29 HerZflattErn

»Das Verschwinden ist anscheinend immer noch nicht deine Stärke«, hörte ich seine Stimme hinter mir.

Meine Hand, die den Pinsel hielt, erstarrte auf halbem Weg zur Leinwand und begann zu zittern. Mein Herzschlag stockte. Ich wusste nicht, ob ich stark genug war, mich umzudrehen und ihm gegenüberzutreten.

Doch schließlich schaffte ich es, meine Beine herumzuschwingen.

»Hi«, sagte er lächelnd. Mein Herz flatterte.

»Hi«, flüsterte ich zurück und zwang mich, ruhig und regelmäßig zu atmen.

»Als ich dich in der Cafeteria nicht gefunden hab, dachte ich, du bist entweder hier oder im Journalistik-Raum.«

Ich konnte nur stumm nicken. Sein Anblick hatte mir die Sprache verschlagen.

»Was machst du denn hier?«, brachte ich nach einiger Zeit mühsam heraus, allerdings kaum hörbar, da ich immer noch nicht richtig Luft bekam.

»Ich hab nach dir gesucht«, antwortete er mit seinem vertrauten Grinsen. Mein Herz schlug schneller, und meine Wangen wurden rot. Ich konnte nur stumm in seine strahlenden graublauen Augen starren, voller Angst, dass er, sobald ich wegsah, verschwinden würde. Bitte sei keine Halluzination.

»Tut mir leid, dass dein Basketballteam im Halbfinale verloren hat«, sagte er beiläufig. Er redet über Basketball? Dann konnte er keine Halluzination sein.

»Danke«, murmelte ich und zwang mich zu einer Art Lächeln. Komm schon, Hirn, lass mich jetzt nicht im Stich – sag irgendwas Geistreiches!

»Dir hat es wohl die Sprache verschlagen, was?« Er lachte. Offensichtlich fand er meine Unfähigkeit, zusammenhängende Sätze zu bilden, sehr amüsant.

»Ich bin froh, dass ich …« Wieder verlor ich den Faden und warf frustriert die Hände in die Luft, wobei ich leider vergaß, dass ich einen Pinsel in der Hand hielt. Grüne Farbe spritze auf sein graues Hemd. Mit großen Augen sah er auf den Fleck hinunter. Ich hielt den Atem an und presste den Mund zusammen. Aber dann konnte ich mich plötzlich nicht mehr zusammenreißen und kicherte.

»Das findest du also lustig?«

Ich biss mir auf die Unterlippe, konnte aber nicht aufhören zu lachen.

»Na, mal sehen, wie lustig du das findest.« Damit beugte er sich vor und schmierte sich blaue Farbe auf die Hände. Mir war klar, was er vorhatte, und ich sprang von meinem Stuhl auf, um seiner Rache zu entgehen.

»Evan, nein, bitte nicht«, flehte ich, dann ergriff ich die Flucht.

Gerade als ich um die Kurve zur Dunkelkammer gebogen war, holte er mich ein und packte mich mit seinen blauen Händen von hinten um die Taille. Er hielt mich fest, als wollte er mich nie wieder loslassen, drehte mich zu sich herum, und ich blickte hingerissen in seine graublauen Augen. Immer näher zog er mich zu sich. Kurz bevor mir bewusst wurde, was geschah, fing mein Herz Feuer und begann wild zu pochen. In meinem Kopf drehte sich alles. Evan legte seine feuchte blaue Hand an meine Wange und beugte sich zu mir herunter.

Ein Lichtblitz fuhr durch meinen Körper, als seine Lippen sich auf meine legten. Ich atmete seinen Duft ein und ließ mich von ihm – seinem Kuss, seiner Berührung – mitreißen. Viel zu bald löste er sich von mir und musterte mich prüfend. Ich blinzelte und versuchte, wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen.

»Emma?«, hörten wir in diesem Moment Ms Miers Stimme aus dem Kunstraum.

Evan zog die Augenbrauen hoch und verdrückte sich schnell in die Dunkelkammer. Ich brauchte einen Moment, bis ich wieder einigermaßen klar denken konnte.

»Hi, Ms Mier«, antwortete ich dann mit viel zu schriller Stimme, nahm allen Mut zusammen und ging mit rotem Kopf zu ihr.

