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»Wie schön, dass du auch mal so lebendige Farben benutzt«, bemerkte Ms Mier, die hinter mich getreten war, um mein Gemälde zu bewundern. »Bisher hast du immer nur ganz dunkle Töne gewählt, zwar mit außergewöhnlichen Ergebnissen, aber das hier ist erfrischend. Irgendwas hat sich verändert, und es gefällt mir.«

Dann ging sie weiter zur nächsten Staffelei. Ich lehnte mich zurück und betrachtete mein fast fertiges Herbstlaub-Bild. Bevor Ms Mier aufgetaucht war, hatte ich gerade den Pinsel in ein bräunliches Orange getaucht, um die grellen Farbschattierungen auf der Leinwand etwas zu dämpfen. Jetzt legte ich das Malwerkzeug beiseite und starrte wieder auf die Farben. Sie blendeten meine müden Augen.

Ich starrte weiter auf meine Farbenpracht, bis Ms Mier den Kurs zum Aufräumen aufforderte. Von der plötzlich einsetzenden Unruhe aufgeschreckt, sah ich mich um und begann ungeschickt, meine Materialien zusammenzusammeln. Weiter hinten im Raum, bei den Foto-Utensilien, sah ich Evan stehen. Er beobachtete mich besorgt. Ich säuberte meine Sachen und ignorierte ihn.

»Hast du vielleicht Lust, mit mir für den Anatomie-Test zu lernen?«, fragte Evan, als wir den Raum zusammen verließen.

»Äh … nein, ich kann nicht«, stotterte ich. »Ich muss noch was für die Zeitung machen.«

»Ich kann dich begleiten.«

»Nein, schon okay«, erwiderte ich hastig, ohne ihn richtig anzusehen. »Ich glaube, ich wäre lieber allein.«

»Okay«, sagte er langsam, und als ich vor meinem Spind stehen blieb, ging er weiter den Korridor hinunter.

Ich musste ihm nachschauen und rief mir ins Gedächtnis, dass es das Richtige war, nichts mehr mit ihm zu tun zu haben. Aber es fühlte sich scheußlich an – meine Blicke folgten ihm, bis er um die Ecke bog. Mein Herz tat weh, und eine Sekunde lang zweifelte ich an meinem Entschluss. Aber dann schüttelte ich den Gedanken ab und öffnete meinen Spind.

Das Fußballtraining war nicht nur körperlich, sondern auch psychisch anstrengend. Ohne jegliche persönliche Beziehung mit Sara zusammenzuspielen war eine Folter. Wenn wir nicht auf dem Feld waren, hielt sie sich so fern von mir wie möglich, und auf dem Feld passte sie mir nur dann zu, wenn sie wirklich keine andere Wahl hatte.

»Lauren, könnte ich heute vielleicht mit dir nach Hause fahren?«, fragte ich, als ich bei einer Übung neben ihr an der Seitenlinie stand.

»Klar«, antwortete sie, ohne zu zögern.

Nach dem Training ging ich stur neben Lauren her zu ihrem Auto und würdigte Evan, der auf mich wartete, keines Blickes. Aber ich spürte genau, wie er mir nachschaute. Erneut erinnerte ich mich daran, dass es nur zu unserem Besten war. Aber das half nicht.

»Danke fürs Mitnehmen«, sagte ich zu Lauren, als ich in ihren dunkelblauen Volvo stieg.

Doch ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich da eingelassen hatte. Lauren war sehr nett, redete aber die ganze Heimfahrt über ununterbrochen. So hörte ich alles über den Homecoming-Ball; Sara und Jason hatten den Titel der Homecoming Queen und des Homecoming King gewonnen, obwohl beide nicht da gewesen waren. Ich versuchte, mir meinen Schock nicht anmerken zu lassen, aber Lauren ging offensichtlich davon aus, dass ich den Grund für das Fernbleiben der beiden kannte, und versuchte, mir eine Erklärung zu entlocken. Anscheinend hatte sie gar nicht bemerkt, dass Sara und ich nicht mehr miteinander sprachen. Was glaubte sie denn, warum ich mich von ihr nach Hause fahren ließ? Schließlich sagte ich lediglich, dass ich auch nicht wüsste, warum Sara und Jason nicht zum Ball gegangen seien.

