31 beMerKt

Ich hoffte inständig, dass die Woche rasch vorübergehen oder ein noch größerer Skandal Drew, Evan und mich aus den Schlagzeilen vertreiben würde. Dann kam Katie zurück in die Schule, und ich bereute meinen Wunsch. Alle starrten sie an, tuschelten hinter ihrem Rücken und mieden sie, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

Mir war klar, dass Mitleid ihr nicht half, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun konnte. Wäre mein Geheimnis vor der ganzen Schule aufgeflogen, hätte ich mir gewünscht, im Erdboden zu versinken. Deshalb entschied ich mich – ob es nun richtig war oder falsch –, sie in Ruhe zu lassen. Ich ging ihr nicht aus dem Weg, bemühte mich aber auch nicht, besonders nett zu ihr zu sein. Mein ambivalentes Verhalten konnte durchaus für feige gehalten werden. Wahrscheinlich war es das auch. Am Freitag sah ich, wie Katie sich auf der Mädchentoilette die Augen ausheulte, und schlich mich schnell hinaus, bevor sie mich bemerkte.

 

»So geht es nicht weiter.« Die Drohung ließ mich abrupt innehalten.

Reglos stand ich im Flur, meinen Rucksack über der Schulter, meine Reisetasche in der Hand. Ich war gerade von meinem Wochenendtrip mit Sara und Evan aus New York zurückgekehrt. Carol funkelte mich zornig an. Ich hatte ihre hasserfüllte Stimme schon so lange nicht mehr gehört, dass ich vergessen hatte, wie sehr sie mich lähmte.

»Schluss mit den Freitagabenden bei den McKinleys. Du hast dich schon viel zu lange vor deinen Pflichten gedrückt. Mit dieser Scheiße kommst du mir nicht mehr durch. Eigentlich sollte ich dich einfach wegsperren, aber …«

Mein Puls beschleunigte sich.

»… aber dein Onkel glaubt, die Stimmung im Haus wäre weniger angespannt, wenn wir einen Tag für uns allein hätten. Darüber diskutiere ich nicht mit ihm, das Thema ist es nicht wert. Du bist es nicht wert. Also sag Sara, dass sie dich Samstagmittag abholen kann – unter der Bedingung, dass du spätestens am Sonntagmorgen um neun Uhr wieder auf der Matte stehst.

Dieses Wochenende gehst du allerdings nirgendwohin. Du bleibst hier und rechst erst meinen Garten und am Sonntag den von meiner Mutter. Und wo wir schon dabei sind …«

Bitte sag es nicht.

»Sonntags darfst du in die Bücherei, und das war’s. Wenn ich rausfinde, dass du dich irgendwo anders rumtreibst, werde ich dich wegsperren, bis du deinen Schulabschluss hast.« Mein Magen krampfte sich zusammen, aber ich blieb stocksteif stehen, in der Hoffnung, auf diese Weise vielleicht ungeschoren davonzukommen. Aber auch damit hatte ich kein Glück.

»Habe ich mich klar ausgedrückt?«, fuhr Carol mich an, packte mich am Ohr und zog so fest daran, dass ich den Kopf zur Seite neigen musste.

»Ja«, wimmerte ich.

Die Hand über mein schmerzhaft pochendes Ohr gelegt, stand ich auf dem Korridor und sah zu, wie meine Freiheit mit meiner Tante verschwand. Sobald Carol außer Sichtweite war, ging ich in mein Zimmer, warf meine Tasche aufs Bett und lief wild auf und ab. Warum tat sie mir das an? Warum konnte sie mich nicht einfach in Frieden lassen, so wie während der letzten drei Monate auch? Warum interessierte sie sich plötzlich wieder dafür, wo ich war? Sie hasste mich. Warum wollte sie mich dann in ihr Haus sperren?

Unbändige Wut stieg in mir hoch bei der Vorstellung, das Wochenende mit ihr zu verbringen. Evan nicht zu sehen war sogar noch schrecklicher als die Aussicht auf zwei ganze Tage mit ihr. Na ja … vielleicht war auch beides gleich schlimm.

 

Ohne mein Wissen hatten Evan und Sara entschieden, mich ab sofort abwechselnd abzuholen und nach Hause zu fahren, und so sah ich am Montagmorgen zu meiner Überraschung Evans BMW unten an der Straße stehen. Allerdings lenkten mich die üblen Aussichten für das nächste Wochenende zu sehr ab, um mich angemessen zu freuen.

»Guten Morgen«, begrüßte mich Evan mit einem warmen Lächeln, als ich die Tür hinter mir schloss.

»Hi«, antwortete ich, konnte sein Lächeln aber nicht erwidern.

»Bist du morgens je gut gelaunt?«

»Was?« Seine Frage riss mich aus meiner düsteren Grübelei. »Oh, entschuldige. Ich bin nur wütend auf meine Tante.«

»Was ist passiert?« Die Besorgnis in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Nichts Schlimmes«, versicherte ich ihm schnell. »Ich soll das ganze nächste Wochenende zu Hause bleiben, und das kotzt mich an. Sorry, dass ich so schlecht drauf bin.«

»Gehst du am Sonntag in die Bibliothek?«

»Nein, ich muss bei ihrer Mutter den Garten rechen«, knurrte ich.