»Oh, hi«, rief sie und lächelte mir zu, während sie irgendwelche Papiere von ihrem Schreibtisch zusammensammelte. »Ich wollte nur schnell ein paar Sachen holen. Kannst du bitte abschließen, wenn du gehst?«

»Klar«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.

Ihr Lächeln wurde breiter.

»Die Farbe steht dir«, meinte sie.

Falls das überhaupt möglich war, wurde mein Gesicht noch heißer, und ich sah verlegen zu den Handabdrücken auf meinem weißen T-Shirt hinunter.

»Nein, nein, ich meinte das Rot.«

Damit ging sie und steckte den Schlüssel ins Schloss. Ich sah ihr mit großen Augen nach.

Bevor sie die Tür hinter sich zuzog, warf sie mir noch einen Blick zu und meinte: »Richte Mr Mathews einen Gruß von mir aus, es freut mich, dass er wieder da ist.«

Ich war perplex. Reglos stand ich da und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Dann entschied ich mich, mit der Grübelei aufzuhören, und das zu tun, was ich schon vor Monaten hätte tun sollen.

Ich marschierte in die Dunkelkammer. Als ich hereinkam, stand Evan neben dem Spülbecken und trocknete sich mit einem Papiertuch die Hände ab. Ich schloss die Tür hinter mir und lehnte mich dagegen, für einen Moment wie gelähmt. Er warf das Papiertuch in den Mülleimer und wandte sich mir zögernd zu.

Meine Brust hob und senkte sich krampfhaft, das Herz klopfte mir bis zum Hals. Er las mir an den Augen ab, was ich von ihm wollte, und kam mir entgegen. Wie von selbst legten sich meine Arme um seinen Hals, und er zog mich an sich. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, reckte mich ihm entgegen, und dann küsste er mich endlich. Seine Hände umfassten meine Taille fester, seine Lippen öffneten sich, sein Atem strömte warm in meinen Mund. Mein Herz machte einen Satz, als seine Zungenspitze zwischen meine Lippen glitt. Sein Kuss war fest, aber zärtlich, sein Mund drückte sich mit einer langsamen, atemlosen Bewegung auf meinen. Funken sprühten durch meinen Kopf die Wirbelsäule hinunter, und meine Beine begannen zu zittern.

Ich senkte das Gesicht an seine Brust. Er hielt mich fest, legte das Kinn auf meinem Kopf, und ich lauschte seinem Herzschlag. Eine einzelne Träne kullerte mir über die Wange, doch ich wischte sie schnell weg und versuchte mich daran zu erinnern, wie man atmet.

»Das Warten hat sich gelohnt«, flüsterte er. Grinsend fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: »Du hast mich wohl vermisst, was?«

Ich sah ihn an und antwortete neckend: »Ich hab’s überlebt.«

»Das hab ich gehört.«

Ich löste mich ein Stück von ihm und musterte ihn misstrauisch.

»Ich hab immer noch Freunde hier«, erklärte er. Im selben Moment klingelte es, der Schultag war zu Ende. »Hast du heute schon was vor? Musst du nach Hause?«

»Nein, ich übernachte bei Sara.«

»Ach ja? Meinst du, es macht ihr was aus, wenn ich dich für ein paar Stunden entführe?«, fragte Evan, offensichtlich erfreut. Während ich zum Spülbecken hinüberging, um mir den Handabdruck von der Wange zu waschen, lehnte er entspannt am Türrahmen.

Mein Herz schlug schneller.

»Äh, ich denke, sie wird schon eine Weile ohne mich klarkommen«, antwortete ich und wandte mich ihm zu. »Woran hast du gedacht?«

»Wir müssen reden. Ich hätte mir keine schönere Begrüßung wünschen können, aber es gibt ein paar Dinge, die ich klären möchte, bevor es wieder zu Missverständnissen kommt.«

Ich zuckte zusammen. Konnten wir nicht einfach bei der perfekten Begrüßung bleiben? Mein Magen verkrampfte sich, ich konnte mir nur zu gut denken, was Evan mir sagen wollte. Aber schlimmer als die Vorwürfe, die ich mir selbst seit seinem Verschwinden gemacht hatte, konnte es eigentlich auch nicht werden.

»Dann bleibst du also hier?«, erkundigte ich mich zaghaft.

»Ja«, antwortete er. »Auch darüber wollte ich mit dir sprechen.«

»Super«, stieß ich hervor und zog den Reißverschluss an meiner Kapuzenjacke zu, um die blauen Handabdrücke und den grünen Fleck darauf zu verbergen.