Daraufhin plapperte Lauren über Fußball und das bevorstehende Spiel. Sie war begeistert, dass sie es als Mannschaftskapitänin in ihrem letzten Schuljahr bis zur Meisterschaftsrunde geschafft hatte. Ich erfuhr in allen Einzelheiten, für welche Colleges sie sich beworben hatte und wie schwer es ihr fiel, sich für eines zu entscheiden. Redeten die meisten Mädels so viel? Ich wunderte mich, dass sie zwischen den einzelnen Sätzen überhaupt Luft holen konnte. Die Themen verschwammen ineinander wie die Landschaft, die draußen an uns vorbeiflog, und ich war beinahe erleichtert, als wir vor meinem Haus hielten, so erschöpft war ich vom Zuhören.

»Noch mal vielen Dank, Lauren«, sagte ich beim Aussteigen.

»Wenn ich dich morgen auch mitnehmen soll, sag einfach Bescheid. Es war schön, mit dir zu plaudern, ich hab das Gefühl, wir haben sonst nie richtig Zeit zum Reden.«

»Vielleicht komm ich darauf zurück«, antwortete ich zögernd, denn ich wusste, dass ich lieber zu Fuß nach Hause ging, als sie noch einmal zu fragen.

Dann versuchte ich, mich unauffällig durch die Küche zu schleichen, aber ein stechender Schmerz in meinem rechten Arm hielt mich auf. Ich zuckte zusammen, und als ich mich umdrehte, stand Carol mit einem metallenen Servierlöffel in der Hand vor mir.

»Wer zur Hölle war das denn?«, wollte sie voller Entrüstung wissen. Ich blickte mich um und sah, dass George nicht da war. An der Art, wie Carol den Löffel umklammerte, erkannte ich, dass mir nichts Gutes bevorstand.

»Das war Lauren, eine unserer Mannschaftskapitäninnen«, erklärte ich wahrheitsgemäß, denn ich hatte zu viel Angst, dass sie mich durchschaute, wenn ich log.

»Du bist dermaßen jämmerlich. Wenn du um Mitfahrgelegenheiten bettelst und mich dabei blamierst, wirst du dafür büßen. Jetzt hat Sara also endlich gemerkt, wie du wirklich bist, was?«

Die Erwähnung von Saras Namen schmerzte mehr als der rote Fleck auf meinem Arm. Aber ich schwieg und hielt verzweifelt Ausschau nach einer Gelegenheit, in mein Zimmer zu entkommen, ehe die Situation eskalierte.

Doch in diesem Moment riss Carol die Augen auf und der Metalllöffel knallte gegen meine Schläfe. Ich stöhnte auf, griff nach meinem Kopf und wich zurück, bis ich mit dem Rücken an der Wand stand.

»Du verdammtes, ekelhaftes Luder«, zischte Carol, und in ihren Augen braute sich ein Sturm zusammen. Ich fürchtete mich vor dem, was kommen würde. »Wie kannst du es wagen, mein Haus zu betreten, wenn du dermaßen stinkst?«

Niedergeschlagen sah ich an meinen Trainingsklamotten hinunter. Ich hatte nach dem Training nicht geduscht, um Lauren nicht warten zu lassen. Offensichtlich war das die falsche Entscheidung gewesen.

»Mom!«, rief in diesem Augenblick Jack von oben, und sofort wandte seine Mutter sich von mir ab. »Ist Dad schon mit der Pizza zurück?«

Sie musste erst den Zorn abschütteln, bevor sie in ihrem besten Mutterton antwortete: »Nein, Schätzchen, aber er müsste bald kommen. Du und Leyla, ihr könntet euch schon mal die Hände waschen.«

Dann fauchte sie mich an: »Geh mir aus den Augen, sonst kannst du draußen schlafen.« Ich ergriff die Gelegenheit und rannte in mein Zimmer.

Rasch schloss ich die Tür hinter mir, stellte meine Taschen auf den Boden und rieb die Beule an meiner Schläfe, froh, nichts Schlimmeres davongetragen zu haben. Zwar war ich am Verhungern, aber ich wusste, das musste ich durchstehen.

Stattdessen versuchte ich, mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren. Aber es gelang mir nicht. Ich starrte nur auf die Wörter, die mir vor den Augen verschwammen, und konnte mich bloß vage an den Unterricht erinnern, in dem ich die Aufgaben bekommen hatte. Meine Notizen waren lediglich unzusammenhängendes Gekritzel. Als es um zehn an die Tür klopfte – das Signal zum Lichtausmachen –, zuckte ich vor Schreck zusammen.

