17 UnErWarteTer beSucH
»Müssen wir wirklich zu diesem Motivationszeug?«, jammerte ich, als wir zu unseren Spinden gingen, um unsere Trikots zu holen.
»Selbstverständlich«, rief Sara, offensichtlich verwundert über meine Frage. »Em, es wird uns so richtig in Stimmung bringen, wenn die ganze Schule uns vor dem Spiel Mut macht.«
»Kann ich bitte meine Musik hören, damit ich nichts davon mitkriege?« Sie sah mich an und hob kapitulierend die Hände – sie konnte einfach nicht nachvollziehen, warum ich nichts mit dem Trubel zu tun haben wollte.
»Sara, ich muss mich auf das Spiel konzentrieren. Ich war schon den ganzen Tag über wegen der Sache mit Evan so abgelenkt, ich will mich jetzt nicht auch noch diesem Chaos und Gebrüll aussetzen.«
»Du bist echt merkwürdig«, stellte Sara kopfschüttelnd fest. »Aber bei einer Motivationsveranstaltung Musik zu hören – damit kommst du nicht durch. Wenn wir angekündigt werden, müssen wir einlaufen, und dann sitzen wir zusammen hinten in der Sporthalle, wo jeder uns sehen kann – folglich bleibt dir gar nichts anderes übrig, als dich mit dem Chaos abzufinden.«
»Im Ernst?« Jetzt schrie ich fast. »Wir werden angekündigt und müssen uns beim Einlaufen von allen anstarren lassen?«
»Erinnerst du dich nicht an die Football-Motivation?«
»Da bin ich nicht hingegangen.«
Sara seufzte. »Em, es wird alles gut werden. Du hast die halbe Stunde Busfahrt zum Stadion, um dich zu konzentrieren, und wir verlassen die Schule ja auch erst um halb vier. Da können wir uns doch nach der Veranstaltung in Ruhe einen leeren Raum suchen, in dem ich kein einziges Wort mit dir reden werde, versprochen. Du kannst deine Musik hören, Hausaufgaben machen oder sonst irgendeinem Ritual nachgehen, das du brauchst, um deinen Kopf für das Spiel freizukriegen. Okay?« Ich nickte und seufzte ebenfalls.
Die Motivationsveranstaltung war noch schlimmer, als ich es befürchtet hatte. Die Band spielte, die Cheerleader jubelten, es gab jede Menge Luftballons und reichlich Geschrei. Aber der schlimmste Teil kam, als das Team »angesagt« wurde. Sara hatte mir nämlich verschwiegen, dass wir einzeln aufgerufen wurden – und ich war fest davon ausgegangen, dass wir gemeinsam einlaufen würden. Ich wurde als Letzte angekündigt und genierte mich zutiefst. Als dann auch noch bekanntgegeben wurde, dass ich Torschützenkönigin des Staates war, und das Geschrei daraufhin nahezu eskalierte, wäre ich endgültig am liebsten im Boden versunken.
Als es endlich vorbei war, versteckte ich mich im Kunstraum, machte meine Mathehausaufgaben und hörte dabei die Band, die Evan meiner Playlist hinzugefügt hatte.
Im Bus blieb ich stumm und blendete die Slogans und Hochrufe der anderen erfolgreich aus. Je näher wir dem Stadion kamen, desto tiefer versank ich mit geschlossenen Augen in meinem Sitz.
Auf einmal fühlte ich eine Hand auf meinem Knie, das ich an den Sitz vor mir gedrückt hatte. Als ich die Augen öffnete, sah ich Coach Peña mir gegenüber, der Bus war fast leer. Ich setzte mich auf und stellte die Musik aus.
»Bereit?«, fragte er mich mit einem zuversichtlichen Lächeln. »Du schaffst das, ganz sicher.«
»Ja, ich weiß«, bestätigte ich.
»Dann mal los.« Er tätschelte noch einmal mein Bein und ging dann den Gang hinunter zur Bustür. Ich folgte ihm und stellte meine Musik wieder an.
Immer mehr Zuschauer strömten ins Stadion, während wir unsere Aufwärmübungen machten. Die Luft war erfüllt von den Stimmen und der Energie der Zuschauer und Spielerinnen. Weil ich gar nicht so genau daran denken mochte, worum es heute ging, blendete ich den Jubel und das Blitzlichtgewitter der Kameras ebenso aus wie die Lautsprecheransagen. Stattdessen atmete ich möglichst ruhig die kalte Novemberluft ein und fokussierte mich auf das, was gleich vonstattengehen würde. Wenn ich gegen Ablenkungen immun wurde, dann wusste ich, dass ich bereit war für das Spiel.
