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»Vergiss die SMS nicht«, schärfte Sara mir zum zwanzigsten Mal ein, als sie mich nach dem Wettkampf am Samstag zu Hause absetzte. Ich rollte zur Bestätigung die Augen, dann ging ich langsam die Auffahrt hoch.

Während ich die Verandastufen hinaufstieg, machte ich mich auf alles gefasst, was mich drinnen erwarten mochte. Aus dem Esszimmer hörte ich fröhliche Kinderstimmen, in der Küche unterhielt Carol sich mit George in einem ruhigeren Ton als gewöhnlich.

»Emma!«, begrüßte Leyla mich freudig und umklammerte meine Beine, ehe ich mich zu ihr hinabbeugen konnte.

»Bring deine Sachen auf dein Zimmer«, wies Carol mich in aller Seelenruhe an. »Wir wollten gerade essen.«

Ihr freundlicher Ton ließ mich stutzen. Ich sah mich um, weil ich gar nicht glauben konnte, dass sie tatsächlich mit mir sprach. Ich tat, was sie mir gesagt hatte, blieb aber wachsam.

»Wie war es bei Sara?«, fragte Carol und warf mir einen Blick zu, als ich mich auf meinen üblichen Platz setzte, vor dem bereits ein Teller mit Spaghetti und Fleischbällchen stand.

»Schön«, antwortete ich zurückhaltend. Ihr Benehmen war mir immer noch unheimlich.

»Gut.« Sie lächelte, was auf ihrem Gesicht seltsam wirkte. Ich hatte noch nie erlebt, dass sie mich anlächelte.

Jeden Moment rechnete ich mit einer Katastrophe. Aber nichts dergleichen geschah. Carol wandte sich wieder an George, und sie besprachen, dass sie am nächsten Tag zum Baumarkt fahren wollten, um Blumen und Sträucher für den Vorgarten zu kaufen.

 

In der Sekunde, in der ich an jenem Abend durch die Tür gekommen war, hatten unzählige Alarmglocken in meinem Kopf geschrillt, aber etwas so Grausames hätte ich selbst Carol nicht zugetraut. Sogar als mir klar wurde, dass es ihr Werk sein musste, fiel es mir noch schwer zu begreifen, was wirklich passiert war.

»Na, in diesem Zustand kannst du heute Abend wohl nicht zu deinem Freund gehen, was?«, höhnte sie, als sie am nächsten Morgen den Kopf ins Badezimmer steckte. Dann schloss sie rasch die Tür und überließ mich meinem Elend.

Kalter Schweiß bedeckte meine Stirn und meinen Rücken, dann krampfte sich mein Magen wieder zusammen. Mein Körper zitterte noch von den Strapazen der vergangenen Nacht. Ich brach auf dem Boden zusammen und flehte darum zu sterben – oder wenigstens schlafen zu können. Wie konnte mein Magen immer noch nicht leer sein, nachdem ich schon die ganze Nacht hier verbracht hatte?

»Du solltest sie anrufen und ihnen mitteilen, dass du nicht kommen wirst«, blaffte Carol von draußen. Voller Hass starrte ich auf die geschlossene Tür und wünschte dieser Frau von ganzem Herzen den Tod.

Mühsam raffte ich mich auf, lehnte mich mit dem Rücken an die Badewanne und schlug meine zitternden Hände vors Gesicht. Dann hievte ich mich ächzend vom Boden empor. Jeder Muskel in meinem ganzen Körper protestierte. Mein Magen drehte sich erneut um, und ich beugte mich über die Toilette. Nichts passierte, also richtete ich mich langsam wieder auf.

Mit fast übermenschlicher Anstrengung schleppte ich mich zum Telefon in der Küche. Ich konnte kaum den Kopf aufrecht halten und umklammerte verzweifelt meinen Bauch. Als ich das Telefon erreichte, fiel mir ein, dass ich Evans Nummer nicht gespeichert hatte. Beim Gedanken, in mein Zimmer gehen und sie holen zu müssen, stöhnte ich laut auf. Dann entdeckte ich auf der Theke einen Zettel, auf dem in Carols Handschrift Mathews stand, und darunter eine Telefonnummer. Woher hatte sie die bloß?

Ich wählte und wartete auf Evans Stimme am anderen Ende. Die Nervosität ließ meinen Bauch wieder revoltieren, und ich umfasste ihn schnell mit meinem freien Arm. Das Telefon klingelte ein paarmal, dann wurde abgehoben.

»Hallo?«, meldete sich Evan.

»Evan«, antwortete ich und erkannte meine eigene Stimme kaum.

»Emma?«, fragte Evan unüberhörbar besorgt.

»Mir ist so übel«, krächzte ich. »Vermutlich ein Magen-Darm-Infekt. Es tut mir echt leid, aber ich kann heute Abend nicht zu euch zum Essen kommen.«

»Soll ich dich holen?«, fragte er erschrocken. In seiner Stimme schwang Zweifel mit, anscheinend glaubte er mir meine Erklärung nicht ganz.