Ich legte mein Mathebuch ins unterste Fach meines begehbaren Wandschranks und löschte das Licht. Dann wartete ich im Bett, bis ich zwei Paar Füße die Treppe hinaufgehen hörte. Atemlos kroch ich unter meiner Decke hervor, schlüpfte in den Wandschrank und schloss die Tür hinter mir. Der Wandschrank war nicht sonderlich breit, was in Ordnung war, da ich ohnehin nicht viele Klamotten besaß, aber er war hoch und auch ziemlich tief. So hatte ich reichlich Platz, um unter meinen Kleidern zu sitzen, ohne dass sie mir auf den Kopf hingen. Eine kleine Tür auf der Rückseite führte zu einer niedrigen Nische, in der ich die Dinge aufbewahrte, die mir am meisten bedeuteten.

In diesem kleinen Versteck waren die einzigen Bilder von meinen Eltern, die ich besaß, meine Andenken an eine Zeit, die fast zu lange her war, um mich noch an sie erinnern zu können. Und die mit Sicherheit Lichtjahre weit entfernt war von dem Ort, an dem ich jetzt, eingepfercht in diesen Wandschrank, kauerte. Auch meine Lieblingsgemälde und meine Sporttrophäen hatte ich hier untergebracht, zusammen mit einer kleinen Schuhschachtel mit Briefen, die meine Mutter mir geschickt hatte, nachdem ich bei George und Carol eingezogen war.

Anfangs hatte sie mir oft geschrieben, nichts Wichtiges, nur zufällige, zu Papier gebrachte Gedanken. Nach einer Weile trafen die Briefe immer seltener ein, bis sie irgendwann, ungefähr vor eineinhalb Jahren, ganz ausblieben. Ich stellte mir vor, dass meine Mutter vom Leben zu sehr beansprucht wurde, um noch Kraft für mich aufbringen zu können. Sie war schon immer sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen – deshalb war ich ja auch hier in diesem Haus und nicht bei ihr.

Im Licht der Glühbirne, die über dem Regal hing, brütete ich über meinem Lehrbuch und versuchte mir selbst beizubringen, was ich im Unterricht nicht mitbekommen hatte. Als ich wieder aus meinem Lernversteck hervorkroch, war es schon nach ein Uhr morgens. Immer noch in meinen Trainingssachen, ließ ich mich aufs Bett fallen und war im Handumdrehen eingeschlafen. Aber in meinen Träumen wälzte ich mich unruhig hin und her.

 

Am nächsten Morgen schleppte ich mich ins Badezimmer. Mir stand ein weiterer Tag bevor, an dem es wenig gab, worauf ich mich freuen konnte, aber ich machte mich trotzdem bereit. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, zur Bushaltestelle zu laufen, aber Evan wartete schon auf mich – unerbittlich. Ich war fest entschlossen weiterzugehen und seinen glänzenden Sportwagen zu ignorieren.

Als ich an ihm vorbeikam, stieg er aus. »Emma, tu das nicht«, beschwor er mich.

Ich sah von ihm zum Panoramafenster unseres Hauses hinüber und riss panisch die Augen auf. Er folgte meinem erschrockenen Blick.

»Dann steig doch ein«, drängte er. Seufzend trabte ich zu seinem Auto und schlüpfte hinein. Er schloss die Tür und fuhr los. Ich saß steif auf dem Ledersitz, die Arme um meinen Rucksack gelegt, die Lippen zusammengepresst, und starrte geradeaus.

»Schmollst du?«

Beleidigt musterte ich ihn. Er antwortete mit einem amüsierten Grinsen, was mich noch mehr aufregte.

»Du schmollst also wirklich«, schlussfolgerte er fast lachend.

»Hör auf!«, gab ich zurück und versuchte ernst zu bleiben. Aber je mehr ich es versuchte, desto mehr spürte ich, wie sich meine Mundwinkel gegen meinen Willen nach oben zogen. »Ich schmolle überhaupt nicht.«

Jetzt prustete Evan los.

»Es reicht!«, schrie ich, merkte aber, dass ich ebenfalls grinste.

Als er endlich aufhören konnte zu lachen, wurde er gleich viel zu ernst.