Evan lachte. »Nur keine Panik. Ich bin hier, oder?« Er ergriff meine Hände, und die Wärme seiner Berührung wanderte durch meinen ganzen Arm.

 

Die Schulkorridore waren schon fast leer. Aber es folgten uns immer noch genügend verwunderte Blicke, als wir zusammen den vertrauten Weg zu meinem Spind einschlugen.

Wenn jemand ihn erkannte und »Hallo, Mathews!« rief, nickte Evan zwar freundlich, hielt aber nicht an. Ich war im Grunde ebenso erstaunt wie alle anderen, dass er neben mir herschlenderte, und wenn er nicht meine Hand gehalten hätte, wäre ich wahrscheinlich immer noch überzeugt davon gewesen, dass ich das Ganze nur träumte.

»Er hat dich also gefunden«, begrüßte uns Sara, als wir uns den Spinden näherten. »Ich hatte schon Angst, ihr hättet euch gegenseitig aus dem Fenster geschubst – aber danach sieht es ja nicht gerade aus.« Sie blickte auf unsere ineinander verschränkten Hände und lächelte.

»Wir gehen …«, setzte ich an. »Wohin gehen wir überhaupt?«, fragte ich Evan.

»Wir müssen reden«, erklärte er. »Kann ich Emma in ein paar Stunden zu dir nach Hause bringen, Sara?«

»Meine Eltern gehen heute schon wieder aus. Wenn du willst, kannst du den Abend gern mit uns verbringen. Vorher musst du allerdings versprechen, dass du Em nicht noch unglücklicher machst, als sie es die letzten drei Monate ohnehin war.«

Evan zuckte zurück, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. Ich starrte Sara mit offenem Mund an und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Was denn?«, erwiderte sie. »Ich sag doch nur …«

»Genug«, unterbrach ich sie. »Das war mehr als genug.«

Ich warf Evan einen Blick zu; er sah blass aus. Bevor er mir die Wahrheit am Gesicht ablesen konnte, wandte ich mich schnell meinem Spind zu und kramte meine Bücher heraus.

»Dann sehen wir uns später?«, erkundigte sich Sara in freundlicherem Ton.

»Klar«, antwortete ich kurz angebunden, immer noch schockiert von ihrer unverblümten Ehrlichkeit.

Ohne ein weiteres Wort marschierte sie den Korridor hinunter und ließ mich mit Evan allein.

»Was meinte sie damit?«, fragte Evan, als sie außer Sicht war.

»Sie spinnt nur rum.« Ich wünschte, er würde ihre Bemerkung vergessen, aber sie ließ ihn offensichtlich nicht los.

Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Hm. Anscheinend erging es dir auch nicht besser.«

Fragend sah ich zu ihm auf.

»Ich werde dir alles erklären«, versicherte er mir. »Bereit?«

»Sicher«, nickte ich, obwohl seine Bemerkung mir Angst gemacht hatte.

Evan nahm wieder meine Hand, während wir zu seinem Auto gingen. Auf der Fahrt sagte ich nicht viel, denn das bevorstehende Gespräch nahm alle meine Gedanken in Anspruch. Als wir in seine Auffahrt einbogen, wunderte ich mich nicht besonders. Mir wäre auch kein besserer Ort für unsere Beichte eingefallen.

Bevor Evan die Fahrertür öffnete, hielt ich ihn am Arm zurück.

»Können wir nicht einen Tag lang deine Rückkehr genießen, bevor wir uns den unangenehmen Dingen zuwenden?«, fragte ich zaghaft.

Meine Frage amüsierte Evan – ich hätte es mir denken können.

»Ich hab mir drei Monate lang den Kopf darüber zerbrochen – bitte lass mich sagen, was ich zu sagen habe.« Er lächelte mir beruhigend zu. »Keine Sorge; es wird einfacher, wenn wir reden.«

Davon war ich ganz und gar nicht überzeugt.

Widerstrebend folgte ich ihm ins Haus. Ich war etwas überrascht, dass er den Korridor entlang und die Treppe zu seinem Zimmer hinaufging. An der Tür blieb ich stehen und zögerte. Evan stand neben seinem ordentlich gemachten Bett und wartete auf mich.

»Ich wollte dir zeigen, dass ich wirklich wieder da bin«, erklärte er.