»Nein, nein«, entgegnete ich. »Ich muss mich nur hinlegen.« Mein Magen gluckerte warnend und machte mir klar, dass ich nicht länger telefonieren konnte.

»Sehen wir uns morgen früh?«, fragte er leise.

»Mhmm«, stöhnte ich, legte schnell auf und rannte ins Bad.

Ich hatte nichts mehr in mir, aber mein Körper war wild entschlossen, jede Spur von dem, was auch immer in mich eingedrungen war, loszuwerden. Die Krämpfe ließen mich schwach und zitternd zurück. Als es Abend wurde, schaffte ich es wenigstens, mich ins Bett zu legen. Ich rollte mich unter der Decke zusammen und wünschte, nie mehr aufzuwachen, wenn ich mich dann weiterhin so fühlen sollte. Aber ich wachte trotzdem auf.

Irgendwie machte ich mich am nächsten Morgen für die Schule fertig. Carol würde mir niemals erlauben, allein zu Hause zu bleiben, das wusste ich. Und sollten sie oder George meinetwegen einen Arbeitstag verpassen, würde ich es büßen müssen. Also duschte ich und schlang meine nassen Haare im Nacken zu einem lockeren Knoten zusammen. Dann trank ich langsam ein Glas Wasser, das hoffentlich das Zittern vertreiben würde, und verließ das Haus.

In Evans Auto brach ich praktisch zusammen. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als mich wieder unter meine Decke verkriechen zu können. Ich zog die Knie an den Bauch und vergrub mein Gesicht in den Armen. Eine volle Minute lang sagte Evan nichts. Aber diese Minute genügte meinem Magen, um festzustellen, dass ich es gewagt hatte, etwas in ihn einzufüllen.

»Bitte halt an, Evan«, flüsterte ich mit einer Dringlichkeit, die er zum Glück sofort verstand. Als er anhielt, zwang ich mich auszusteigen. Ich torkelte nach hinten, gerade rechtzeitig, bevor mein Körper die Flüssigkeit wieder von sich gab. Auf den hinteren Kotflügel des Autos gestützt, versuchte ich die Krämpfe in meinem Bauch langsam wegzuatmen. Dann kroch ich wieder ins Auto und legte mein Gesicht in die Hände.

»So kannst du nicht zur Schule gehen«, sagte Evan entschlossen. Ich stöhnte nur leise und merkte kaum, wo wir hinfuhren, bis das Auto in seine Auffahrt einbog.

»Evan, ich kann nicht hierbleiben«, protestierte ich heiser. »Wenn ich die Schule verpasse, kriege ich jede Menge Ärger.«

»Ich sage meiner Mutter, sie soll anrufen und uns entschuldigen.«

Ich gab nach, öffnete die Autotür und setzte meine Füße auf den Boden. Mit einem zittrigen Atemzug zwang ich meine Beine, mein Gewicht zu tragen. Evan wich nicht von meiner Seite. Mir war klar, dass er nur helfen wollte, aber ich schüttelte abwehrend den Kopf. Ich folgte ihm durchs Haus, ließ mich auf sein Bett fallen und erlaubte ihm, mir die Schuhe auszuziehen. Noch in der Sekunde, in der ich zugedeckt wurde, schlossen sich meine Augen. Seine Hand strich sanft über mein schweißbedecktes Gesicht, dann versank ich in einen komatösen Schlaf.

Als ich die Augen wieder aufschlug, war es dunkel. Ohne den Kopf zu bewegen, schaute ich mich um, erkannte den tröstlichen Duft und wusste, wo ich war. Aber dann erinnerte ich mich daran, warum ich hier war, und stöhnte leise auf. Hatte er wirklich gesehen, wie ich mich übergeben hatte?

Vorsichtig lugte ich neben mich und stellte fest, dass ich allein im Zimmer war. Ich lauschte auf das warnende Grummeln meines Magens, doch er blieb ruhig, mein Kopf war klar. Aber ich hatte großen Durst. Ich drückte die Zunge an meinen ausgetrockneten Gaumen und setzte mich mühsam auf – meine strapazierten Rücken- und Bauchmuskeln taten so weh, dass ich gequält das Gesicht verzog.

Ziemlich steif machte ich mich auf den Weg zum Badezimmer. Ich wollte herausfinden, wie grässlich ich aussah. Tatsächlich wurde ich von meinem gespenstischen Spiegelbild nicht enttäuscht – eine wahre Katastrophe starrte mir entgegen. Gab es irgendeine Möglichkeit, mich von Sara abholen zu lassen, ohne dass Evan mich zu Gesicht bekam?

Ich löste meine feuchten Haare, kämmte sie mit den Fingern durch, band sie aber gleich voller Entsetzen wieder zusammen. Ich wusch mir das Gesicht und spülte den Mund aus, um wenigstens den Anschein eines menschlichen Wesens zu erwecken. Zum Schluss rieb ich mir noch mit dem Zeigefinger ein bisschen Zahncreme auf Zähne und Zunge, um die Nachwirkungen von eineinhalb Tagen Erbrechen etwas zu überdecken.

