18 EiNe anDerE diMenSion

»Wir sollten uns beeilen«, sagte Sara, als wir aus dem Kino ins schwindende Tageslicht hinaustraten. »Wir haben nur noch zwei Stunden, um dich herzurichten.«

»Wie lang kann es denn schon dauern, mich herzurichten?«

»Na ja, du musst duschen und dir dabei natürlich die Beine rasieren. Oh, und ich hab dir auch noch was von dieser Lotion gekauft.«

»Ich hab noch was in der letzten Flasche. Und warum kümmert es dich, ob ich mir die Beine rasiere?«

»Na ja, jetzt hast du eben noch mehr davon. Ich mag sie so gern an dir. Sie riecht so dezent und hübsch.«

»Ich mag den Duft auch, danke. Aber du hast mir nicht gesagt, warum ich mich rasieren soll.« Allmählich machte sie mich nervös.

»Du ziehst nachher einen Rock an«, offenbarte sie bedächtig.

»Im Ernst?« Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal einen Rock getragen hatte. Wann mochte das wohl gewesen sein? Aber dann versuchte ich mich an den Zustand meiner Beine zu erinnern. Hatte ich womöglich blaue Flecke oder Kratzer vom Fußballspielen? »Einen Rock?«

»Em, du wirst umwerfend aussehen«, meinte Sara und fügte schnell hinzu: »Aber nicht zu umwerfend. Wir wollen ja schließlich nicht, dass er dich küssen möchte.« Sie hielt inne, sah mich an und seufzte. »Das wird schwieriger, als ich gedacht habe.«

»Ich glaube nicht, dass du dir deswegen Sorgen machen musst«, versicherte ich ihr.

Als wir wieder bei ihr zu Hause waren, begann die große Prozedur. Während ich unter der Dusche war und mir die Beine rasierte, ging Sara ungefähr ihre gesamte Garderobe durch. Was sie am Ende ausgewählt hatte, wollte sie mir allerdings erst zeigen, wenn ich fertig war.

Erst einmal föhnte Sara mich und drehte meine Haare auf Heißwickler. Als ich all die weißen Zylinder auf meinem Kopf sah, geriet ich fast in Panik. Und als sie die Wickler wieder herausnahm, traute ich meinen Augen nicht. Von meinem Kopf baumelten Ringellocken.

»Sara, so kannst du mich doch nicht zu diesem Essen gehen lassen!«, beschwor ich sie.

»Keine Sorge, ich bin ja noch nicht fertig.«

Sie band meine Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen und kämmte den Pony weit in die Stirn. Ich entschied, lieber erst hinzuschauen, wenn sie fertig war, und schloss die Augen, während sie an mir herumzupfte, klammerte und sprayte. Als ich meine Augen wieder öffnete, hatte sie meine Haare zu einem großen, weichen Knoten am Hinterkopf festgesteckt. Dass ich so elegant aussehen konnte, hätte ich mir nie träumen lassen.

Dann gab sie mir den weichsten rosa Pulli, den ich je in den Händen gehalten hatte. Als ich fertig angezogen war, stellte ich mich vor den Ganzkörperspiegel. Der U-Boot-Ausschnitt des eng anliegenden Oberteils gab dezent meine Schulterkuppen frei, der dunkle Rock fiel locker um meine Knie – ein klassischer Vintage-Look, der mir ausnehmend gut gefiel. Zum Schluss legte Sara mir noch eine dünne Silberkette mit einem kleinen schimmernden Diamantanhänger um den Hals und drückte mir ein Paar schwarze Pumps mit mindestens sieben Zentimeter hohen Absätzen in die Hand.

»Absätze?« Ich schnitt eine Grimasse, weil ich mir sofort vorstellte, wie ich vor aller Augen auf die Nase fiel.

»Japp.«

»Sara, ich werde mich umbringen«, entgegnete ich flehend. Ich hatte noch nie hohe Schuhe getragen und wusste, dass der heutige Abend ganz sicher nicht geeignet war für Experimente mit meiner Anmut und meiner Balance.

»Das schaffst du schon. Mach einfach ganz kleine Schritte.«

Ich humpelte langsam im Zimmer herum, und bei jedem Schritt drohten meine Knöchel umzuknicken. So schwankten wir in den Unterhaltungsraum, der über mehr Platz zum Üben verfügte. Als ich das Zimmer mehrmals in seiner vollen Länge behutsam durchquert hatte, klingelte es an der Haustür.

»Ist er das schon?«, fragte ich panisch, und Sara lachte laut.

»Es ist kein Date, erinnerst du dich?«

»Richtig.« Ich atmete tief durch und versuchte mich zu beruhigen.

»Nur ein Abendessen mit seinen Eltern und einem Haufen verklemmter alter Leute.« Sie lachte wieder.

»Emma, Sara!«, rief Anna von unten. »Evan ist hier!« Mir schlug das Herz bis zum Hals.

»Hier.« Sara drückte mir einen langen weißen Wollmantel in den Arm, der mir bis zur Mitte der Wade reichte, und einen Stoffbeutel mit Wechselklamotten für die Party.