Ich blickte mich in seinem Zimmer um, und tatsächlich waren die Regale mit Büchern und anderen persönlichen Dingen bestückt. Kein einziger zugeklebter Umzugskarton mehr.

»Ich hab alles ausgepackt.«

Damit verließ Evan das Zimmer wieder, und ich folgte ihm weiter durch das Haus und in die ausgebaute Scheune. Mein Magen rumorte vor Aufregung, als ich mich ihm gegenüber auf die Couch setzte. Ich zog die Schuhe aus, stützte das Kinn auf die Knie und sah ihn erwartungsvoll an.

»Was ich dir sagen will, betrifft nicht nur die drei Monate, die ich weg war«, begann er und zupfte nervös an der Polsternaht herum. »Ich hätte es dir schon sagen sollen, bevor ich weggezogen bin, damals, als wir nicht miteinander geredet haben.« Er stockte, holte tief Luft und blickte mir dann direkt in die Augen. Ich wartete, atemlos vor Anspannung.

»Ich liebe dich.«

Mein Herz hämmerte laut in meinen Ohren. Das hatte noch nie jemand zu mir gesagt.

»Es war falsch, wie ich mich dir gegenüber verhalten habe. Ich hätte nicht so ausrasten dürfen, und das tut mir wirklich leid. Ich hab Dinge gesagt, die ich nicht so meinte, und dich dann sitzengelassen. Ich habe dich praktisch in Drew Carsons Arme getrieben, und das hat mich beinahe umgebracht.«

Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber er ließ mich nicht zu Wort kommen.

»Ich weiß, dass es meine Schuld war. Mach dir keine Vorwürfe, Emma. Am schlimmsten war es, als ich im Krankenhaus gewartet und nicht gewusst habe, ob du wieder zu dir kommst. Ich konnte an nichts anderes denken als an deinen bewusstlosen Körper auf dem Boden der Sporthalle.«

Ich senkte den Blick, weil ich nicht mehr in sein trauriges Gesicht sehen konnte. Mit zitternden Händen fingerte ich an meiner Jeans herum.

»Das war der schrecklichste Moment meines Lebens. Und als du mich dann nicht sehen wolltest …« Evan hielt inne, um noch einmal tief durchzuatmen. Ich schaute zu ihm auf und sah, wie sein Finger nervös über die Polsternaht strich. »Da wusste ich, dass ich alles vermasselt hatte. Wenn ich nicht für dich da sein konnte … wenn du nicht wolltest, dass ich für dich da war, dann konnte ich nicht hierbleiben. Deshalb bin ich gegangen.

Aber ich hab es nicht ausgehalten. Mit ein paar Jungs von hier bin ich in Kontakt geblieben, und wenn sie mir von ihrem Wochenende erzählt haben, ist hin und wieder dein Name gefallen. Mal hat mir einer gesagt, dass er dich auf einer Party gesehen hat, mal haben sie über Basketball geredet. Sie wissen, dass ich dich mag, darum haben sie dich immer wieder erwähnt – und ich wollte alles über dich hören. Na ja … bis auf das eine Mal.«

Erschrocken sah ich zu ihm auf, doch er wich meinem Blick aus.

»Bist du über ihn hinweg?«

»Du meinst über Drew?«, hakte ich nach.

»Ja.«

Ich stieß ein humorloses Lachen aus, und er sah mich erstaunt an. »Ja, ich bin voll und ganz über ihn hinweg.«

»Hat er nicht mit dir Schluss gemacht?«, fragte Evan, immer noch verwirrt.

»Ich hab die Leute glauben lassen, was sie wollen«, gestand ich und begegnete endlich Evans Blick. »Das hat ja auch jemand, den ich kenne, so gemacht.«

Er hatte anscheinend keine Ahnung, wovon ich sprach.

»Ich hab mit ihm Schluss gemacht … oder nein, eigentlich hast du mit ihm Schluss gemacht«, erklärte ich. Aber ich merkte sofort, dass Evan mir nicht folgen konnte, und versuchte es noch etwas deutlicher: »Es hat sich rausgestellt, dass ich nicht über dich hinweg war.«

»Dann hast du nicht …« Evan musterte mich – offenbar war er sich unsicher, wie er den Satz beenden sollte. Erschrocken sah ich ihn an. Ich wusste genau, was er mich fragen wollte.