Es lief besser, als ich gedacht hatte. Das Spiel war aggressiv, schnell und körperbetont, ein erbitterter Kampf um Ballbesitz. Das Leder flog von Fuß zu Fuß und wurde oft innerhalb einer Minute über die ganze Spielfeldlänge und wieder zurück gebracht. Jeder Pass wurde rücksichtslos gestört, jede Torchance hart blockiert. Zur Halbzeit stand es immer noch null zu null.
Die zweite Halbzeit startete ebenso explosiv, schließlich wollte keine Mannschaft als Verlierer vom Platz gehen. Etwa nach der Hälfte schafften wir es, dicht vors gegnerische Tor zu kommen. Mit viel Gerempel und Geschubse wurde der Ball von einer Spielerin zur anderen befördert, und als eine der gegnerischen Verteidigerinnen zu klären versuchte, indem sie den Ball mit einem kräftigen Tritt aus der Gefahrenzone schlug, blockte Jill sie ab. Der Zusammenstoß der beiden Spielerinnen ließ den Ball in die Mitte des Felds segeln. Voll auf dessen Flugbahn konzentriert, machte ich ein paar lange Schritte und stieß mich vom Boden ab, um mit dem Kopf an den Ball zu kommen. Ich traf ihn seitlich und lenkte ihn mit einer flüssigen Bewegung aufs Tor. Gleichzeitig jedoch stieß eine gegnerische Spielerin, die mich wegzudrängen versuchte, hart gegen meine Schulter. Die Torhüterin ging eine Sekunde zu spät dazwischen, ihre Hände landeten auf meinem Kopf – und der Ball segelte Richtung Netz.
Gemeinsam mit der Torhüterin ging ich zu Boden, wusste aber, dass mein Timing den Bruchteil einer Sekunde schneller gewesen war als ihres. Als der Torpfiff ertönte, brach die Menge in frenetischen Jubel aus, etwas, das ich bisher nie wahrgenommen hatte. Erschrocken schaute ich um mich – mitten in das Meer von Blitzlichtern. Dann stürzten sich auch schon Jill und Sara auf mich, rissen mich in ihren Umarmungen zu Boden und brüllten mir in die Ohren.
Beide Teams machten jeweils noch ein Tor, aber am Ende gewannen wir. Als der Schlusspfiff ertönte, überschwemmte eine Woge von Menschen das Feld, alles schrie, alles jubelte. Eine verschwommene Masse von Gratulanten drückte mich an sich und klopfte mir auf die Schulter. Ich war viel zu aufgeregt, um mich darum zu kümmern.
Schließlich bahnte sich auch Evan einen Weg durchs Gedränge, die Kamera in der Hand. Noch bevor ich reagieren konnte, schlang er die Arme um mich und zog mich an sich.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte er dicht an meinem Ohr, ehe er mich wieder losließ. »Du schaffst es jedes Mal, ein eigentlich unmögliches Tor zu machen. Ich glaube, mir ist ein ziemlich gutes Foto davon gelungen.«
»Danke«, antwortete ich strahlend.
Ehe ich noch etwas sagen konnte, wurde ich schon wieder in den Strudel von Händen, Umarmungen und Glückwünschen gezerrt und verlor Evan aus den Augen. Doch allmählich ließ der Ansturm nach, und nachdem wir auch dem gegnerischen Team die Hände geschüttelt hatten, ging ich zurück zur Bank, um meine Sachen zu holen.
Die Zuschauer zerstreuten sich und verschwanden im Gänsemarsch durch die Tore zum Parkplatz, Evan irgendwo unter ihnen. Sara fing mich mitten auf dem Platz ab. Als wir uns dem Ausgang näherten, fiel mir eine Gestalt auf, die auf der anderen Seite stand und wartete. Ich hielt den Kopf gesenkt und ging weiter auf den Bus zu.
»Emily!«, rief die Gestalt, als ich näher kam. Jetzt blickte ich doch auf und blieb abrupt stehen. Sara zögerte einen Schritt vor mir und folgte meinem erstarrten Blick. Ihre Augen wurden groß.
»Ich informiere den Coach, dass du ein bisschen später kommst«, versprach sie leise und ließ mich allein, während ich langsam auf die Frau zuging.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich. Leider klang meine Stimme nicht so fest, wie ich es mir gewünscht hätte.