»Und …?«, setzte er an. Mehr brauchte er nicht zu sagen.

»Ja«, seufzte ich. »Ich überlege schon, wann wir uns stattdessen sehen können.«

»Wenn nicht dieses, dann eben nächstes Wochenende«, versuchte er mich zu trösten.

»So leicht gibst du also auf?«, fragte ich, verärgert über seine mangelnde Entschlossenheit.

»Nein«, erwiderte er mit einem leisen Lachen. »Aber was bleibt uns anderes übrig, willst du dich etwa aus dem Haus schleichen?«

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich mir vorstellte, wie ich unbemerkt aus dem Fenster zu klettern versuchte. Dann schoss jedoch plötzlich ein Adrenalinstoß durch meinen Körper. Hatte ich wirklich den Mumm dazu?

»Das wäre vielleicht eine Option.«

Evan warf mir einen erstaunten Blick zu. »Du willst dich tatsächlich heimlich rausschleichen?«

»Ich schaffe das«, sagte ich, mehr um mich selbst als um Evan zu überzeugen.

Ich hatte Angst davor, erwischt zu werden, aber der Gedanke, womöglich ungeschoren davonzukommen, war so aufregend, dass ich es riskieren wollte. Ich würde nicht länger zulassen, dass meine Tante mein Leben kontrollierte. Lieber nahm ich das Risiko auf mich, als die Chance überhaupt nicht zu nutzen. Wo hatte ich so etwas Ähnliches schon einmal gehört?

»Du bist verrückt!«, rief Sara entsetzt, als ich ihr erzählte, was ich vorhatte. »Wenn du erwischt wirst, sehen wir dich nie wieder!«

»Aber Sara, warst du nicht diejenige, die meinte, es wäre besser zu scheitern, als es gar nicht zu versuchen?«, entgegnete ich.

»So habe ich das nicht gesagt«, wandte sie ein. »Em, das ist etwas völlig anderes, als mit einem Typen auszugehen und ihn vielleicht nie wiederzusehen. Du setzt buchstäblich alles aufs Spiel.«

Ich sah auf mein Mittagessen hinab, das ich noch nicht einmal angerührt hatte. Natürlich verstand ich Saras Sorge. Wenn ich noch dieselbe Person wie vor sechs Monaten gewesen wäre, hätten wir dieses Gespräch nicht geführt. Aber inzwischen war zu viel passiert, und ich wollte nicht mehr zurück.

»Sara«, sagte ich leise. »Was habe ich denn schon zu verlieren? Ohne dich und Evan würde ich gar nicht existieren, ich könnte genauso gut tot sein. Ich brauche mehr als nur Schule und Sport. Jetzt, da ich den Unterschied kenne, kann ich nicht mehr so leben wie früher.«

Eine Weile saß Sara stumm da und zerkrümelte ihren Keks, ohne ihn zu essen.

»Bist du sicher, dass es keine Möglichkeit gibt, bei ihnen auszuziehen?«, fragte sie schließlich. »Wenn du erwischt wirst …« Sie konnte mir nicht in die Augen sehen.

»Ich werde mich einfach nicht erwischen lassen«, versicherte ich ihr. Einen Moment stocherten wir schweigend in unserem Essen herum.

»Gehst du morgen Abend zur Basketball-Siegerehrung?«, wechselte Sara das Thema.

»Ich hab den Termin im Kalender eingetragen, und niemand hat protestiert. Also ja, ich denke schon.«

»Bleibst du in der Schule, oder sollen meine Eltern und ich dich von zu Hause abholen?«

»Ich bleibe wahrscheinlich hier. Ich muss noch was für die Zeitung fertig machen und an meinem Geschichtsreferat weiterarbeiten. Es macht keinen Sinn, nach Hause zu gehen.« Es machte nie Sinn, nach Hause zu gehen, aber es ließ sich nicht vermeiden, egal, wie lange ich es auch hinauszögerte. Ich hatte keine andere Wahl.

 

»Gratuliere«, sagte meine Mutter, als Sara und ich in den kühlen Frühlingsabend hinaustraten.

Dieses Mal war ich nicht so geschockt, sie zu sehen. Mich überraschte nur, dass sie nüchtern war. Sie wirkte extrem nervös, wie sie da auf dem Bürgersteig stand. Die Hände in den Jackentaschen vergraben, wartete sie auf meine Reaktion.

Sara ging nicht weiter zum Parkplatz, blieb aber ein Stück abseits von uns stehen. Offensichtlich wollte sie mir Gelegenheit geben, unter vier Augen mit meiner Mutter zu reden. Ich ging auf die blasse Frau zu, der ich bis auf meine dunklen Haare und meine mandelförmigen Augen kaum ähnlich sah.

»Ich bin so stolz auf dich«, sagte sie leise. »Mannschaftskapitänin ab der nächsten Saison – das ist großartig, Emily.«

»Co-Kapitänin«, korrigierte ich sie. Sie lächelte und erwiderte meinen Blick.