»Mit ihm geschlafen?! Nein!« Ich wurde knallrot vor Verlegenheit.

»Sorry«, sagte er mit einem erleichterten Lächeln. »Aber ich hab gehört …«

»Ja, ebenso wie der Rest der Schule«, seufzte ich. »Das war schrecklich.«

Evan lachte kurz auf.

»Wie schön, dass du dich immer noch über meine persönlichen Katastrophen amüsieren kannst«, fauchte ich.

»Tut mir leid. Ich hab mir nur gerade dein Gesicht vorgestellt, als du die Gerüchte gehört hast«, erklärte er mit einem kleinen Grinsen. »Wahrscheinlich sah es so ähnlich aus wie gerade eben«, meinte er und fing wieder an zu lachen.

Ich versuchte, ihm einen bösen Blick zuzuwerfen, scheiterte aber kläglich.

»Die Sache mit Drew war nicht deine Schuld«, sagte ich leise und viel ernster, als ich beabsichtigt hatte. Evan hörte ruhig zu. »Ich war wütend. Ich hab dir Dinge unterstellt. Und ich dachte, ich hätte mehr zwischen dir und Haley gesehen, als wirklich passiert ist.«

»Ich …«, setzte Evan an.

»Ich weiß«, unterbrach ich ihn. »Und es tut mir leid, dass ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, du wärst an ihr interessiert. So vieles wäre anders gekommen, wenn ich nicht … ich dachte, du hasst mich.«

Er starrte mich schockiert an.

»Ich dachte, ich hätte dich verloren, als du mich mit Drew gesehen hast. Ich dachte, du könntest es nicht mehr ertragen, in meiner Nähe zu sein«, flüsterte ich und begann wieder, an meiner Jeans herumzuspielen. »Diesen dummen Kuss habe ich sofort bereut, ich war stinksauer auf mich selbst. Ich kann mir vorstellen, wie du dich gefühlt haben musst. Es tut mir so leid.« Tränen stiegen mir in die Augen, als ich an meinen Wutausbruch in der Mädchentoilette dachte und daran, wie dieses Gefühl monatelang in mir rumort hatte, doch ich blinzelte sie schnell weg.

Evan rutschte näher zu mir, zog meine Beine über seinen Schoß und zwang mich, ihn anzusehen.

»Ich hab dich nicht gehasst«, sagte er mit fester Stimme. »Ich könnte dich nie hassen.«

Damit beugte er sich zu mir und gab mir einen zärtlichen Kuss auf den Mund. Danach brauchte ich einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen.

»Und was jetzt?«, fragte ich leise.

»Ich bleibe hier, bei dir … wenn du mich haben willst«, antwortete er mit einem warmen Lächeln. Ich knuffte ihn in den Arm. »Was denn? Ich wollte nur sichergehen«, verteidigte er sich.

»Natürlich will ich dich hier haben!«, erwiderte ich.

Er lächelte erneut.

»Dann gibt es nur noch eines zu besprechen.« Sein Ton wurde wieder ernst. »Ich weiß, dass du nicht darüber reden willst, was bei dir zu Hause los ist. Ich hätte nicht versuchen sollen, dich dazu zu zwingen, und was ich damals über dich gesagt habe, war falsch. Du bist viel stärker, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich verstehe, warum es dir schwerfällt, darüber zu reden. Sara hat mir gesagt, dass du selbst mit ihr nur selten darüber sprichst, aber ich weiß es …«

Ich hatte Schwierigkeiten, ihm zuzuhören. Mein Inneres fühlte sich an wie zu Eis erstarrt. Hätte er dieses Thema doch bloß nicht angesprochen.

»Aber auch wenn du es mir nicht sagen willst oder kannst – ich weiß Bescheid. Und Emma, ich halte es nicht noch einmal aus, in einem Wartezimmer zu sitzen und nicht zu wissen, ob du überlebst.«

»Ich bin gestürzt …«, setzte ich an.