»Jetzt musst du mir aber wirklich mal sagen, was los ist. Warum gehst du mir aus dem Weg?«

Ich schwieg und bemühte mich, mir eine vernünftige Erklärung einfallen zu lassen, irgendetwas, damit er akzeptierte, dass ich ihn aus meinem Leben streichen musste. Aber mir fiel absolut nichts ein, denn alles, was ich sagen wollte, offenbarte viel zu viel. Unterdessen wartete er geduldig auf meine Antwort.

»Du bist nicht Sara«, hauchte ich schließlich.

»Ich möchte auch nicht Sara sein«, erwiderte er verwirrt. »Ich versteh dich leider immer noch nicht.«

»Ich weiß nicht, wie ich dich in meine Welt lassen soll, ohne dir womöglich auch so weh zu tun.« Die Wahrheit, die in meinen Worten verborgen lag, offenbarte mehr, als er jemals begreifen würde.

»Du brauchst keine Angst davor zu haben, dass du mir weh tust«, entgegnete er ruhig. »Mir gefällt es, zu deiner Welt zu gehören, und ich hab auch längst kapiert, dass es komplizierter ist, als du mir zu erklären bereit bist. Das werde ich respektieren … jedenfalls für den Moment.«

Er fuhr auf den Parkplatz eines Drugstores und hielt an. Als er sich zu mir drehte, wirkte er ziemlich nervös, und ehe er anfing zu sprechen, atmete er hörbar aus. Mir wurde eng um die Brust, auf einmal hatte ich Angst vor dem, was er sagen würde.

»Ich tu so was nicht.« Er gestikulierte mit seinen Händen, ich kniff die Augen zusammen und versuchte, seine Bewegungen zu interpretieren. Er atmete lange aus und starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen. »Ich bleibe nicht, das bin ich gewohnt. Und ich bin immer darauf vorbereitet zu gehen, denn irgendwann muss ich es.«

Wieder hielt er frustriert inne. Ich saß reglos da, hundertprozentig davon überzeugt, dass es mir lieber wäre, wenn er nicht weitersprach – aber ich brachte es nicht über mich, ihn darum zu bitten.

»Ich möchte hierbleiben«, verkündete er schließlich. »Es würde mir viel ausmachen zu gehen. Ich meine … ungepackt.«

Mit einem schwachen, unsicheren Lächeln sah er mich an. Ich hielt seinem Blick stand, und so verharrten wir schweigend eine quälend lange Minute. Er wartete darauf, dass ich etwas sagte. Ich sah als Erste weg, ließ meinen Blick im Auto umherwandern und suchte nach den richtigen Worten. Enttäuscht schaute auch Evan weg. Mit rotem Gesicht ließ er den Motor wieder an und fuhr weiter zur Schule.

Die Spannung zwischen uns war nahezu unerträglich. Ich suchte immer noch nach Worten, die ihn dazu bewegen würden, mich aufzugeben. Aber jedes Mal, wenn ich sie aussprechen wollte, blieben sie mir im Hals stecken. Als er endlich einparkte und den Motor abstellte, schaute ich ihn an und sagte das Einzige, was mein Herz mir zu sagen erlaubte.

»Du solltest bleiben.« Auf einmal musste ich lachen und fügte rasch hinzu: »Aber wenn du endlich merkst, dass ich überhaupt nicht interessant bin, wirst du dir wahrscheinlich wünschen, du hättest es nicht getan.« Seine Augen funkelten, und ich sah, wie sein Gesicht sich ganz langsam entspannte.

Obwohl ich genau wusste, dass es das Richtige gewesen wäre, konnte ich ihn einfach nicht mehr wegstoßen. Und obwohl ich angestrengt nach einem logischen Grund suchte, mit ihm befreundet zu bleiben, konnte ich keinen finden. Es war ein Risiko, ihn in meiner Nähe zu haben – aber ich war nicht bereit, ihn aufzugeben.

»Hast du wirklich ausgepackt?«, fragte ich skeptisch, als wir in die Schule traten.

»Hab ich, ja – nachdem ich dich neulich heimgefahren habe. Ich glaube, du hast mir so ein schlechtes Gewissen gemacht, dass ich nicht anders konnte.«

Ich musste lachen. »So kommt man also an dich ran – man muss dir nur ein schlechtes Gewissen machen.«

»Es gibt auch noch andere wirksame Methoden«, wandte er ein.