»Ich hab dich ein paarmal spielen sehen.« Ihr Lächeln wurde breiter.

»Ich weiß. Ich konnte dich auf der Tribüne schreien hören.« Die Schreie meiner Mutter waren unverkennbar, sie war die Einzige in der jubelnden Menge, die »Emily!« rief.

»Ich hab beschlossen, nicht mehr zu trinken«, verkündete sie stolz. »Seit Dezember bin ich trocken.« Ich nickte nur stumm, denn ich war mir nicht sicher, ob ich ihr glauben konnte. Abgesehen von ihrem momentanen Zustand hatte ich keinerlei Beweise dafür, dass sie die Wahrheit sagte.

»Und ich hab auch einen neuen Job«, fuhr sie fort. »Ich bin Assistentin der Geschäftsleitung bei einem Technikbetrieb in einer Stadt nicht weit von hier.«

»Du bist nach Connecticut gezogen?«, fragte ich erstaunt.

»Ja, ich wollte in deiner Nähe sein«, erklärte sie mit erwartungsvollem Gesicht. »Ich habe gehofft, wir könnten uns öfters sehen …, wenn du magst.«

Unwillkürlich zuckte ich zurück. »Schauen wir mal.« Darauf konnte ich mich so schnell nicht einlassen. Sie nickte und ließ enttäuscht die Schultern hängen.

»Verstehe«, flüsterte sie, den Blick zu Boden gesenkt. »Ist alles okay bei dir?« Sie schaute wieder zu mir auf und versuchte, meinen Gesichtsausdruck zu entziffern. Offensichtlich suchte sie nach einer genaueren Antwort, als ihre Frage vermuten ließ.

»Ja, mir geht’s gut«, antwortete ich mit einem gezwungenen Lächeln. Die Sorge wich nicht aus ihren Augen.

»Hättest du etwas dagegen, wenn ich gelegentlich zu einem deiner Wettkämpfe komme? Ich weiß, sie finden normalerweise unter der Woche statt, aber wenn mal einer am Wochenende ist …?«

Ich zuckte die Achseln. »Wenn du willst.« Am liebsten hätte ich sie gebeten, nicht zu kommen, und ihr gesagt, dass es mir lieber wäre, sie nie wiederzusehen. Aber ich konnte nicht in ihre traurigen Augen blicken und sie so krass abweisen.

»Ich muss gehen«, sagte ich mit einer Kopfbewegung zu Sara hinüber.

Meine Mutter lächelte Sara auf ihre charmante Art an. »Hi. Ich bin Emilys Mutter, Rachel«, stellte sie sich vor.

»Hi«, erwiderte Sara freundlich. »Ich bin Sara. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Fahrt bitte vorsichtig«, sagte sie noch, und meine Augenbrauen zogen sich zusammen. Aus ihrem Mund klang mütterliche Sorge mehr als befremdlich.

»Ich bin so stolz auf dich«, fuhr sie mit Tränen in den Augen fort, aber ich konnte ihre Sentimentalität kaum ertragen – sie widersprach allem, was ich über meine Mutter wusste. Sie hatte mich nicht gewollt. Warum also kümmerte es sie plötzlich, dass ich gut nach Hause kam?

»Danke«, sagte ich, drehte mich schnell weg und marschierte auf Saras Auto zu. Sara folgte mir in einigem Abstand – offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, dass ich so abrupt gehen würde.

»Alles okay?«, erkundigte sie sich, als wir uns ihrem Auto näherten. »Hat sie irgendwas Falsches gesagt, das mir entgangen ist?«

»Alles, was sie gesagt hat, war falsch«, entgegnete ich und setzte mich steif auf den Beifahrersitz.

Sara musterte mich durchdringend, bevor sie losfuhr. Offensichtlich versuchte sie, mich zu verstehen, wusste aber nicht, wie sie um eine Erklärung bitten sollte. Also schwieg ich.

»Willst du kurz mit zu mir kommen, oder wirst du zu Hause erwartet?«, fragte sie schließlich. »Meine Eltern sind bei einem Geschäftsessen mit den Arbeitskollegen meiner Mutter, also hätten wir sturmfreie Bude.«

»Ich muss nach Hause«, antwortete ich leise und sah aus dem Fenster. »Carol benimmt sich wieder seltsam, und ich brauche ihre Schimpftiraden heute wirklich nicht. Ich glaube, ich könnte sie nicht schweigend über mich ergehen lassen.«

Ich ignorierte Saras schockiertes Gesicht und starrte weiter aus dem Fenster.

 

»Und wie lautet der Plan für morgen Abend?«, erkundigte sich Evan auf dem Weg zum Kunstraum.

»Es gibt einen Park ein paar Straßen von meinem Haus entfernt«, erklärte ich, ohne zu zögern, denn genau über diese Frage hatte ich mir die ganze Woche den Kopf zerbrochen. »Wir treffen uns dort um zehn.«

»Werden sie da schon schlafen?« Ich hörte das Unbehagen in seiner Stimme.