»Bitte lass das«, unterbrach er mich. »Ich weiß Bescheid, auch ohne dass ihr es mir erklärt. Lüg mich bitte nicht an, selbst wenn du mir nicht die Wahrheit sagen kannst. Bitte verteidige deinen Onkel und deine Tante nicht, tu nicht so, als wäre alles okay. Denn das ist es nicht. Ich werde nicht zulassen, dass sie dir noch einmal weh tun. Nur damit du es weißt – ich werde dich von hier wegbringen, wenn ich auch nur den Verdacht habe, dass …«

»Evan«, unterbrach ich ihn. »Es ist alles okay. Ehrlich. Seit dieser ganzen Sache lässt es sich zu Hause ganz gut aushalten. Sie nehmen mich kaum noch wahr, und am Wochenende bin ich fast immer bei Sara. Erst durfte ich nur samstags bei ihr bleiben, aber jetzt auch freitags. Es ist nicht mehr wie früher, also mach dir keine Sorgen. Okay?«

Er antwortete nicht.

»Okay?«, wiederholte ich und zwang ihn, mich anzusehen.

»Ja«, flüsterte er.

Ich strich ihm zärtlich über die Wange, sah ihm direkt in die Augen und bat ihn wortlos, mir zu glauben. Er nahm meine Hand und küsste sie, und wieder begann mein ganzer Arm zu prickeln.

»Dann ist zwischen uns alles in Ordnung?«, vergewisserte ich mich.

Ein warmes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ja, alles bestens.«

Er beugte sich erneut zu mir, und diesmal verharrten seine Lippen deutlich länger auf meinen. Dann zog er mich auf seinen Schoß. Atemlos, mit wild klopfendem Herzen schlang ich die Arme um seinen Hals, sein Mund glitt zärtlich über meinen, und als ich meine Lippen öffnete und seinen heißen Atem spürte, durchflutete mich eine große Erregung. Mit einem leisen Stöhnen schlang ich die Beine um seine Hüften und schmiegte mich dichter an ihn. Aber plötzlich wich Evan ein Stück zurück und musterte mich grinsend.

»Was ist?«, fragte ich, völlig verunsichert wegen seines Rückziehers.

»Ich bin noch nicht mal einen Tag wieder hier.«

Verlegen biss ich mir auf die Unterlippe.

»Stimmt«, sagte ich leise und senkte die Augen. »Sorry.« Langsam kletterte ich von seinem Schoß und setzte mich neben ihn auf die Couch.

Evan lachte.

»Hör auf«, schmollte ich und versetzte ihm einen Tritt ans Schienbein. »Schließlich hab ich eine Ewigkeit darauf gewartet, dich zu küssen.«

Er lachte wieder. »Du hast mich ja auch nur überrascht, weiter nichts.« Dann schaute er auf die Uhr.

»Wir sollten zu Sara fahren, bevor sie ernsthaft glaubt, wir hätten einander doch aus dem Fenster geschubst. Apropos …«

»Nicht jetzt, okay?«, flehte ich, denn ich wollte nicht an Saras Kommentar über meine monatelange Traurigkeit denken.

»Okay«, stimmte Evan nach kurzem Zögern zu und studierte mein Gesicht eindringlicher, als mir lieb war.

»Was willst du heute Abend machen?«, fragte ich betont munter, um die ernste Stimmung zu vertreiben. »Lust auf einen Filmabend bei Sara?«

»Schläfst du dabei wieder ein?«

»Wahrscheinlich.«

Tatsächlich schlief ich bereits nach einer Stunde tief und fest. Doch plötzlich fand ich mich in meinem Albtraum wieder. Ich erinnerte mich nicht daran, dass ich in Evans Armen auf der Couch eingeschlafen war, sondern glaubte, das ganze Drama noch einmal durchstehen zu müssen.

»Ich bin bei dir«, hörte ich ihn flüstern.

Beim Klang seiner Stimme fuhr ich mit einem Ruck hoch.

»Emma?«

Ich saß kerzengerade auf dem Sofa, die Finger fest ins Polster gekrallt, mein Herz hämmerte. Evan strich mir sanft über den Rücken.

»Alles in Ordnung?«

»Du bist wirklich hier?«, flüsterte ich erleichtert und starrte ihn an.

Zärtlich wischte er mir eine Träne von der Wange.

»Ja, ich bin hier«, tröstete er mich. Ein schmerzlicher Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, als er merkte, was mit mir los war. »Und ich gehe auch nicht wieder fort.«

Noch ganz benommen starrte ich ihn an. Konnte es wahr sein, dass ich nicht träumte und er wirklich wieder bei mir war?

»Komm her.« Er zog mich an seine Brust und hielt mich in den Armen, bis ich wieder eingeschlafen war.

