Fünf

Handel

Der Abend ging in die Nacht über.

Sanfte Lichter brannten in Maras Zimmer. Die äußeren Läden waren geöffnet worden, um eine leichte Brise hereinzulassen, und das Lampenlicht flackerte und tanzte. Die Herrin der Acoma entließ die Bediensteten bis auf einen, dem sie auftrug, heiße Chocha zu bringen. Mara war noch einen Augenblick mit Nacoya allein, bevor die anderen erscheinen würden, und sie streifte die protzigen Armreifen ab, die sie vom Lord der Anasati erhalten hatte. Sie schälte sich aus dem schmutzigen Reisegewand und betupfte ihren Körper mit einem feuchten Tuch; auf ein richtiges Bad würde sie bis nach dem Treffen mit Arakasi warten müssen.

Nacoya schwieg die ganze Zeit, während Mara sich frisch machte, doch ihr Blick blieb stets auf ihre junge Herrin gerichtet. Keine der beiden sprach. Der Vorwurf, den Mara in den alten Augen las, besagte alles: Es war unvorsichtig und dumm von dem Mädchen gewesen, möglicherweise sogar gefährlich dumm, daß sie sich mit Buntokapi verbunden hatte. Der Sohn der Anasati mochte vielleicht begriffsstutzig scheinen, aber er war ein mächtiger Krieger, und wenn er auch kaum zwei Jahre älter war als sie, so war er seit seiner Kindheit mit den Regeln des Spiels des Rates großgeworden, während Mara im Tempel Lashimas Schutz gefunden hatte.

Während Mara sich in eine kostbare safrangelbe Robe wickelte, kehrte der Diener mit der Chocha zurück. Nachdem sie mit einer Handbewegung ihre Zustimmung gegeben hatte, stellte er das große Tablett in der Mitte des niedrigen Tisches ab und zog sich dann zurück. Mara nickte Nacoya zu; ein Zeichen, daß die alte Frau Tassen und Servietten bereitstellen sollte.

Ihre beiden Offiziere und der Fremde kamen pünktlich auf die Minute. Mara betrachtete den Neuankömmling mit scharfem Blick, während er sich verbeugte und zwischen Keyoke und Papewaio Platz nahm. Arakasis Benehmen war tadellos, es paßte zu der Kleidung, die er jetzt anstelle der Bettlerlumpen trug. Mara erkannte plötzlich das scharlachrote Hemd mit den Quasten; es war Papewaios bevorzugtes Kleidungsstück, das er gewöhnlich nur an Festtagen trug. Mara versuchte die Bedeutung einzuschätzen, die mit der Leihgabe dieses guten Stückes verbunden war. In der Stunde, die seit ihrem Treffen im Hof verstrichen war, mußte der frühere Supai der Tuscai ihren Truppenführer sehr beeindruckt haben. Das war eine außerordentliche Empfehlung, denn wie ihr Vater vor ihr setzte Mara großes Vertrauen in Papewaios Instinkte, wenn es um andere Menschen ging.

Diese Erkenntnis gab ihr Zuversicht, und sie fragte: »Hat Lujan über das gesprochen, was wir hier tun?«

Arakasi nickte. »Er ist losgezogen, um weitere Graue Krieger zu gewinnen.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Aber mit jeder neuen Gruppe von Rekruten vergrößert sich das Risiko, daß Spione darunter sind. Schon bald werdet Ihr keinem der Neuankömmlinge mehr trauen können.«

»Ihr selbst könntet ein solcher Spion sein«, unterbrach Nacoya.

»Alte Mutter, ich habe nichts zu gewinnen, wenn ich lüge.« Arakasi ergriff die Kanne mit Chocha und übernahm mit fehlerloser Leichtigkeit die Rolle des Dieners. Mit angemessener Unterwürfigkeit füllte er Maras Tasse, dann Nacoyas, dann Keyokes und Papewaios und schließlich seine eigene. »Wäre ich der Spion eines anderen Hauses, ich hätte mich einfach als Soldat gemeldet und meinem Herrn von Eurer verzweifelten Situation berichtet. Dann wären die Attentäter gekommen, vermutlich mit der nächsten Gruppe neuer Rekruten. Euer Verdacht wäre dann rein theoretisch, denn zusammen mit Eurer Herrin wärt Ihr getötet worden.« Er stellte die Kanne ab. »Und wenn ich hier für mich und meine Spione keine Möglichkeit gesehen hätte, wäre ich vorübergehend in die Rolle eines Bauern geschlüpft und in der Dunkelheit fortgeschlichen, ohne irgend jemanden weiter zu belästigen.«