Als ich ansetzte, um unser Geplänkel fortzuführen, merkte ich plötzlich, dass wir gleich bei meinem Spind waren. Ich sah mich nach Sara um, konnte sie aber nirgends entdecken.

»Wie schaffe ich es bloß, dass sie mir zuhört?«, murmelte ich, ohne den Blick abzuwenden.

»Vielleicht musst du sie dazu bringen«, antwortete Evan, dann ging er davon.

Bedrückt von der Erkenntnis, dass ich einen weiteren Tag des Meidens vor mir hatte, trottete ich zu meinem Spind, um mich für den Unterricht fertig zu machen. Die Leere in mir blieb, aber allmählich begann ich sie als Teil meiner selbst zu akzeptieren.

Ich schaffte es, dem Unterricht zu folgen und seinen Inhalt zu verstehen. Ich ging neben Evan durch die Korridore, hörte seine Worte und trug sogar etwas zum Gespräch bei. Aber noch immer suchte ich mit meinen Augen die Gänge ab, ständig enttäuscht, weil Sara zu weit weg war oder weil ich sie überhaupt nicht entdecken konnte.

Immer wieder versuchte ich mir einzureden, ich sollte sie einfach vergessen und akzeptieren, dass ich mit meiner Wahrheit alleine war. Und da ging mir plötzlich ein Licht auf – die Wahrheit. Abrupt blieb ich stehen, mitten im Korridor, mitten in Evans Satz. Er drehte sich nach mir um, und die Worte erstarben ihm auf den Lippen.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er zögernd.

»Ich glaube schon.« Ich sagte es ganz langsam und ließ mir mein Aha-Erlebnis noch einmal durch den Kopf gehen – Sara kannte die Wahrheit. Evan machte einen besorgten Eindruck, also lächelte ich ihm beruhigend zu.

Zwar änderte das nichts an seiner besorgten Miene, aber er sagte auch nichts auf dem Weg zu Anatomie. Als der Kurs vorbei war, lief ich sofort auf den Korridor, ließ Evan einigermaßen ratlos zurück und rannte los zu meinem Spind. Hoffentlich war ich rechtzeitig dort! Als ich Sara entdeckte, die gerade ihre Bücher in den Schrank packte, atmete ich erleichtert auf und eilte zu ihr, um sie abzufangen.

Als Sara mich kommen sah, versuchte sie, in die entgegengesetzte Richtung zu entkommen. Zum Glück war sie allein. Ich folgte ihr, und ehe sie die Tür zur Treppe erreichte, rief ich laut: »Das war nicht ich!«

Als Sara meine Stimme hörte, blieb sie abrupt stehen, wandte sich aber nicht zu mir um. Ich holte sie ein und stellte mich so dicht hinter sie, dass sie mich verstehen konnte, ohne dass ich schreien musste.

»Ich weiß, dass ich grässliche Dinge gesagt habe, Sara, und sie werden mir mein Leben lang leidtun«, stieß ich hastig hervor, ehe sie es sich anders überlegen und weitergehen konnte. – »Aber du weißt, dass nicht ich es war.«

Gespannt drehte sie sich um, sagte aber nichts.

»Können wir bitte reden?«, bettelte ich. Sie zuckte die Achseln und drückte die Tür auf. Ich folgte ihr die Treppe hinunter und durch die Seitentür nach draußen, wo wir uns ins Gras hockten. Sara schlang die Arme um die angezogenen Knie und starrte geradeaus, immer noch ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Ich sah sie an, ließ meine Worte durch die Luft schweben und hoffte, dass Sara sie hörte.

»Was ich gesagt habe, tut mir so, so leid. Ich war nicht ich selbst, und ich hoffe, du weißt das. Ich war verletzt und wütend, und leider hast du es abgekriegt. Das war nicht richtig. Aber du weißt, dass ich nicht wirklich diese Person bin.«

Jetzt legte Sara den Kopf schief, um mich anschauen zu können, und ich wusste, dass sie zu begreifen begann.

»Ich werde nicht wütend. Das fühlt sich schrecklich an, ich hasse es, so zu sein. Wenn ich so bin … wenn ich mich von ihr dazu bringen lasse, so zu sein, dann hat sie gewonnen. Dann zerstört sie nicht nur mich, sondern auch alle, die mir wichtig sind.