»Danke.«

»Versuch dich zu entspannen, Em. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen.«

Ich holte tief Luft und stieg vorsichtig die Treppe hinunter. Schon jetzt hasste ich hohe Absätze, sie waren einfach zu anstrengend. Ich wollte mir keine Gedanken darüber machen müssen, wie ich mich vorwärtsbewegte, es gab schon viel zu viele andere Dinge, um die ich mich kümmern musste. Zum Beispiel, wie ich es fertigbringen sollte, mich in einem Saal voller wohlhabender, übermäßig gebildeter Menschen nicht wie ein Idiot zu benehmen.

Am Fuß der Treppe wartete Evan auf mich, aber ich konnte ihn nicht anschauen, denn ich hatte Angst, ins Straucheln zu geraten, wenn ich den Blick auch nur eine Sekunde von meinen Füßen abwandte. Als ich endlich wieder aufblicken konnte, fiel mir auf, dass seine Wangen gerötet waren und er mich mit diesem Grinsen ansah, das mir für einen Augenblick den Atem raubte.

»Hi.«

»Hi.« Ich lächelte schüchtern.

»Hey, Evan«, rief Sara und kam die Treppe heruntergerannt. »Wie hab ich das gemacht? Ist sie ansehnlich?« Ich warf ihr einen wütenden Blick zu und hätte sie am liebsten dafür umgebracht, dass sie Evan auf diese Weise einen Kommentar zu meinem Äußeren abluchste.

»O ja, sie ist definitiv ansehnlich«, lachte Evan.

»Kennst du meine Eltern, Anna und Carl?«

»Ja, wir sind uns neulich schon begegnet.«

»Viel Spaß heute Abend, Emma«, sagte Anna, umarmte mich sanft und küsste mich auf die Wange. »Du siehst wunderschön aus.«

»Danke«, antwortete ich und wurde rot.

»Wir sehen uns dann bei Jake. Evan, ich hab deine Handynummer, falls wir vor euch da sind«, sagte Sara.

»Fertig?«, fragte Evan mich.

»Klar.« Wir verabschiedeten uns noch einmal und verließen das Haus.

Erst als wir im Auto saßen, sagte Evan: »Du siehst wirklich wunderschön aus.«

»Danke«, murmelte ich.

»Aber du fühlst dich nicht wohl, oder?«

»Überhaupt nicht«, gestand ich mit einem kleinen Lachen. Evan lachte mit, was meine Anspannung etwas milderte.

»Tja, ich werde mich bemühen, dich nicht allzu lange zu quälen. Bringen wir es hinter uns«, sagte er und fuhr los.

»Ich muss dich vorwarnen, ich kann in diesen Schuhen überhaupt nicht laufen. Es könnte jederzeit sein, dass ich umfalle und irgendwas schrecklich Teures kaputtmache.«

Evan lachte. »Dann ist es wohl am besten, wenn ich dafür sorge, dass du dich von allem Zerbrechlichen fernhältst.«

»Wenn es die Möglichkeit gibt, dass ich die ganze Zeit über auf einem Fleck sitzen bleiben kann, wäre das großartig.«

»Mal sehen, was wir tun können. Aber ich fürchte, während der Cocktailstunde werden wir uns in einem Raum aufhalten, in dem die Optionen etwas eingeschränkt sind.«

»Wie bitte?«, fragte ich, verwirrt und verlegen, dass ich nicht wusste, was er damit meinte.

»Sorry, ich hab ganz vergessen, dass du zum ersten Mal dabei bist. Wir treffen uns vor der Veranstaltung mit meinen Eltern, sie warten auf uns, damit wir gemeinsam reingehen können.«

»Aber deine Eltern wissen schon, dass ich komme, oder?« Auf einmal war ich besorgt, dass sie womöglich gar nicht mit mir rechneten.

»Ja, klar. Es kann übrigens sein, dass sie dich als meine Freundin vorstellen. Ich korrigiere sie zwar immer, aber …« Er seufzte. »Na egal, es tut mir jedenfalls leid.«

»Schon okay«, flüsterte ich und spürte, wie mir vor Aufregung ganz heiß wurde.

»Also, die Gastgeber der Party sind Mr und Mrs Jacobs, sie werden alle Gäste an der Tür empfangen. Ich glaube, es sind nur so um die zwanzig Leute eingeladen, also dürfte es nicht schlimm werden.« Nur zwanzig Gäste? Das hieß, ich hatte die Chance, zwanzig Namen zu vergessen, musste zwanzig Hände schütteln und mit zwanzig verschiedenen Menschen Konversation machen – kein sehr angenehmer Gedanke.

Evan fuhr fort, mir den Ablauf des Abends und die von mir erwartete Etikette zu erklären.

»Ich hoffe, dass wir uns nach dem Essen verabschieden können. Als Entschuldigung wollte ich vorbringen, dass wir noch ins Theater wollen oder so. Du kannst einfach zu allem ja und amen sagen, was ich erzähle, okay?«

»Okay.« Offenbar ging es doch nicht nur darum, zu essen und geistlosen Smalltalk zu machen. Die Sache schien deutlich komplizierter. Heute Abend würde ich einen Einblick in Evans Welt bekommen, aber ich hatte keine Ahnung gehabt, wie wenig ich in sie hineinpasste.

»Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du mitkommst«, sagte er und warf beim Fahren einen schnellen Blick in meine Richtung. »Danach bin ich dir echt was schuldig.«

»Ich glaube eher, dass wir dann quitt sind.«

»Vielleicht solltest du mit dieser Aussage lieber warten, bis wir es hinter uns haben.«

Wenige Minuten später hielt Evan hinter einem großen schwarzen Mercedes, der mit laufendem Motor am Straßenrand stand. Als der Wagen vor uns auf die Straße ausscherte, wurde mir klar, dass es wohl Evans Eltern sein mussten.