»Nein, aber wenn wir warten, bis sie schlafen, ist es schon so spät.« Natürlich war es riskant, aus meinem Fenster zu klettern, während sie nebenan fernsahen. Andererseits kamen sie nachts nie in mein Zimmer. Also war ich recht zuversichtlich, dass sie meine Abwesenheit nicht bemerken würden. »Das wird schon.«

»Wir müssen das nicht tun«, erwiderte Evan.

»Machst du einen Rückzieher?«

»Nein«, lenkte er hastig ein. »Ich will nur nicht, dass du Ärger bekommst.«

»Keine Sorge«, versuchte ich ihn zu beruhigen, obwohl mir selbst mulmig war.

Evan atmete tief durch und küsste mich auf den Kopf. »Okay.«

Nachdem ich Sara versprochen hatte, sie am Sonntag per SMS wissen zu lassen, dass ich noch lebte, stieg ich aus ihrem Auto und begann mein grauenhaftes Wochenende mit Carol. Das Einzige, was mich vor einem Wutanfall bewahrte, war die Aussicht, am nächsten Abend Evan zu sehen.

Den Samstag über rechte ich in Carols Garten das Laub zusammen, während die Kinder in den Blätterhaufen herumhüpften. Carol selbst ließ sich nicht blicken. Die frische Luft und das fröhliche Gelächter von Leyla und Jack machten den Tag tatsächlich ganz angenehm. Kurz nachdem ich den letzten Haufen in einen Sack gestopft hatte, kam George nach Hause. Es war erstaunlich, wie viele Blätter sich in diesem kleinen Garten den Winter über unter dem Schnee versteckt hatten. Während ich dort draußen war, räumte ich die Mülltonnen unter meinem Fenster beiseite, damit ich am Abend auf einer freien Fläche landen konnte. Wenn ich mich vorsichtig auf die Ränder stellte, konnte ich über die Metalltonne vielleicht später wieder ins Fenster zurückklettern. Allerdings befürchtete ich, das Verrücken einer so schweren Tonne würde zu viel Lärm verursachen. Allein bei der Vorstellung wurde mir ganz anders. Warum mussten wir auch die einzige Familie in Amerika sein, die noch Metalltonnen benutzte?

Beim Abendessen hatte ich überhaupt keinen Appetit. Zu jedem Bissen musste ich mich zwingen, obwohl die Lasagne gar nicht so schlecht schmeckte – sie zählte zu den wenigen Gerichten, die Carol nicht regelmäßig versaute. Doch ich wollte keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich ziehen und aß die Portion auf meinem Teller schweigend auf. Ein Blick auf meinen Unterarm erinnerte mich daran, auf welche Art mir Carol normalerweise Aufmerksamkeit schenkte. Behutsam zog ich den Ärmel herunter.

Hatte ich tatsächlich vergessen, wozu Carol fähig war? Die gerötete Haut an meinem Unterarm war ein Brandzeichen, eine Mahnung, wie gefährlich sie sein konnte. Zwar hatte Carol meine Berührung mit der heißen Auflaufform als Unfall abgetan, aber ich hatte das Funkeln in ihren Augen gesehen, als ich mit einem leisen Aufschrei zurückgezuckt war. Sollte ich es wirklich wagen, die Grenzen ihres Hasses auszutesten, indem ich mich heimlich wegschlich?

Während ich nervös den Abwasch erledigte, wurde es draußen langsam dunkel. Nur noch ein paar Stunden, dann musste ich entscheiden, ob ich dieses gewagte Unternehmen wirklich durchziehen wollte. Ich dachte an Evan und daran, wie enttäuscht er wäre, aber ich wusste, er würde es verstehen, wenn ich es mir doch anders überlegte. Dann dachte ich daran, wie enttäuscht ich wäre – könnte ich einen Rückzieher vor mir selbst verantworten? Gedankenverloren spülte ich das Geschirr ab und räumte es in die Spülmaschine, wobei mein Ärmel unangenehm über meine verbrannte Haut strich.

Nachdem ich den Müll rausgebracht und noch einmal die Platzierung der Tonnen überprüft hatte, zog ich mich in mein Zimmer zurück. Kurz erwog ich, meine Hausaufgaben zu erledigen, um die Zeit zu überbrücken, aber ich wusste, dass ich mich nicht darauf konzentrieren könnte.

Schließlich legte ich mich aufs Bett und versuchte, die Übelkeit in meinem Magen mit Musik zu übertönen – vergeblich. Tausend unzusammenhängende Gedanken schossen mir durch den Kopf, während ich zur Decke hochstarrte. Jedes Mal, wenn ich meinen Fluchtplan durchging, kamen mir unzählige Möglichkeiten in den Sinn, warum er scheitern könnte. War es möglich, aus meinem Fenster zu springen, ohne ein Geräusch zu verursachen? Was, wenn ein Nachbar mich sah und meine Tante verständigte? Was sollte ich sagen, wenn sie meine Abwesenheit bemerkten oder mich draußen erwischten? Panik stieg in mir hoch, meine Handflächen wurden klamm und feucht.