»Ein Freund hat mich hergefahren, damit ich mir dein Spiel anschauen kann«, antwortete meine Mutter mit einem vorsichtigen Lächeln. »Herzlichen Glückwunsch – ich bin so stolz auf dich.«
Dann blies mir eine sanfte Brise ihren charakteristischen Duft in die Nase. »Du hast getrunken«, murmelte ich bedrückt. Offensichtlich hatte sie sich nicht verändert.
»Ich war so nervös, dich zu sehen, da hab ich mir ein paar Drinks genehmigt. Ist doch kein Problem.«
Ich brachte kein Wort heraus, ich konnte mich nicht rühren und zitterte am ganzen Körper.
»Ich hab deine Spiele in der Zeitung verfolgt«, fuhr sie fort. »Ich wollte unbedingt dabei sein. Du siehst toll aus.«
Ich starrte sie nur wortlos an.
»Was ist denn mit deinem Auge passiert?«, fragte sie und deutete mit dem Kopf auf die kleine Narbe über meinem linken Auge.
Ich zuckte die Achseln und schaute zu Boden, denn ich wollte nicht, dass sie sah, wie meine Augen sich mit Tränen füllten.
»Ich hab gedacht, du willst bestimmt nichts von mir hören«, fuhr sie fort und spielte verlegen mit den Händen. »Vor allem, weil du so lange nicht mehr zurückgeschrieben hast.«
»Wie meinst du das?« Auf einmal fand ich meine Stimme wieder.
»Hast du meine Briefe denn nicht bekommen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich denke dauernd an dich …«, begann sie.
»Tu das lieber nicht«, fiel ich ihr ins Wort, denn zwischen all den anderen Gefühlen stieg plötzlich eine große Wut in mir hoch. »Sag es nicht. Ich will es nicht mehr hören. Wie sehr du mich liebst und wie leid es dir tut, dass du dich nicht so um mich kümmern kannst, wie ich es verdiene. Hör … hör einfach auf damit, du hast nämlich keine Ahnung, was ich verdiene.« Sie konnte mir nicht in die Augen sehen.
Bevor sie sich noch einmal dafür rechtfertigen konnte, dass sie mich im Stich gelassen hatte, ertönte eine laute Stimme: »Da bist du ja, Rachel. Wir müssen los, Baby.«
Als ich mich nach der Stimme umschaute, sah ich einen Kerl mit rasiertem Kopf, Lederjacke und abgewetzten Jeans auf uns zukommen.
»Wir sind spät dran«, sagte er ungeduldig und würdigte mich kaum eines Blickes. Meine Mutter sah mich entschuldigend an, aber ich hatte nichts anderes von ihr erwartet. Mich einem Mann vorzuziehen war für sie noch nie ernsthaft in Frage gekommen.
»Ich muss auch weg«, erklärte ich und wich langsam zurück. Ich musste fliehen, ehe ich erstickte.
»Emily, das ist Mark«, versuchte meine Mutter uns vorzustellen, aber der Mann warf nur ein kurzes »Hey« in meine Richtung, dann packte er ihre Hand und zog sie weg.
Unwillkürlich nickte ich, denn ich verstand genau, wer er war. Er war derjenige, den sie mir vorzog.
»Es war toll …«, setzte sie noch einmal an, aber er zog sie bereits zu dem Charger, der mit laufendem Motor auf dem Parkplatz stand. Ich drehte den beiden den Rücken zu und ging weg, ohne sie ausreden zu lassen.
Im Bus herrschte große Aufregung, alles plapperte durcheinander – niemand hatte gemerkt, dass man auf mich wartete. Als ich einstieg, überschütteten meine Teamkameradinnen mich mit Komplimenten, und ich versuchte zu lächeln, während ich mich durch den Gang zu meinem Platz neben Sara schlängelte.
»Magst du am Fenster sitzen?«
»Ja«, antwortete ich mit bebender Stimme. Sara rutschte Richtung Gang, ich sank auf den Fensterplatz, lehnte den Kopf an die kühle Scheibe und versuchte, meine Tränen hinunterzuschlucken. Aber meine Hand zitterte, als ich mir mit dem Ärmelbündchen die Augen wischte. Sara griff nach meiner Hand und drückte sie sanft. Schweigend saßen wir nebeneinander, während ich aus dem Fenster starrte und die Fassung wiederzugewinnen versuchte.