Mara nickte. »Eure Logik ist schwer zu widerlegen. Jetzt erzählt uns, was wir über Euch wissen sollten.«

Der Fremde antwortete freiheraus: »Ich war über zwanzig Jahre angestellt, um ein Netzwerk von Spionen zu errichten und zu überwachen, das sich über das gesamte Kaiserreich erstreckte. Es kann sich mit jedem anderen im Land messen, eingeschlossen dem des Kriegsherrn. Ich habe sogar Agenten, die für andere Supais arbeiten; einer ist ein Schläfer, der bisher noch niemals eingesetzt wurde, sondern für einen Augenblick größter Not –«

Bei diesen Worten beugte sich Keyoke vor. »Die Zerstörung Eures Hauses war nicht Not genug?«

Arakasi ging geflissentlich über Keyokes Unhöflichkeit hinweg. »Keiner meiner Agenten hätte meinem Herrn helfen oder sein letztendhches Schicksal verhindern können, schon gar nicht jener, den ich erwähnte. Er arbeitet in der Kaiserlichen Konsulatskanzlei und gehört zum Stab des Kriegsherrn.«

Selbst Keyoke konnte seine Überraschung nicht verbergen. Der Supai fuhr fort: »Mein Herr war ein weitsichtiger Mann, doch sein Vermögen war begrenzt. Er sammelte Informationen mit einer solchen Hingabe, daß er unfähig war, sie nutzbringend einzusetzen. Vielleicht, wenn ich nicht so zielstrebig in meinen Nachforschungen gewesen wäre …« Arakasi setzte seine Chocha-Tassc beinahe geräuschlos ab. »Wenn der Lord der Minwanabi nicht Angst davor bekommen hätte, daß mein Herr jeden seiner Schritte vorausahnen könnte, wären die Tuscai heute vielleicht unter den mächtigsten Familien des Kaiserreiches.« Er seufzte bedauernd. »Aber wie heißt es doch so schön: ›Wäre vielleicht gewesen ist nichts als Staub im Wind.‹ Der Angriff kam schlagartig und die Krieger meines Herrn hatten einer derart machtvoll brutalen Attacke nichts entgegenzusetzen. Ich habe seither gelernt, daß meine Spione nicht viel Gutes bringen, wenn mit ihren Informationen nicht gehandelt werden kann.«

Keyoke hatte seine Tasse Chocha kaum berührt. Seine Augen funkelten durch den aufsteigenden Dampf hindurch. »Wo sind also Eure Agenten heute?«

Ohne zu zögern blickte Arakasi Mara an. »Lady, ich werde nicht enthüllen, wer sie sind. Ich bitte um Vergebung, wenn ich damit Anstoß errege. Ich schulde jenen, die einst meinem Herrn gedient haben, noch immer sehr viel, und ich werde sie nicht zusätzlicher Gefahr aussetzen. Wenn Ihr uns in Eure Dienste nehmt, werden wir die gleichen Vereinbarungen treffen wie mit meinem Lord der Tuscai.«

Mara nahm Keyokes warnenden Blick mit einem angedeuteten Nicken zur Kenntnis. »Und die wären?« fragte sie rasch und wartete neugierig auf Arakasis Antwort.

»Ich selbst überwache meine Kuriere und Kontakte, und nur ich allein kenne die Namen der Agenten und weiß, wie sie zu erreichen sind; Ihr erfahrt lediglich, wo sie dienen.«

Mit einem lauten Geräusch stellte Keyoke seine Tasse Chocha ab; für einen untadeligen Soldaten wie ihn bedeutete das einen Wutausbruch, wie er ihn noch niemals zuvor gezeigt hatte. »Dies sind unzumutbare Forderungen!«

»Kommandeur«, sagte Arakasi, »ich möchte nicht als schwierig erscheinen. Ich habe meinem Herrn möglicherweise nicht so gut gedient, wie ich es mir gewünscht hätte, aber ich schütze jene, die so fleißig und eifrig für ihn arbeiteten – umgeben von Gefahren, die denen ähneln, denen Soldaten in einer Schlacht ausgesetzt sind. Ein Spion stirbt schmachvoll durch den Strang. Meine Leute riskieren sowohl ihr Leben als auch ihre Ehre für einen Herrn, den sie nicht verraten wollen. Ich sorge dafür, daß, egal was geschehen mag, ihr Herr sie nicht verraten kann.«