Ich nahm mein Handy, um Evan zu schreiben, dass ich ihn nicht treffen würde. Die Nachricht stand schon auf dem Display, als ich plötzlich zögerte. War das die richtige Entscheidung? Ich wollte ihn so gerne sehen. Mein Finger verharrte über dem Wort Senden. Dann biss ich mir auf die Unterlippe und drückte auf Abbrechen. Ich hatte immer noch anderthalb Stunden, um meine endgültige Entscheidung zu fällen.

Die Sekunden dehnten sich wie Minuten – ich konnte nicht stillsitzen und wippte nervös mit dem Fuß, während ich mir den Kopf über meine Optionen zerbrach. Sollte ich dem nachgeben, was ich wollte, oder sollte ich mich blind an die Regeln dieses Hauses halten? Aber warum sollte es denn falsch sein, mich mit Evan zu treffen? Warum ließ ich Carol entscheiden, was richtig für mich war? Schließlich würde ich mich nicht wegschleichen, um mich zu betrinken oder mich in anderweitige Schwierigkeiten zu bringen. Sie brauchten es ja nie zu erfahren. Ich schluckte schwer und biss mir erneut auf die Unterlippe.

Die letzten fünfundvierzig Minuten waren die schlimmsten. Ich dachte, die Hitze in meinem Magen würde sich durch meine Haut brennen. Ich stellte die Musik aus und hörte den leisen Stimmen zu, die vom Fernseher im Nebenzimmer zu mir drangen. Schließlich rollte ich mich vom Bett, holte atemlos meine vollgestopfte Sporttasche aus dem Schrank, legte sie aufs Bett und breitete meine Decke darüber. Die Tasche sah nicht wirklich aus wie ein Körper, das war mir klar, aber ich ertrug den Gedanken nicht, mein Bett völlig leer zurückzulassen.

Mit wild klopfendem Herzen zupfte ich die Decke zurecht, dann ging ich meinen Plan noch ein letztes Mal durch. Sollte ich das Fenster offen stehen lassen, oder würden sie den kühlen Luftzug bemerken, wenn sie auf dem Weg ins Bad an meinem Zimmer vorbeikamen? Wie sollte ich es von außen schließen? Auch dafür würde ich mich auf die Metalltonne stellen müssen. Bei der Vorstellung, das schwere Ding zu bewegen, während sie hinter dem nächsten Fenster saßen und fernsahen, hielt ich unwillkürlich die Luft an. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und rief meinen SMS-Entwurf auf, erneut kurz davor abzusagen.

Hatte George nicht gerade erst einen leeren Milchkasten weggeworfen, in dem er Farbdosen aufbewahrt hatte? Der wäre hoch genug, um an mein Fenster heranzukommen und es zu schließen. Ich steckte das Handy zurück in meine Tasche. Als die letzten zwanzig Minuten anbrachen, machte ich das Licht aus, setzte mich mit angezogenen Beinen auf den Boden und schaute aus dem Fenster. Der Anblick der Sterne, die durch die wogenden Baumwipfel im Nachbarsgarten blinkten, erleichterte mir die letzten Minuten etwas. Ich schaffe das – daran musste ich einfach glauben.

Meine Hände zitterten, als ich meine Finger vorsichtig unter den hölzernen Fensterrahmen schob. Mit angehaltenem Atem drückte ich einmal kräftig. Das Fenster gab ein Stück nach, und ein erster Hauch kühler Frühlingsluft strich über mein Bein. Ich hielt inne und lauschte, mein Puls schlug schneller. Ganz leise konnte ich immer noch die Stimmen aus dem Fernseher hören, aber kein Geräusch ließ darauf schließen, dass sich etwas bewegte.

Wieder hielt ich den Atem an und schob das Fenster Stück für Stück hoch, bis es ganz offen war. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich mein Bein über das Fensterbrett schwang und mich vorbeugte, um das andere Bein nachzuziehen. Dann hielt ich mich am Rahmen fest, drehte mich um und ließ mich fallen. Um ein Haar hätte ich laut aufgeschrien, als ich Hände um meine Taille spürte.

»Pst«, flüsterte er mir ins Ohr und setzte mich auf dem Boden ab. Ich lehnte mich an die Hauswand und fürchtete, einen Herzinfarkt erlitten zu haben. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich Evan an und drückte die Hände auf mein Herz.

»Entschuldige«, flüsterte er. Schnell hielt ich ihm den Mund zu.

Dann blickte ich mich nach dem Milchkasten um. Auf dem schmalen, dunklen Weg zwischen Haus und Garten war er schwer auszumachen, aber schließlich entdeckte ich ihn direkt am Zaun und stellte ihn unters Fenster. Evan erkannte, was ich vorhatte, gab mir mit einer Geste zu verstehen, dass er das Fenster schließen würde, und stieg auf den Kasten. Mit angehaltenem Atem beobachtete ich, wie er das Fenster langsam wieder nach unten zog.