An dem Tag neulich hat sie mich so weit gehabt. Es hat mich innerlich fast aufgefressen. Ich hätte das alles nicht sagen dürfen, aber ich konnte auch nicht zulassen, dass du jemandem von mir erzählst. Ich weiß, wie einfach es wäre, dem Ganzen ein Ende zu bereiten, aber das kann ich nicht. Ich darf nicht nur an mein eigenes Leben denken. Leyla und Jack würden zugrunde gehen, wenn man sie ihren Eltern wegnimmt, und dafür will ich nicht verantwortlich sein. Ich bin stark genug, ich werde damit fertig. Aber die beiden sind noch klein, deshalb muss ich es noch eine Weile aushalten. Verstehst du?«

Auf einmal füllten sich Saras Augen mit Tränen, und sie sah schnell weg, um sie abzuwischen.

»Ich weiß, ich hab nicht das Recht, dich zu bitten, für mich da zu sein. Das ist nicht gerade die Idealvorstellung von einer Freundschaft, aber ich weiß, ich schaffe es, wenn du da bist und mir hilfst. Du bist die Einzige, die mich wirklich kennt, und ich vertraue dir. Ich werde dich niemals bitten, für mich zu lügen, und ich werde dich auch niemals zwingen, bei etwas mitzumachen, was du nicht willst. Aber der Gedanke, dass du womöglich nie wieder mit mir redest, tut mir schlimmer weh als alles, was Carol mir jemals antun könnte. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren.«

Die Ehrlichkeit, mit der ich mein Innerstes vor Sara entblößte, brachte mein Herz zum Stolpern. So hatte ich mich noch nie jemandem geöffnet, nicht einmal ihr. Aber ich konnte nichts davon zurücknehmen, ich konnte meine Verletzlichkeit nicht mehr vor ihr verbergen. Ich wusste, ich stand hinter dem, was ich sagte – viel mehr als hinter den bitteren, gemeinen Worten, die ich ihr in der Kabine an den Kopf geworfen hatte. Und ich hoffte, dass die Wahrheit genügte.

In gespanntem Schweigen wartete ich. »Du hast mich nicht verloren, Em«, flüsterte Sara schließlich. »Du hast recht. Sowenig ich es auch verstehe – du bist kein wütender Mensch. Traurig und verschlossen, das schon – aber nicht wütend, obwohl du jedes Recht dazu hättest.« Sie hielt inne.

»Ich wusste, dass du das alles nicht so gemeint hast. Ich bin dir nur deshalb aus dem Weg gegangen, weil ich so dermaßen wütend werde, wenn ich dich anschaue.« Ihr Geständnis verwirrte mich. »Ich hasse diese Frau dafür, dass sie dir weh tut. Das macht mich so zornig, dass ich kaum an mich halten kann, und ich bin auch nicht gerne zornig. Aber du hast auch damit recht: Genau das beabsichtigt sie ja. Sie will alles Positive in dir isolieren und zerstören. Das dürfen wir nicht zulassen. Ich weiß, du bist stark genug, um das auch ohne mich zu schaffen, aber ich bin ebenfalls nicht bereit, auf deine Freundschaft zu verzichten.« Ihre Augen glänzten, und sie sah mich mit einem sanften Lächeln an.

Ich versuchte, die Nässe in meinen Augen wegzublinzeln. Sara stand auf und breitete die Arme aus, ich erhob mich ebenfalls und ließ mich von ihr drücken, ohne starr zu werden.

Nach einer Weile ließ sie mich los und wischte sich noch einmal die Tränen weg. »Lass uns eines klarstellen«, sagte sie und sah mir ernst in die Augen. »Wenn du mir jemals wieder einredest, ich wäre eine Schlampe, spreche ich kein Wort mehr mit dir. Ich weiß, was ich tue, also halte dich da raus. Kapiert?«

»Ja, kapiert«, beteuerte ich. »Es tut mir wirklich leid.«

»Ich weiß«, antwortete sie und griff nach meiner Hand. »Und mir tut es leid, dass ich damit gedroht habe, dich bloßzustellen. Ich verstehe, warum du das alles tust. Ich hasse es, das leugne ich nicht, aber ich bin für dich da, komme, was wolle.«

Diesmal drückte ich sie an mich. »Danke.«