Wir folgten dem Mercedes durch ein kunstvolles schmiedeeisernes Tor zwischen zwei Steinsäulen auf eine kurvige, von antiken Laternen gesäumte Auffahrt, an deren Ende eine eindrucksvolle weiße Steinvilla in Sicht kam.

Die Vorderfront des Hauses war hell erleuchtet, so dass sich die ganze Pracht des Gebäudes zeigte. Es hatte zwei Stockwerke mit großen Bogenfenstern, aus denen schwach ein warmes Licht schimmerte – sicher ein Zeichen, dass es von edlen, schweren Vorhängen gedämpft wurde. Perfekt geschnittene Hecken schmückten den Rasen, der etwas höher lag als die Auffahrt und von einer kleinen Steinmauer umgeben war.

Ich schluckte, denn mir wurde schlagartig klar, dass ich dieser Situation nicht annähernd gewachsen war – ich befand mich nicht nur in einer anderen Welt, ich befand mich in einer anderen Dimension. Nervös sah ich zu Evan hinüber.

Er sah mich aufmunternd an und meinte: »Mach dir keine Sorgen, es wird im Handumdrehen vorbei sein.«

Wir hielten vor dem Haus, wo uns ein Mann in schwarzem Jackett und Fliege empfing und die Tür auf der Fahrerseite öffnete.

Bevor Evan ausstieg, beugte er sich kurz zu mir und sagte: »Bleib sitzen. Ich helfe dir gleich raus.« Ich rührte mich nicht. Eigentlich wollte ich auch gar nicht aussteigen.

Aber Evan ging um das Auto herum, öffnete meine Tür und hielt mir die Hand hin. Normalerweise hätte ich ihn angeschaut, als wäre er verrückt, aber mit meinen hochhackigen Schuhen nahm ich seine Unterstützung dankbar an. Bei der Steintreppe warteten bereits seine Eltern.

Seine Mutter hatte blonde, zu einem Bob geschnittene Haare und strahlend blaue Augen. Sie trug einen Pelzmantel, und sie glitzerte – noch nie hatte ich so viel Diamantschmuck an einem einzigen Menschen gesehen. Ihre Gesichtszüge waren weich und fein, sie wirkte überhaupt sehr dünn und zerbrechlich. In der Hand hielt sie eine kleine schwarze Tasche, die ebenfalls glitzerte.

Mr Mathews dagegen war eine stattliche Erscheinung, etwas größer als Evan, ihm aber ansonsten auffallend ähnlich, mit den gleichen hellbraunen Haaren und graublauen Augen. Sein Gesicht war kantig und ernst, und über seinem Smoking trug er einen langen schwarzen Mantel.

Ich holte tief Atem, dann trat ich auf die beiden zu und tat mein Bestes, freundlich zu lächeln, während Evan uns miteinander bekannt machte.

»Vivian und Stuart Mathews, das ist …« begann er.

»Emily Thomas«, vollendete Vivian den Satz und streckte mir die Hand entgegen. Ich versuchte, meinen Schock zu verbergen, vor allem darüber, dass mich jemand, den ich noch nie gesehen hatte, Emily nannte. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte ich und schüttelte die zarte Hand. Stuart rührte sich nicht, unternahm keinen Versuch, mich zu begrüßen, geschweige denn, meine Hand zu schütteln.

»Ach, wie hübsch du bist«, stellte Vivian fest, während sie mich von oben bis unten in Augenschein nahm. »Wir lernen Evans Freundinnen ja sonst nie kennen.« Obwohl ich darauf gefasst gewesen war, dass so etwas kommen könnte, machte mein Herz einen Sprung, und ich wurde ein bisschen rot.

Evan verdrehte nur die Augen. »Mom, du hast Beth getroffen, erinnerst du dich?« Er klang sehr ungeduldig.

»Vielleicht mal für eine Sekunde, wenn ihr gerade auf dem Sprung irgendwohin wart«, gab sie zurück. »Jedenfalls freue ich mich auch, dich kennenzulernen, Emily. Wollen wir reingehen?« Irgendetwas an ihr brachte mich dazu, eine aufrechtere Haltung einzunehmen. Aber ich hatte Angst, mich zu bewegen, denn ich wusste ja, wie unbeholfen ich neben dieser Frau wirken würde. Als wir auf die Steintreppe zugingen, warf ich Evan einen ängstlichen Blick zu. Es waren nur drei Stufen, aber für mich hätten es ebenso gut unendlich viele sein können.

Evan bot mir seinen rechten Ellbogen an, und ich setzte vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf die steinernen Stufen – wahrscheinlich ohne ein einziges Mal Luft zu holen –, während Evans Eltern elegant vor uns herschwebten. Oben öffnete sich wie von selbst eine gigantische Holztür vor ihnen, aber die beiden warteten auf uns, bevor sie eintraten.

»Stuart, Vivian!«, riefen eine Männer- und eine Frauenstimme gleichzeitig. »Willkommen! Wie schön, euch zu sehen.« Das Paar – vermutlich Mr und Mrs Jacobs – begrüßte Vivian und Stuart mit einer kurzen Umarmung, einem Küsschen auf beide Wangen und einem herzlichen Händedruck.