Dann kletterte er herunter und nahm meine Hand. Zusammen gingen wir an der Seite des Hauses entlang bis zur Ecke. Als ich direkt über unseren Köpfen den Fernseher durch das geschlossene Fenster hörte, erstarrte ich, denn mir wurde wieder bewusst, wie nahe Carol war. Aber Evan ermunterte mich mit einem Nicken, ihm zu folgen, und wir schlichen uns dicht an die Hauswand gepresst an dem großen, hell erleuchteten Fenster vorbei.

Genau in diesem Moment durchdrang auf der anderen Straßenseite ein Scheinwerfer die schützende Finsternis. Evan packte meinen Arm und zog mich in die dunkle Mauerecke neben der Diele. Ich hörte seinen raschen Atem, vielleicht war es aber auch meiner. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als Carol ans Fenster ging und durch den Vorhang spähte. Dann sah sie ihren Nachbar ins Auto steigen und zog den Vorhang wieder zu.

Evan ließ mich erst los, als das Auto weggefahren war. Endlich konnte ich aufatmen. Er grinste. Fassungslos starrte ich ihn an – fand er es wirklich lustig, dass wir um ein Haar ertappt worden wären? Er musste sich tatsächlich das Lachen verkneifen, und ich boxte ihn ärgerlich in den Arm.

Hand in Hand rannten wir durch den Vorgarten und ein ganzes Stück die Straße hinunter, erst dann wurden wir wieder langsamer.

»Du hast wirklich gedacht, sie erwischen uns, stimmt’s?« Ich zuckte zusammen, so laut klang seine Stimme in der Stille.

»Nein!«, fuhr ich ihn an. »Aber das war ja wohl alles andere als amüsant!«

»Amüsant würde ich es auch nicht unbedingt nennen«, erklärte er. »Na ja, vielleicht doch. Ich musste mich noch nie unbemerkt von zu Hause wegschleichen, deshalb fand ich es eigentlich ganz … unterhaltsam.«

Ich musste mich immer noch davon überzeugen, dass wir tatsächlich in Sicherheit waren. Evan legte den Arm um meine Schultern und zog mich an sich. Als ich in sein ruhiges, grinsendes Gesicht blickte, schmolz meine Nervosität dahin, plötzlich konnte ich wieder lächeln und lehnte den Kopf an seine Brust.

»Du hast schon zu lange nichts Neues mehr ausprobiert«, meinte er und setzte sich mir gegenüber auf das Klettergerüst im Park.

»Das war eine neue Erfahrung. Ich hab mich auch noch nie weggeschlichen. Anscheinend hast du nach wie vor einen schlechten Einfluss auf mich.«

Evans Zähne blitzten im matten Laternenlicht.

»Ich kann kaum fassen, dass du heimlich aus deinem Fenster geklettert bist.«

»Was hatte ich denn für eine Wahl?«, erwiderte ich, immer noch alles andere als amüsiert.

»Du hättest dich nicht mit mir treffen müssen.«

»Doch, das musste ich.«

Er beugte sich zu mir, um mich zu küssen, und mein Herz schlug schneller. Mit geschlossenen Augen reckte ich mich ihm entgegen, doch bevor ich ihn erreichte, rutschten meine Beine in das Loch, in dem sie gebaumelt hatten. Ehe ich wusste, wie mir geschah, fiel ich auch schon und landete mit einem dumpfen Aufprall auf den Füßen. Ich ächzte frustriert.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Evan von oben.

»Ja«, schnaubte ich. Er ließ sich ebenfalls von dem Gerüst rutschen und landete direkt vor mir. Immer noch grinsend schlang er seine Arme um meine Hüften und wiegte mich hin und her.

»Das war ziemlich lustig«, meinte er und beugte sich wieder zu mir herunter.

»Na toll«, brummte ich und drehte schnell den Kopf weg. Im nächsten Moment spürte ich seinen warmen Mund auf meinem Nacken, und mein Frust löste sich in Wohlgefallen auf. Er zog mich an sich, und ich umfasste seine Arme.

Als er mich küsste, breitete sich das Bauchkribbeln in meinem ganzen Körper aus. Langsam glitten seine Lippen über meine, und eine vertraute Wärme durchströmte mich. Ich schlang meine Arme fest um seinen Rücken und schmiegte mich an ihn. Seine Finger vergruben sich in meinen Haaren, und sein Kuss beschleunigte sich ebenso wie sein Atem. Als wir innehielten, ließ ich meine Augen noch einen langen Moment geschlossen und kuschelte mich an Evans Brust. Sie hob und senkte sich heftig, während er wieder zu Atem zu kommen versuchte.

»Also, was machen wir nächsten Samstag?«, fragte ich, löste mich aus seiner Umarmung und lief zur Schaukel hinüber. Anscheinend hatte er nicht damit gerechnet, denn als ich mich auf den Plastiksitz setzte und mich umdrehte, stand er immer noch an derselben Stelle.

»Hm«, machte er und ging auf mich zu. »Lass mich überlegen.« Mit einem nachdenklichen Grinsen setzte er sich auf die andere Schaukel.