 

Am nächsten Morgen erwachte ich in den Klamotten vom Vortag. Erschrocken setzte ich mich auf.

»Entspann dich«, beruhigte mich Sara, die im Bett neben mir lag. »Du siehst ihn schon heute Abend wieder. Ich hab ihn überredet, mit uns auf eine Party zu gehen.«

Erleichtert legte ich mich wieder hin. Ich hatte Evans Rückkehr nicht bloß geträumt.

»Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, wie ich ins Bett gekommen bin.«

»Du hattest Hilfe«, erklärte Sara grinsend. »Ich wollte dich nicht aufwecken, als ich gestern nach Hause gekommen bin. Er hat dich rübergetragen.«

Mein Herz machte einen Satz bei der Vorstellung, dass Evan mich ins Bett gelegt hatte.

»Wie war’s bei Maggie?«, fragte ich und rollte mich auf die Seite, um sie anzusehen.

»Schön«, antwortete sie ziemlich desinteressiert. »Also, was ist passiert? Ich hab eine Stunde darauf gewartet, dass du endlich aufwachst. Ich war kurz davor, auf dein Bett zu springen. Hat er dich endlich geküsst?«

»Sara!«, rief ich entsetzt.

»Na endlich!« Ein freches Grinsen erschien auf ihrem Gesicht – offensichtlich brauchte sie keine Bestätigung. »Wie war es?«

»Lass den Quatsch«, beharrte ich.

»So gut, ja?«

»Könntest du vielleicht meine Antworten abwarten, anstatt einfach irgendwas anzunehmen?«

»Wirst du mir denn antworten?«

Ich überlegte angestrengt, wie viel ich ihr erzählen konnte, ohne allzu sehr in Verlegenheit zu geraten.

»Hör auf zu strahlen und schieß los! Du hast vor einer Million Jahren geschworen, dass es nicht passiert ist, wenn du es mir nicht erzählst.«

Damit hatte sie wohl recht.

»Also schön«, gab ich seufzend nach, setzte mich wieder auf und kreuzte die Beine. »Ja, wir haben uns geküsst. Genauer gesagt hat er mich geküsst, bevor ich auch nur einen einzigen Satz rausgebracht habe.«

»Echt jetzt?«, rief Sara aus. »Und …?«

»Ich glaube nicht, dass ich es angemessen beschreiben könnte«, meinte ich nachdenklich. »Es war besser, als ich es mir je hätte vorstellen können.«

»Natürlich«, sagte Sara mit einem lauten Schnauben. »Es hat nur ewig gedauert, bis du dich endlich darauf eingelassen hast. Wenn du auf mich gehört hättest, wärst du schon vor dem Ende der Fußballsaison um diese Erfahrung reicher gewesen.«

»Danke, Sara«, erwiderte ich sarkastisch und warf ein Kissen nach ihr.

»Worüber wollte er mit dir reden?«, fragte sie, offenbar entschlossen, wirklich alles aus mir herauszukitzeln.

»Kurz gesagt, haben wir beide uns selbst die Schuld dafür gegeben, dass er weggegangen ist«, fasste ich zusammen. Dann erzählte ich ihr ausführlich von unserem Gespräch und versuchte gleichzeitig, mir die Peinlichkeit der Situation nicht allzu genau vor Augen zu führen.

Als ich bei Evans Frage, ob Drew und ich miteinander geschlafen hätten, angelangt war und ihr meine Reaktion schilderte, fing Sara an zu lachen.

»Was findet ihr zwei eigentlich so lustig daran, dass ich deswegen schockiert war?«

»Ich schätze, wir wissen beide, wie du auf peinliche Situationen reagierst – das ist manchmal ziemlich unterhaltsam. Sorry«, erklärte sie grinsend. »Was habt ihr jetzt vor?«

»Na ja, wir waren uns einig, dass zwischen uns alles in Ordnung ist. Er bleibt hier. Das Beziehungsgespräch haben wir noch nicht geführt, falls du darauf hinauswillst, aber ich glaube, das wäre bei mir und Evan auch überflüssig.«

»Weil er dir schon gesagt hat, dass er dich liebt, stimmt’s?«

Mein Gesicht lief knallrot an, und ich musste mir ein Lächeln verkneifen.

»Also stimmt’s«, folgerte Sara.

»Was haben wir heute Abend noch mal vor?«, wechselte ich hastig das Thema.