»Evelyn, Maxwell – ihr erinnert euch doch sicher an unseren jüngsten Sohn Evan?«, sagte Vivian dann, und die beiden Gastgeber traten beiseite, um uns hereinzulassen.

»Selbstverständlich.« Mr Jacobs begrüßte Evan und schüttelte ihm kräftig die Hand.

»Und das ist seine Freundin Emily Thomas«, fügte Vivian hinzu, und ich lächelte höflich.

»Danke, dass ihr auch gekommen seid«, sagte Mrs Jacobs und nahm meine Hand zwischen ihre beiden kühlen, weichen Handflächen.

»Danke, dass ich kommen durfte«, antwortete ich.

Evan nahm mir meinen Mantel ab und gab ihn einem förmlich bereitstehenden Mann in einem Smoking.

Ich war zu abgelenkt von dem grandiosen Foyer mit den riesigen Kristalllüstern und der breiten, mit rotem Teppich ausgelegten Steintreppe, um zu merken, dass Evan mich anstarrte. Aber dann sah ich erschrocken zu ihm hinüber.

»Was?!«, fragte ich, voller Angst, dass ich bereits den ersten Fehler gemacht hatte.

»Schon wieder ein rosa Pulli, hm? Du bringst mich noch um.«

Ich wurde puterrot. »Evan!«

Aber er schmunzelte nur, während wir seinen Eltern in einen Raum rechts vom Foyer folgten, und ich wiederum hatte nicht die Absicht, ihm zu gestehen, dass ich ihn in seinem dunklen Maßanzug ebenfalls sehr attraktiv fand.

So betraten wir einen großen Raum, in dem ohne weiteres das ganze Erdgeschoss unseres Hauses Platz gefunden hätte, mit einer Decke, die ungefähr so hoch war wie zwei unserer Stockwerke. Die Fenster an der Vorderseite wurden umrahmt von schweren elfenbeinfarbenen Vorhängen, die mit quastenbehangenen Kordeln zur Seite gebunden waren. Die obere Hälfte der Wände war in sanftem Korallenrot tapeziert, darunter befanden sich helle, mit geprägten Blätterranken verzierte Holzpaneele. An drei Wänden hingen museumswürdige Gemälde, die vierte Wand wurde von einem offenen Kamin dominiert, der so groß war wie ich. Tatsächlich gab es nirgends Sitzgelegenheiten. An den Wänden standen zwar ein paar überdimensionale antike Stühle, aber sie dienten ganz offensichtlich nur als Schmuck. Das einzige andere Möbelstück war ein großer Tisch mit einer runden Steinplatte und dunklen Holzbeinen, die in der Mitte zu einem runden Sockel zusammenliefen. Auf dem Tisch prangte ein riesiges Blumenarrangement, das aussah wie ein Baum aus Blumen verschiedener Farbe und Textur – faszinierend.

»Alles klar?«, fragte Evan, während ich mich im Raum umsah.

»Na sicher«, antwortete ich und nickte bedächtig. Er nahm meine Hand und begleitete mich in eine einigermaßen ruhige Ecke des Saals.

»Evan!«, rief eine tiefe, distinguierte Stimme, und ein Mann mittlerer Größe – ein ganzes Stück kleiner als Evan –, mit dunklen, lockigen Haaren und einem dicken schwarzen Schnauzbart kam auf uns zu. »Wie geht es dir? Stuart hat mir schon gesagt, dass du da bist.«

»Wie schön, Sie zu sehen, Mr Nicols«, antwortete Evan und schüttelte dem Mann die Hand. »Mr Nicols, darf ich Ihnen Emma Thomas vorstellen? Wir gehen zusammen zur Schule. Emma, das ist Mr Nicols, er arbeitet für dieselbe Firma wie mein Vater.«

»Hübsches Mädchen«, bemerkte Mr Nicols und nahm meine Hand in seine, während er mich anerkennend musterte. Ich war einigermaßen entsetzt über diese Begrüßung, zwang mich aber trotzdem zu einem höflichen Lächeln. »Evan, du solltest deine Mädchen öfter mal mitbringen.« Dabei knuffte er Evan mit dem Ellbogen, und ich musste mir alle Mühe geben, mir mein Unbehagen nicht deutlicher anmerken zu lassen.

Nach einem kurzen Austausch über Fußball und Evans Reisepläne für den Winter entschuldigte Mr Nicols sich, und ich merkte, dass ich die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte.

»Tut mir schrecklich leid. Ich hatte keine Ahnung – na ja, ich habe es ehrlich gesagt befürchtet. Aber eigentlich halte ich es immer für ausgeschlossen, dass ein Mensch so unhöflich sein kann.«

»Das war jedenfalls interessant.« Mehr konnte ich dazu nicht sagen.

»Möchtest du etwas essen?«, fragte er und sah zu einem Kellner im Smoking hinüber, der ein Silbertablett mit Häppchen hereintrug.

»Nein danke.«

»Es wird im Handumdrehen vorbei sein«, wiederholte er sein Versprechen von vorhin.

»Das hast du schon mal gesagt«, murmelte ich und fragte mich, ob er damit vielleicht ebenso sehr sich selbst zu beschwichtigen versuchte wie mich.