»Ich hätte ja nichts dagegen, mal wieder zur Wurfmaschine zu fahren«, schlug ich vor. »Aber du spielst ja schon die ganze Woche Baseball, wahrscheinlich hast du dazu keine Lust.«

»Ich lass mir was einfallen«, versprach er. »Apropos frühere Abenteuer – ich glaube, wir sind inzwischen gut genug befreundet, dass du mir sagen kannst, mit wem du deinen ersten Kuss hattest.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus.

»Das willst du immer noch wissen?«

»Er geht nicht auf unsere Schule, oder?«, antwortete Evan mit einer Gegenfrage.

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab ihn letzten Sommer kennengelernt, als ich mit Sara in Maine war. Er weiß nicht mal, wo ich wirklich wohne.«

»Wow«, sagte Evan lächelnd. »Der erste Junge, den du geküsst hast, weiß nichts über dich.«

»Na ja, ich habe ihn nicht nur angelogen«, erwiderte ich.

»Der Arme«, lachte Evan. »Aber du hast ihn bloß geküsst, oder?« Plötzlich lag in seiner Stimme ein unverkennbar besorgter Unterton.

»Die Antwort darauf kennst du«, meinte ich. »Aber was ist mit dir? Mittlerweile weiß ich zwar, dass zwischen dir und Haley nichts lief, aber du hast mir nie erzählt …«

Ich konnte ihn nicht frei heraus fragen, ob er schon einmal Sex gehabt hatte. Wollte ich das überhaupt wissen? Die Frage löste zwei sehr unterschiedliche Reaktionen in mir aus – einerseits war ich neugierig, andererseits konnte ich die Vorstellung, dass er mit einem anderen Mädchen zusammen war, kaum ertragen.

Evan schwieg einen Moment. Ich hätte ihn beinahe gebeten, nicht zu antworten – oder besser noch zu vergessen, dass ich überhaupt gefragt hatte.

»Sie war meine beste Freundin in San Francisco«, erklärte er, bevor ich meine Frage zurückziehen konnte. Mein Herz wurde schwer. »Wir waren über ein Jahr lang richtig gute Freunde, bevor wir das erste Mal miteinander ausgegangen sind. Wir haben einander vertraut, und letzten Sommer ist es dann passiert. Aber danach war alles anders. Wir hätten einfach Freunde bleiben sollen, das wussten wir beide – aber dafür war es zu spät.«

»Beth?«, flüsterte ich. Beim Abendessen mit seinen Eltern hatte er ihren Namen erwähnt.

»Ja.«

»Oh«, sagte ich und senkte die Augen. Mehr brachte ich nicht heraus.

»Stört dich das?«, fragte er vorsichtig.

»Na ja, wir kannten uns damals schließlich noch nicht, und …« Ich zögerte. »Aber der Gedanke, dass du mit einem anderen Mädchen zusammen warst, ist trotzdem nicht schön.«

»Ich weiß«, sagte er, und sein Tonfall machte deutlich, dass er aus eigener Erfahrung sprach. In meinem Inneren regten sich Schuldgefühle.

»Hast du sie immer noch gern? Ich meine … habt ihr euch getroffen, als du in San Francisco warst?« Mir war ganz flau im Magen, so nervös wartete ich auf seine Antwort.

Evan hörte auf zu schaukeln und wandte sich mir mit ruhigem Gesicht zu. »Ich habe noch nie für jemanden so viel empfunden wie für dich … noch nie«, versicherte er mir. »Beth und ich waren Freunde. Ich hatte sie gern, aber ich habe sie nicht … es war nicht ansatzweise dasselbe.«

Ich schluckte, brachte aber kein Wort heraus.

»Sie ist im Dezember mit ihren Eltern nach Japan gezogen, also haben wir uns nicht getroffen.« Das Schweigen, das auf seine Erklärung folgte, war nahezu unerträglich.

»Ich hab eine Idee«, verkündete ich ein bisschen zu laut und sprang unvermittelt von der Schaukel. Mein plötzlicher Energieschub brachte auch Evan dazu sich aufzusetzen.

»Steht dein Auto in der Nähe?«, fragte ich mit Blick auf die Straße, die am Park entlangführte.

»Ja, da drüben.« Er zeigte auf die dunkle Silhouette seines Sportwagens.

»Hast du eine Decke dabei?«

»Ich hab einen Schlafsack im Kofferraum«, antwortete er ein wenig argwöhnisch.

»Kannst du ihn bitte holen?«, bat ich ihn. Ohne eine weitere Nachfrage eilte Evan zu seinem Auto und kam mit dem Schlafsack wieder zurück.

Ich nahm ihn entgegen, ging auf das Außenfeld des Baseballplatzes und breitete ihn auf dem Gras aus. Evan sah mir interessiert zu.

»Du wirst mich für verrückt erklären«, meinte ich. »Aber Sara und ich haben das früher ständig gemacht, und ich finde es immer noch toll, vor allem wenn die Sterne so hell leuchten wie heute Nacht.«

Ich stellte mich neben den Schlafsack und sah zum Himmel hinauf.

