähne. Gegen meinen Willen trugen meine Füße mich trotzdem weiter. Ich konnte die Stimmen nicht hören, aber Sara sah so traurig aus. Evans Gesten wirkten flehend.

Dann hörte ich: »Sara, bitte erzähl mir, was passiert ist. Sie ist fix und fertig, und ich muss endlich verstehen, warum.«

»Wenn sie es dir nicht selbst erzählt hat, kann ich es dir auch nicht erzählen.«

Dann entdeckte sie mich, und ich blieb wie angewurzelt stehen, unfähig zu verarbeiten, was hier vor sich ging. Mit einem Knall schlug Sara ihren Spind zu und rannte davon. Evan drehte sich langsam um und nahm mich zur Kenntnis, während ich ihn mit zusammengekniffenen Augen musterte und immer noch zu verstehen versuchte.

»Warum hast du das gemacht?«, fragte ich entsetzt.

»Wenn du wüsstest, was ich die letzten beiden Tage gesehen habe, hättest du dasselbe getan.«

Ich begriff noch immer nicht. Seine Einmischung traf mich wie ein Schlag, ich musste weg. Entschlossen drehte ich mich um und bahnte mir einen Weg durch das Gedränge, meine Bücher an die Brust gepresst.

»Warte, Emma«, beschwor er mich, lief mir aber nicht nach.

Ich verdrückte mich in die Toilette und suchte mir eine leere Kabine. Dort lehnte ich mich mit dem Rücken an die Seitenwand, dachte an Saras trauriges Gesicht, und während sich die Szene in meinem Kopf noch einmal abspielte, ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich nicht erleichtert war, dass Sara niemandem von meiner Situation erzählt hatte – vielleicht weil ich ohnehin nichts anderes erwartet hatte.

Sosehr ich es auch wollte, ich konnte Evan nicht böse sein. Zwar gefiel es mir nicht, dass er Sara so aus der Fassung gebracht hatte, aber ich wusste, dass es nicht seine Schuld war. Er hatte wirklich keine Ahnung, auf was er sich da einließ. Konnte ich zulassen, dass er mein Elend weiterhin ohne jede Erklärung mit ansah? Ich wusste, ich würde ihm niemals gestehen können, was zwischen Sara und mir vorgefallen war, ich würde mich ihm auch niemals anvertrauen können, wenn mir so etwas noch einmal passierte. Also blieb mir nur eine einzige Antwort. Ich musste ihn aufgeben. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht, aber ich hatte ja immer gewusst, dass ich sie eines Tages treffen musste.