»Emma?«, rief Evan aus seinem Zimmer.

Ich spähte durch die Badezimmertür.

»Wie geht es dir?«, fragte er.

»Wie durch den Fleischwolf gedreht.« Er lachte, und die Sorge verflog. »Oh, und ich sehe auch so aus«, fügte ich hinzu.

»Nein, tust du gar nicht«, versicherte er mir und begrüßte mich mit offenen Armen, als ich aus dem Bad kam. Ich ließ mich von ihm in die Arme nehmen, und er küsste mich auf den Kopf. »Du siehst schon viel besser aus als heute Morgen. Ich hab zwar öfter gehört, dass Leute im Gesicht grün werden können vor Übelkeit, aber ich hatte es bis jetzt noch nie gesehen.«

Ich versuchte, mich mit einem Schnauben loszumachen, aber er hielt mich einfach fester und lachte ein bisschen.

»Aber du bist immer noch sehr blass«, bemerkte er. »Möchtest du dich wieder hinlegen?«

Ich nickte, er ließ mich los, und ich schlüpfte unter die Decke.

»Du brauchst Flüssigkeit, ich hab dir einen Tee gebracht. Er müsste deinem Magen guttun – das hat jedenfalls meine Mutter behauptet.«

»Ist sie denn auch hier?«

»Nein, aber ich musste ihr ja sagen, dass du krank bist, damit sie uns in der Schule entschuldigt. Mittlerweile hat sie schon ein paarmal hier angerufen und gefragt, wie es dir geht. Außerdem habe ich unzählige Ratschläge bekommen, was ich alles für dich tun könnte. Ich hab ihr gesagt, du schläfst, aber das hat sie nicht gebremst.«

Evan setzte sich neben mich aufs Bett, lehnte sich mit dem Rücken an das Kopfende und manövrierte mich vorsichtig zu sich, bis mein Kopf auf seinem Schoß lag. Dann fuhr er ganz sanft mit den Fingern über meinen Haaransatz. Ich schloss die Augen, das vertraute Prickeln, das seiner Berührung folgte, tröstete mich.

»Wie spät ist es?«, fragte ich flüsternd.

»Kurz nach zwei.«

»Ich kann gar nicht glauben, dass ich so lange geschlafen habe.«

»Ich auch nicht. Ich musste ein paarmal nachsehen, ob du überhaupt noch atmest. Du hast dich nicht gerührt.«

»Aber ich atme noch«, versicherte ich ihm leise.

»Ich bin so froh, dass es dir bessergeht.« Er ließ seine Hand über meinen Nacken gleiten, und das wohlige Prickeln wanderte meine ganze Wirbelsäule hinunter.

Schließlich setzte ich mich auf und griff nach der Teetasse, die auf dem Tisch neben dem Bett stand. Vorsichtig nahm ich einen winzigen Schluck und ließ die Wärme in meinen Magen fließen, ehe ich es wagte, den nächsten Schluck zu trinken.

»Du hast doch immer noch den Ausweis von deiner Reise mit Sara, oder?«, fragte Evan aus dem Nichts.

»Ja«, antwortete ich zögernd.

»Kommst du auch an deine Geburtsurkunde und die Sozialversicherungskarte?«, fragte er weiter. Ich runzelte die Stirn und schwieg.

»Du solltest dir die Dokumente besorgen – für den Notfall«, erklärte er.

Mir war klar, dass er es ernst meinte. Und das war es auch, deshalb hörte es sich so seltsam an. Er war wirklich entschlossen, mit mir abzuhauen.

»Ich kann George erzählen, ich brauche die Papiere, weil ich im Sommer wieder im Fußballcamp arbeiten will. Du meinst es also wirklich ernst?«, fragte ich und musterte ihn.

»Ja, ich meine es absolut ernst.« Ich schlug die Augen nieder, als ich daran dachte, was er alles aufgeben würde. Wenn wir uns versteckten, müsste er Familie und Freunde zurücklassen und obendrein die Highschool abbrechen.

»Evan, so weit wird es nicht kommen. Jetzt mal im Ernst – wo sollten wir denn hin?«

»Keine Sorge«, tröstete er mich selbstbewusst. »Ich hab gründlich darüber nachgedacht. Außerdem wäre es ja auch nicht für immer.«

Ich hatte Angst, noch mehr von seinem Plan zu erfahren. Außerdem wollte ich mir nicht eingestehen, dass es jemals so weit kommen und wir tatsächlich gezwungen sein könnten wegzulaufen. Evan glaubte an diesen Plan, weil er meinte, mir nur so helfen zu können. Es war vollkommen unrealistisch. Aber das wollte ich ihm nicht sagen.

 

George rückte die Papiere tatsächlich heraus. Evan war erleichtert. Aber ich nicht. Mich überfiel bei dem Gedanken zu fliehen eine lähmende Angst. Ich war mir ganz und gar nicht sicher, ob ich es überhaupt fertigbringen würde. Doch das musste er einfach glauben – zumindest so lange, bis ich zu einer Entscheidung gezwungen wurde.