»Du konzentrierst dich auf einen einzigen Stern«, erklärte ich. »Dann drehst du dich ganz schnell um die eigene Achse und starrst dabei weiterhin diesen Stern an – bis dir schwindlig wird.« Zur Veranschaulichung wirbelte ich im Kreis herum. »Dann legst du dich hin und siehst zu, wie alle anderen Sterne sich über dir drehen, während deiner stillsteht.«

Ich hielt abrupt an und blickte, schon recht unsicher auf den Beinen, zu Evan hinüber. Er beobachtete meine Vorführung mit einem amüsierten Schmunzeln.

»Du willst es nicht versuchen?«

»Nein, aber du kannst gerne weitermachen«, ermutigte er mich und machte es sich auf dem Schlafsack bequem, um mir bei meinen Albernheiten zuzuschauen. Nachdem ich eine Weile herumgewirbelt war, legte ich mich neben ihn und blickte auf die kreisenden Sterne über mir.

»Du verpasst echt was«, meinte ich, während der Boden unter meinem reglosen Körper schwankte.

Doch dann wurde mir der Blick auf die tanzenden Lichter versperrt, denn Evan beugte sich über mich. Der Boden unter mir rotierte weiter, aber das hatte nichts damit zu tun, dass ich mich so lange im Kreis gedreht hatte.

 

Nachdem ich mich ein Stück von unserem Haus entfernt von Evan verabschiedet hatte, ging ich die dunkle Straße entlang. Ich hatte das Gefühl, dass ich nie mehr würde aufhören können zu lächeln, noch immer war ich ganz erfüllt von der Nacht im Park. Langsam blickte ich mich um. Als ich sah, dass ich unser Haus fast erreicht hatte, holte ich tief Luft, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Inzwischen waren die Fenster dunkel, und meine Angst aufzufliegen ließ etwas nach. Leise schlich ich durch die Schatten zu den Mülltonnen an der Hauswand, hielt den Atem an und packte mit beiden Händen die Griffe der Metalltonne. Sie war längst nicht so schwer wie erwartet, um ein Haar hätte ich das Gleichgewicht verloren. Zum Glück konnte ich mich fangen, bevor ich über den Sack voller Blätter stolperte, der hinter mir am Zaun lehnte. Vorsichtig setzte ich die Tonne unter meinem Fenster ab und benutzte den Milchkasten, um daraufzuklettern. Doch in meinem Liebestaumel vergaß ich, mich auf die Ränder zu stellen – und der Metalldeckel wölbte sich unter meinem Gewicht krachend nach innen. Das Echo hallte laut durch die Nacht. Wie gelähmt vor Schreck verharrte ich, wo ich war. Mit beiden Händen klammerte ich mich an den Fenstersims und lauschte.

Nach einem langen Moment ohrenbetäubender Stille traute ich mich endlich, das Fenster hochzuschieben. Es bewegte sich nicht. Mir blieb fast das Herz stehen. Ich schluckte schwer, dann drückte ich noch einmal, so fest ich konnte, von unten dagegen. Tatsächlich gab das Fenster nach und rutschte hoch, aber dabei verlor ich das Gleichgewicht. Schnell hielt ich mich wieder am Sims fest. Mit beiden Händen stemmte ich mich am Fensterbrett hoch und krabbelte kopfüber in mein Zimmer. Als meine Hände auf dem Boden Halt gefunden hatten, zog ich erst das eine, dann das andere Bein vom Sims herunter.

Ich lag auf dem Rücken, schwer atmend vor Erleichterung. Einen Moment lauschte ich, ob sich im oberen Stockwerk etwas regte. Als alles still blieb, stand ich auf und schloss das Fenster. Ich hängte meine Jacke über meinen Schreibtischstuhl und zog die Schuhe aus, dann ließ ich mich mit einem erschöpften, aber glücklichen Seufzer aufs Bett sinken und schlief fast sofort ein.

 

»Na los, hoch mit dir«, fuhr Carol mich an.

Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Ich war noch ganz benommen und völlig desorientiert.

»Hast du etwa in diesen Klamotten geschlafen?«, fragte sie und musterte mich argwöhnisch.

Es dauerte einen Moment, bis ich registrierte, dass sie am Fußende meines Bettes stand, hinter sich die geöffnete Tür. Ich hob meine Decke an und sah nach, ob ich mich tatsächlich nicht umgezogen hatte.

»Oh«, stammelte ich. »Ich bin wohl beim Lesen eingeschlafen.«

Erneut beäugte sie mich misstrauisch und blickte sich dann in meinem Zimmer um. Panische Angst stieg in mir hoch – was, wenn sie meine Lüge durchschaute?

»Nun, jetzt kannst du jedenfalls nicht mehr duschen«, erklärte sie. »Wir brechen in zehn Minuten auf. Sieh zu, dass du fertig wirst.« Damit verließ sie mein Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Eine halbe Minute saß ich reglos im Bett und versuchte, meine Nerven zu beruhigen. Dann erinnerte ich mich an meine Nacht mit Evan, und mein Lächeln kehrte zurück.