»Das war deine Mom, richtig?«, vergewisserte sie sich schließlich. »Sie sieht …«
»… mir gar nicht ähnlich«, murmelte ich und wünschte, es gäbe noch mehr Unterschiede zwischen uns als ihre hellblauen Augen und ihre schmalen Lippen. »Warum entscheidet sie sich nach vier Jahren ausgerechnet dafür, an einem der wichtigsten Abende meines Lebens aufzutauchen?«
»Ich weiß es auch nicht«, flüsterte Sara. »Wenn es leichter ist, könnten wir so tun, als wäre es nie passiert. Ich erwähne es nicht, und du kannst es vergessen. Und den Rest des Abends amüsieren wir uns prächtig.«
»Ich werde es versuchen«, versprach ich und schob das deprimierende Bild meiner Mutter beiseite, so gut ich konnte.
»Wir duschen in der Schule und gehen dann direkt zu Lauren«, fuhr Sara mit ihren Ablenkungsversuchen fort. »Aber ich finde, wir bleiben nur ein, zwei Stunden, dann gehen wir mit den anderen Mädels zu mir nach Hause. Und wir machen uns einen richtig gemütlichen Abend.« Sie drückte wieder meine Hand. »Aber wenn du irgendwann über sie reden möchtest … ich bin immer für dich da«, fügte sie noch hinzu.
Ich nickte schwach, denn ich wusste, wie unwahrscheinlich es war, dass ich über meine Mutter reden wollte. Schon unter der Dusche wusch ich sie von mir ab und verbannte sie wieder an jenen dunklen Ort, an dem ich sie in meinem Innern versteckt hielt. Und da blieb sie auch … zumindest für den Rest des Abends.
Nachdem wir etwa eine Stunde mit Lauren und den anderen total überdrehten Fußballspielerinnen verbracht hatten, die noch schneller redeten als sonst, knuffte Sara mich behutsam in den Arm – es war Zeit zu gehen. Fünf weitere Mädels schlossen sich uns an und folgten Sara in ihren Autos.
Bei Sara hörten wir Musik, aßen Junkfood, und schließlich kam das Gespräch auf das Thema Jungs. Ich wusste, dass es unvermeidlich war, entschied mich aber, nichts beizusteuern, bis ich dazu gezwungen wurde.
»Und was ist mit dir und Evan?«, wollte Casey kurz darauf auch schon wissen.
»Wir sind bloß Freunde«, antwortete ich lässig und hoffte, das genügte, damit die anderen nicht darauf rumritten.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Veronica vorwurfsvoll. »Er ist doch total heiß.«
»Wir interessieren uns einfach nicht auf diese Weise füreinander«, erwiderte ich etwas defensiv.
»Du weißt aber schon, dass Haley Spencer dich hasst, oder?«, warf Jill ein.
»Was?«, fragte ich fassungslos.
»Sie ist verrückt nach Evan und glaubt, er will nur deinetwegen nicht mit ihr ausgehen«, erklärte sie. Ich lachte.
»Emma, ist das dein Ernst?«, fragte Jaclyn Carter. »Du musst doch zugeben, dass er toll aussieht, und er ist intelligent und sportlich …«
»Eigentlich perfekt«, fasste Casey zusammen.
»Ach was, niemand ist perfekt«, gab ich zurück.
»Und was für einen Fehler hat Evan dann?«, wollte Casey wissen. Ich sah Sara an und hoffte, sie würde das Thema wechseln.
»Er kann echt nervig sein«, sagte ich schließlich, weil von Sara nichts kam. Aber ich wusste genau, dass die anderen sich damit niemals zufriedengeben würden.
»Ich finde, du solltest mit ihm ausgehen«, meinte Jill ganz direkt. »Ihr zwei wärt ein genauso perfektes Paar wie Sara und Jason.« Ich wurde knallrot.
»Apropos Jason«, ergriff ich die Chance. »Was macht er eigentlich heute Abend, Sara?«
Tatsächlich begann Sara von Jason zu schwärmen und lenkte die Mädchen endlich von mir ab. Doch während sie darüber plauderte, wie es war, mit Jason Stark zusammen zu sein, und ihre Freundinnen neugierig zuhörten, glaubte ich plötzlich, neben ihrer Begeisterung noch etwas anderes herauszuhören. Ich konnte nicht genau sagen, was es war. Aber irgendetwas fehlte.
Ich ließ das Stimmengewirr an mir vorbeirauschen und lehnte mich im Fernsehsessel zurück. Aber ich konnte nicht verhindern, dass ich mich fragte, was denn nun eigentlich zwischen Evan und mir vor sich ging.