In diesem Augenblick näherte sich Vivian in Begleitung eines korpulenten Mannes mit einer kleinen randlosen Brille. Sein weißer Haarkranz ging kontrastlos in seine blasse Haut über, wodurch die roten Wangen noch stärker auffielen.

»Evan, du erinnerst dich doch bestimmt an Dr. Eckel, nicht wahr?«, stellte Vivian den untersetzten Mann vor.

»Aber selbstverständlich. Schön, Sie wiederzusehen, Dr. Eckel«, sagte Evan freundlich und ergriff die Hand des Mannes.

»Dr. Eckel, das ist Evans Freundin Emily Thomas.«

»Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Miss Thomas«, sagte Dr. Eckel und schüttelte mir vorsichtig die Hand. Ich brachte ein kleines Lächeln zustande.

»Dr. Eckel ist Professor für Biochemie in Yale«, erklärte Evan.

»Oh.« Ich nickte leicht.

»Habt ihr zwei eigentlich viele Kurse zusammen?«, fragte mich Evans Mutter.

»Ja, die meisten.«

»Dann bist du also intelligent, wie wundervoll«, folgerte sie, offensichtlich höchst zufrieden. Mir fiel keine passende Antwort ein.

»Sie ist außerdem eine großartige Sportlerin«, steuerte Evan bei, offensichtlich in dem Bestreben, von dem seltsamen Kommentar abzulenken. »Ihretwegen hat das Mädchen-Fußballteam gestern Abend die Meisterschaft gewonnen.« Aber seine Anerkennung half nichts. Je länger sie über mich sprachen, desto mehr hatte ich das Gefühl, in meinem rosaroten Pulli zu ersticken.

»Herzlichen Glückwunsch«, rief Dr. Eckel. »Haben Sie schon angefangen, nach einem College Ausschau zu halten?«

»Ich habe noch keinen Campus besucht, aber ein paar College-Scouts sind zu meinen Spielen gekommen. Meine erste Wahl ist Stanford.« In dem riesigen Raum klang meine Stimme sehr schwach.

»Ach wirklich?«, mischte Vivian sich interessiert ein.

»Was wollen Sie denn studieren?«, erkundigte sich Dr. Eckel.

»Das weiß ich noch nicht genau.«

»Sie könnte alles machen«, prahlte Evan. »Sie ist in allen Leistungskursen und hat einen super Notendurchschnitt.«

»Hmm«, machte seine Mutter, immer noch fasziniert.

»Nun, ich wünsche Ihnen das Allerbeste«, sagte Dr. Eckel und schüttelte mir noch einmal die Hand. »Evan, es ist mir immer ein Vergnügen.« Dann wandten er und Vivian sich endlich wieder ab, um einen anderen Bekannten zu begrüßen.

Ich versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. »Tu das bitte nicht«, sagte ich zu Evan.

»Sorry, was hab ich denn getan?«

»Es ist mir total unangenehm, wenn du so über mich redest.«

»Aber ich hab nichts gesagt, was nicht der Wahrheit entspricht, und ich hab nicht mal übertrieben. Tut mir leid, wenn es dir schwerfällt, die Wahrheit zu hören.«

Ich holte tief Luft. »Ich bin so etwas überhaupt nicht gewohnt.«

»Ich weiß«, antwortete er, nahm meine Hand, drückte sie sanft und ließ sie auch nicht wieder los.

»Meine Eltern haben gesagt, du würdest kommen«, piepste in diesem Moment eine aufgeregte weibliche Stimme, und ein extrem hübsches Mädchen mit langen blonden Locken in einem figurbetonten schulterfreien Cocktailkleid steuerte auf uns zu. Im Vergleich zu ihr kam ich mir sofort kindisch und unscheinbar vor – Saras Anstrengungen zum Trotz. Das Mädchen fiel Evan um den Hals, gab ihm ein Küsschen mitten auf den Mund, und er ließ meine Hand los, um die Umarmung zu erwidern. Als unbeachtete Zeugin dieser vertrauten Begrüßung verschränkte ich die Hände vor mir und senkte den Blick lieber zu Boden.

»Catherine, das ist Emma Thomas. Wie gehen zusammen zur Schule. Catherine ist die Tochter von Mr und Mrs Jacobs«, machte Evan uns miteinander bekannt.

Mit einem Ruck drehte Catherine sich zu mir um – offenbar hatte sie mich bis zu diesem Moment überhaupt nicht wahrgenommen. Als ich sah, wie sie sich an ihn drückte und die Arme um ihn schlang, verstand ich auch, warum.

»Nett, dich kennenzulernen«, begrüßte sie mich mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken.

»Catherine studiert am Boston College«, erklärte Evan. Anscheinend versuchte er, Catherines Desinteresse irgendwie wettzumachen.

»Gefällt es dir da?«, fragte ich, weil ich das Gefühl hatte, irgendetwas sagen zu müssen.

»Ja«, antwortete sie kurz angebunden, ohne mich richtig anzusehen.

»Ich hab eine Überraschung für dich«, wandte sie sich stattdessen an Evan und schloss mich endgültig aus. »Komm doch mit nach oben, dann kann ich sie dir geben.« Schon griff sie nach seiner Hand, um ihn fortzuzerren, und mir wurde klar, dass ich womöglich gleich alleine hier stehen würde.