»Wir gehen shoppen«, erklärte sie. Ich stöhnte. »Keine Widerrede. Meine Mutter hat uns beiden Geschenkgutscheine für die Mall gegeben. Es wird höchste Zeit, dass du dir deinen eigenen rosa Pullover besorgst.«

Das überzeugte mich.

»Anschließend gehen wir zu Ashley Bartletts Party. Wird wohl ein ziemlich großes Ereignis – nur damit du gewarnt bist.«

»Na prima«, brummte ich, fühlte mich jedoch gleich besser, als Sara hinzufügte, dass Evan uns abholen und mit uns zusammen zur Party fahren würde.

 

Während Sara meine Haare zu einem lockeren Knoten zusammenzwirbelte, fragte ich: »Sara, du hast in letzter Zeit überhaupt keinen Jungen erwähnt. Wie läuft es denn so bei dir?«

»Ich weiß auch nicht«, antwortete sie seufzend. »Vielleicht hab ich die ganzen Spielchen allmählich satt. Ich glaube nicht, dass ich an unserer Schule jemanden finden werde. Dabei fällt mir ein – wir fahren nächstes Wochenende nach New York. Wir übernachten bei meinem Cousin in Rutgers und fahren am Samstag zur Cornell University, um uns den Campus anzusehen und den Coach zu treffen. Wer weiß, vielleicht lerne ich ja einen College-Typen kennen!«

»Wie bitte – was haben wir vor?« Mir blieb die Luft weg.

»Sorry, ich hab ganz vergessen, es zu erwähnen. Dein Onkel denkt, meine Eltern würden mitkommen, das tun sie aber nicht. Also pass auf, dass du nicht beim Lügen erwischt wirst.«

Fassungslos starrte ich sie an.

Ehe ich überhaupt daran denken konnte, dass ich das nächste Wochenende wohl ohne Evan verbringen würde, fügte sie mit einem kleinen genervten Stöhnen hinzu: »Keine Angst, Evan trifft sich Samstagabend in der Stadt mit uns, ich hab ihn gestern Abend gleich gefragt.«

»Aber ich hab doch gar nichts gesagt«, protestierte ich.

»Das war auch nicht nötig«, meinte sie und verdrehte die Augen. »Em, ich bin froh, dass er wieder da ist – das weißt du doch, oder?«

»Ja«, antwortete ich etwas zurückhaltend, denn ihr Ton beunruhigte mich.

»Ich will nur dafür sorgen, dass dir nichts passiert, wenn Carol und George es herausfinden.«

»Ich bin mit Drew zusammen gewesen, ohne dass sie etwas davon gemerkt haben«, erinnerte ich sie. Mir war nicht ganz klar, worüber sie sich Gedanken machte.

»Das war was anderes«, erklärte sie. »Die Sache mit Evan kannst du nicht geheim halten. Jeder, der dich sieht, weiß sofort, dass irgendwas im Busch ist – du strahlst dermaßen. Deshalb musst du mir versprechen, gut auf dich aufzupassen, hörst du?«

Sara wirkte so nervös, dass ich mit meiner Antwort zögerte. Es würde doch nichts Schlimmes passieren, oder? Ich musste einfach daran glauben.

»Ich versuch’s«, antwortete ich schließlich wahrheitsgemäß. »Sara, du hast mir bei Janet doch erzählt, warum du mit Jared ausgegangen bist. Ich habe viel darüber nachgedacht, und ich glaube, ich muss es genauso machen. Ich möchte lieber riskieren, dass es zu Hause Ärger gibt, als mir die Chance entgehen zu lassen, mit Evan zusammen zu sein.«

»Aber für dich ist das Risiko wesentlich größer«, erwiderte sie, immer noch besorgt. »Für dich steht viel mehr auf dem Spiel, wenn Carol es erfährt.«

»Ich werde es überleben«, versicherte ich ihr. Sara schien nicht zufrieden mit meiner Antwort, schwieg aber.

»Du wirst nicht versuchen, mich von Evan fernzuhalten, oder?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete sie. »Ich freue mich für dich – ehrlich. Lass uns gehen. Zeigen wir den anderen, dass Evan zurück ist und dass ihr zwei endlich zusammen seid.«

»Jawohl«, stöhnte ich, als wir die Treppe hinuntersausten. »Genau um dieses Thema sollte sich der heutige Abend drehen.«