Aber Evan ließ sich von ihrer aufdringlichen Art nicht einwickeln. Er sagte Catherine leise etwas ins Ohr, woraufhin beide stehen blieben und sie mich irritiert anschaute. Schmollend strich sie Evan über die Wange, flüsterte ihm ihrerseits etwas ins Ohr und wartete mit einem koketten Lächeln auf seine Reaktion. Als er nur den Kopf schüttelte, zuckte sie die Acheln, küsste ihn noch einmal kurz auf die Lippen und schwebte davon. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Mit erhitztem Gesicht kehrte Evan zu mir zurück.

Ehe er etwas sagen konnte, platzte ich heraus: »Lass nur, das ist schon okay. Ich möchte es überhaupt nicht wissen, es geht mich nichts an.«

Er musterte mich aufmerksam und erwiderte: »Wirklich? Es hat dir nichts ausgemacht?«

Ich zog die Brauen zusammen. »Warum fragst du mich das?«

»Weil sie sich total schlecht benommen hat. Mir hat es etwas ausgemacht, und ich kann gar nicht glauben, dass es dir anders ging.«

Aber ich zuckte nur die Achseln. »Ich hab ja keine Ahnung, womit ich hier rechnen muss.«

»Mit so etwas ganz bestimmt nicht, niemals«, sagte er mit fester Stimme, nahm wieder meine Hand und hob mit der anderen mein Kinn an. Ich konnte kaum atmen, als ich zu ihm aufblickte. »Okay?«

»Sicher«, flüsterte ich und sah weg.

Es war wirklich der seltsamste Abend meines Lebens. Ich war noch nie in einem so schicken Haus gewesen, umgeben von Menschen, die glaubten, mit allem herausplatzen zu können, was ihnen gerade in den Sinn kam, ganz gleich, wie taktlos und widerwärtig es auch sein mochte – und Evan benahm sich, als wäre er mindestens zehn Jahre älter. Er hatte ganz recht – nach dieser Veranstaltung würde mir Jakes Party vorkommen wie ein Kinderspiel.

In dieser längsten Stunde meines Lebens wurde ich noch mit etlichen anderen Leuten bekannt gemacht, die Evan Fragen stellten und ihn gleich darauf unterbrachen, um über sich selbst zu reden. Schließlich, als ich vor lauter geheucheltem Interesse für eine weitere todlangweilige Geschichte schon fast zu schielen begann, erklang eine Glocke, und Mr Jacobs forderte alle dazu auf, sich in den Speisesaal zu begeben.

Tatsächlich stellte ich fest, dass ich nach dem erdrückenden Spektakel am Verhungern war. Wir betraten einen langen, schwach beleuchteten Raum mit den gleichen großen, diesmal von dunkelroten Vorhängen umrahmten Bogenfenstern, durch die man auf die hintere Terrasse hinausblickte. Die obere Hälfte der Wände war mit antiken Spiegeln behängt, die untere ebenso wie im vorigen Raum mit hellem Holz getäfelt. Ein weiterer beeindruckender gemauerter Kamin beherrschte die gegenüberliegende Wand.

Mitten im Raum stand ein langer Tisch aus dunklem Holz, die Fenster auf der einen, der offene Kamin auf der anderen Seite. Um ihn herum standen große Stühle mit gerader Rückenlehne – allerdings waren es eher vierzig als die von Evan vermuteten zwanzig. Die Tafel war mit zartem, goldverziertem China-Porzellan samt passendem Besteck sowie einer Kollektion eleganter Glaswaren gedeckt. In kleinen Silbervasen standen bunte Blumen, und entlang der Tischmitte schimmerten kristallene Windlichter. Über dem Ganzen hing ein atemberaubender Kristalllüster, der alles in ein sanftes Licht tauchte und eine Aura schuf, die vom knisternden Kaminfeuer noch verstärkt wurde.

Evan zog einen Stuhl für mich zurück, bevor er sich zu meiner Linken niederließ. Zu meinem Glück war mein rechter Tischnachbar Dr. Eckel – der einzige Mensch, den ich kennengelernt hatte und der nicht selbstgerecht und unhöflich gewesen war. Andererseits war er offensichtlich auch nicht sehr gesprächig, aber auch das war ganz nach meinem Geschmack.

Leider war mir das Glück jedoch nicht in jeder Hinsicht hold. Auf Evans anderer Seite saß Catherine, die ihren Stuhl sofort näher an seinen heranschob, kurz an ihrem überdimensionalen Weinglas nippte und sich zu ihm beugte.

»Was denn, Evan, trinkst du heute gar nichts?«

»Ich fahre«, erklärte er.

»Das musst du doch nicht«, flüsterte sie, laut genug, dass ich sie hören konnte. Ich setzte mich auf und versuchte mich mit einem Schluck Wasser abzulenken. Ich wagte es nicht, zu den beiden hinüberzuschauen.

»Ach Evan, ich hab dich so vermisst«, hörte ich da ihre atemlose Stimme. Prompt verschluckte ich mich an meinem Wasser, musste husten und konnte nicht wieder aufhören. Die anderen Gäste starrten mich an, während ich mich bemühte, meinen Anfall mit meiner Serviette zu ersticken.

»Sorry«, flüsterte ich und schaute in die erschrockenen Gesichter um mich herum. Natürlich war ich knallrot angelaufen, nicht nur wegen des Hustens, sondern auch wegen des Gesprächs neben mir.

»Geht es wieder?«, fragte Evan und wandte Catherine für einen Moment den Rücken zu.

»Ja«, antwortete ich entschuldigend, »ich hab mich nur verschluckt. Tut mir leid.«

In diesem Augenblick trat eine Kolonne von Kellnern in den Saal, flache Schalen in beiden Händen, die sie simultan vor allen Gästen absetzten. Ein höchst beeindruckendes Schauspiel.

»Fang mit dem Besteck ganz außen an und arbeite dich nach innen vor«, flüsterte Evan mir zu. Ich blickte auf das Silberbesteck hinunter. Wie viel sollten wir denn essen, wenn wir all das brauchten?

»Evan, ignorier mich nicht«, verlangte Catherine bei der Suppe. Anscheinend hörte im allgemeinen Stimmengemurmel, das den riesigen Raum erfüllte, niemand sonst ihr Geflüster, aber ich bekam jedes Wort mit, weil ich direkt neben Evan saß und Dr. Eckel genauso still war wie ich.

»Ich ignoriere dich nicht, Catherine.«

»Wann besuchst du mich denn endlich wieder in Boston?«, fragte sie. »Letztes Mal hatten wir so viel Spaß zusammen. Weißt du noch?« Sie stieß ein schrilles Kichern aus.

Der Ton war so unnatürlich, dass ich zusammenzuckte. Warum lachte sie so gezwungen? Wer machte denn so etwas? Ich verkniff mir das Lachen und musste wieder husten, was mir erneut einige argwöhnische Blicke einbrachte.

»Ich hab zurzeit sehr viel zu tun«, antwortete Evan unterdessen, und auch er warf mir einen kurzen Blick zu. Ich brachte es nicht fertig, ihn anzuschauen.

»Aber wir haben uns nicht mehr gesehen, seit ich im August mit dem Studium angefangen habe. Vermisst du mich denn gar nicht?«

Gespannt wartete ich auf Evans Antwort.

»Ich hatte eine schöne Zeit hier.«

Gut gemacht, Evan.

»Ich kann dir noch was viel Schöneres versprechen. Warum kommst du nicht einfach nächstes Wochenende?«

»Ist da nicht Thanksgiving und du bist zu Hause?«

»Dann besuch mich eben hier.«

»Mein Bruder kommt heim, ich glaube, wir wollen Ski fahren.«

»Evan«, jammerte sie. »Bring mich doch nicht dazu, dich anzubetteln.«

Meinte sie das ernst? Ich trank noch einen Schluck Wasser und versuchte, mein Lachen zu unterdrücken. Zum Glück passierte mir diesmal keine Panne, aber ich stellte fest, dass mein Wasserglas fast leer war. Zu meinem großen Erstaunen wurde es jedoch schon im nächsten Augenblick von einem Kellner im Smoking aufgefüllt, der aus dem Nichts mit einem Silberkrug erschien.

Beim zweiten und dritten Gang war Catherine mit Schmollen beschäftigt. Ich hatte keine Ahnung, was ich eigentlich aß, die aufgetragenen Speisen ähnelten keinem mir bekannten Gericht. Aber ich probierte alles und war angenehm überrascht, dass es mir schmeckte.

»Wie geht es dir?«, fragte Evan und beugte sich zu mir.

»Danke, ganz gut«, grinste ich, aber ich konnte mich ihm immer noch nicht zuwenden, denn dann hätte ich auch Catherine gesehen, und ich war nicht sicher, ob ich dann nicht wieder loslachen musste.

»Und wie geht es dir?«, fragte ich zurück, immer noch grinsend.

»Eigentlich möchte ich gerne gehen«, gab er zu. Das freute mich so, dass ich nicht nur übers ganze Gesicht strahlte, sondern auch ein kurzes lachendes Husten von mir gab.

Beim fünften Gang, den ich als Rindfleisch identifizierte, hatte ich bereits drei Gläser Wasser intus und musste dringend aufs Klo. Doch der Gedanke, vor all diesen Leuten aufzustehen und den Saal zu verlassen, hielt mich auf meinem Stuhl. Schließlich aber wurde der Druck so stark, dass ich keinen Bissen mehr herunterbrachte.

»Ich müsste mal zur Toilette«, flüsterte ich Evan zu.

»Ich weiß nicht genau, wo sie ist«, flüsterte er zurück. »Aber frag doch einen der Kellner, die helfen dir bestimmt.«

Zum Glück lag der Ausgang direkt hinter mir, und ich schob mit angehaltenem Atem meinen Stuhl zurück, der so lautstark über den Boden scharrte, dass alle ihre Gespräche unterbrachen. Ich sah mich entschuldigend um, erntete aber die gleichen genervten Blicke, dich ich schon den ganzen Abend auf mich zog. Hastig erhob ich mich und ging mit aller mir zur Verfügung stehenden Anmut auf die offene Tür zu. Neben der Tür stand eine Frau, ebenfalls im Smoking, die dunklen Haare zu einem strengen Dutt zurückgezurrt.

»Entschuldigung«, flüsterte ich. »Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich die Toiletten finde?«

»Gehen Sie einfach durch die Tür geradeaus zur Treppe, dort finden Sie zu beiden Seiten eine. Es spielt keine Rolle, welche Sie nehmen.«

Ich dankte der Frau und ging durch die Tür, aber als ich über die Schwelle stöckelte, blieb ich mit dem Absatz hängen und verlor mein ohnehin unsicheres Gleichgewicht. Mit ein paar Stolperschritten rettete ich mich ins Foyer hinaus, und es gelang mir tatsächlich, mich zu fangen. Allerdings hallten meine Absätze wie Donnerschläge durch die hohen Räume.

Sofort kam Evan mir nach. »Ist was passiert?«, fragte er besorgt, offensichtlich darauf vorbereitet, mir aufhelfen zu müssen.

»Nein, nein, alles gut«, antwortete ich und reckte mich, zog meinen Pulli über die Hüften und holte kurz Luft, ehe ich meinen Weg zu den Toiletten fortsetzte. Dort blieb ich länger, als notwendig gewesen wäre, fächelte mir Luft zu und versuchte, die auffällige scharlachrote Farbe aus meinem Gesicht zu vertreiben.

Als ich zum Tisch zurückkehrte, war der Rest meines Rindfleisch-Gangs bereits abgeräumt worden, und ein Teller mit kleinen Käseportionen, verziert mit einem Fächer aus Erdbeeren und winzigen Trauben, hatte seinen Platz eingenommen. Catherine hing immer noch halb auf Evans Stuhl und flüsterte unablässig in sein Ohr, während sie ihm zärtlich den Nacken kraulte. Ich sah ihn nicht an und ließ mich schweigend wieder auf meinem Stuhl nieder.

Inzwischen sprach Catherine so leise, dass ich nichts mehr verstand, doch als auch dieser Gang abgetragen wurde, entschuldigte sich Evan, stand auf und verließ mit hochrotem Kopf den Saal. Catherine sah ihm kichernd nach. Unsere Blicke trafen sich. Ich starrte sie fragend an, aber sie lächelte nur geziert, zog eine Augenbraue in die Höhe und nippte an ihrem Wein. Hastig sah ich wieder weg und steckte genervt eine Traube in den Mund.

Kurz darauf kam Evan durch die Tür neben dem offenen Kamin in den Raum zurück und unterhielt sich eine Weile flüsternd mit seinen Eltern, die bei den Jacobs’ am Kopfende der Tafel saßen. Zum Schluss deutete er auf seine Uhr, und seine Mutter gab ihm einen schnellen Kuss auf die Wange. Dann ging er zu Mr und Mrs Jacobs, wechselte auch mit ihnen ein paar Worte und schüttelte ihnen die Hand. Schließlich verschwand er durch dieselbe Tür und kam hinter mir wieder herein.

»Fertig?«, fragte er flüsternd und beugte sich über meine Stuhllehne.

»Aber sicher.« Ich stellte mein Wasserglas auf den Tisch zurück.

Er half mir, meinen Stuhl ohne das grässliche Scharrgeräusch wegzuschieben, und so gingen wir hinaus ins Foyer, wo Evan demselben Gentlemen, der uns vorhin die Mäntel abgenommen hatte, ein Kärtchen reichte, um sie zurückzubekommen.

»Ihr wollt schon gehen?«, fragte Catherine und kam über den Marmorfußboden auf uns zugetänzelt.

»Ja, wir haben noch andere Verpflichtungen«, erklärte Evan sachlich.

»Aber du kommst mich doch bald besuchen, ja, Evan?« Es klang eher wie ein Befehl als wie eine Frage.

Jetzt konnte ich nicht länger an mich halten, und während Evan mir in den Mantel half, fing ich an zu lachen, erst stoßweise, weil ich mich immer noch zu beherrschen versuchte, aber dann brach alles aus mir heraus.

»Lachst du etwa über mich?«, fragte Catherine empört.

»Genaugenommen – ja«, antwortete ich, während mir die Lachtränen über die Wangen rannen. Dann hielt ich mir schnell die Hand vor den Mund, um den nächsten Lachanfall zu unterdrücken, mit dem Erfolg, dass ich knallrot anlief.

Evan lachte ebenfalls und rief: »Gute, Nacht, Catherine!« Dann führte er mich hinaus.

Als die Tür hinter uns ins Schloss fiel, war es endgültig um mich geschehen. Ich krümmte mich vor Lachen und musste mich mit den Händen auf den Knien abstützen, weil ich mich, inzwischen nahezu blind vor Lachtränen, kaum noch auf den Beinen halten konnte. Nach einer ganzen Weile gewann ich meine Fassung so weit zurück, dass ich mir die Augen abwischen und ein paar Schritte vorwärts machen konnte.

Aber dann musste ich plötzlich wieder an Catherines Gejammer und an ihr schrilles Kichern denken, und schon ging es von vorne los – ich brach auf der obersten Steinstufe zusammen und hielt mir den Bauch vor Lachen. Irgendwann konnte ich nicht mehr, holte ein paarmal tief Luft und wischte mir erneut über das Gesicht. Evan stand schon unten und beobachtete mich amüsiert.

»Ich bin froh, dass du es so lustig findest«, sagte er und sah mich an, die Hände tief in den Taschen vergraben.

»Bitte sprich nicht mehr davon«, ächzte ich und gab mir alle Mühe, nicht wieder loszuprusten. »Ich kann nicht mehr lachen, mein Bauch tut weh. Sagen wir einfach, wir sind quitt.«