Er sah die Unsicherheit in den Gesichtern der anderen, nickte und führte seine Aussage weiter aus: »Als die Minwanabi die Tuscai zermalmt hatten, befragten sie meinen Herrn …« Er blickte jetzt mit seinen dunklen Augen auf Mara, und seine Stimme wurde weicher. »Es gibt keinen Grund, die Einzelheiten wiederzugeben. Ich weiß von diesen Dingen nur, weil einer meiner Leute für tot gehalten wurde und eine Weile zuhören konnte, bevor es ihm gelang, sich zu retten. Jingus Folterknecht leistete wirkungsvolle Arbeit. Mein Herr war ein sehr mutiger Mann, aber auch er hätte keine einzige Information zurückhalten können. Lady, urteilt gerecht: Wenn Ihr meine Dienste wollt und die Dienste derer, die für mich arbeiteten, werdet Ihr uns Vertrauen entgegenbringen müssen.«

»Und wenn ich es nicht will?«

Arakasi wurde ruhig, er hielt seine Hände deutlich sichtbar in die Höhe, um jeden Eindruck einer Bedrohung zu vermeiden. In einer Geste der Resignation kehrte er langsam die Handflächen nach oben. »Dann werde ich in die Berge zurückkehren.«

Mara neigte den Kopf etwas zur Seite. Bei diesem Satz hatte der Mann zumindest einen kurzen Moment echte Gefühle gezeigt. Wieder die Farben eines Hauses zu tragen war ihm wichtiger, als er zuzugeben bereit war. Bestrebt, ihn nicht zu beschämen, fragte Mara einfach nur: »Und dann?«

Arakasi zuckte mit den Schultern. »Mylady, ich habe in den verschiedensten Verkleidungen gearbeitet, um meine Identität zu schützen. Ich kann einen Wagen reparieren, die Flöte spielen, schreiben und rechnen. Ich bin außerdem ein talentierter Bettler, wenn es sein muß. Ich werde mich schon durchschlagen, keine Sorge.«

Keyoke durchbohrte ihn geradezu mit seinem Blick. »Ich nehme an, Ihr könntet eine gewisse Position erlangen und ein angenehmes Leben führen. Was hattet Ihr also bei den Gesetzlosen im Wald zu suchen?«

Arakasi zuckte erneut mit den Schultern, als wäre es bedeutungslos, ob sie seinen Motiven trauten. »Ich stand eigentlich dauernd in Verbindung mit Sanc und den anderen ehemaligen Gefolgsleuten des Lords der Tuscai; ich habe für sie oft kleine Geschäfte in den Städten übernommen, mit Hilfe meines Verstands und meiner Fähigkeiten für sie gehandelt. Ich hatte gerade Sarics Lager erreicht, als Lujans Aufruf eintraf. Ich beschloß mitzukommen und nachzusehen, um was für eine merkwürdige Angelegenheit es sich da handelte.« Er deutete mit dem Kopf in Maras Richtung. »Ich muß schon sagen, ich bewundere, wie Ihr die Tradition beugt, damit sie zu Euren Bedürfnissen paßt, Lady«

»Nur soweit es notwendig ist, Arakasi, und niemals ist sie gebrochen worden«, antwortete Mara. Sie sah den Mann einen Augenblick an. »Doch Ihr habt noch nicht erklärt, weshalb Ihr das Netzwerk nicht aufgegeben habt. Wäre es nicht sicherer gewesen, wenn alle bis zu ihrem Lebensende in den Rollen geblieben wären, die sie innehatten, als Euer Herr starb?«

Arakasi lächelte. »Sicherer wäre es zweifellos gewesen; selbst die unregelmäßigen Kontakte, die ich über die letzten vier Jahre hinweg aufrechterhalten habe, bergen für einige meiner Leute ein großes Risiko. Wir halten das Netzwerk aus Gründen unserer Ehre am Leben.« Er hielt inne. »Diese Gründe sind Teil meines Wunsches, in Euren Dienst treten zu dürfen, und Ihr werdet sie nur hören, wenn Ihr Euch zu einer Übereinkunft mit mir entscheiden solltet.«

Keyoke setzte zum Sprechen an, aber dann beließ er es bei einem bloßen Kopfschütteln. Niemand sollte so mit der Herrscherin der Acoma verhandeln dürfen. Mara warf einen Blick auf Nacoya, dann auf Papewaio. Der Truppenführer nickte einmal kurz; er schenkte Arakasi bereits im stillen seine Billigung.

Mara atmete tief ein. »Ich denke, ich sehe Weisheit in Eurem Anliegen, Arakasi. Aber was wird aus dem Netzwerk, falls Euch ein Unglück widerfährt?«

»Meine Agenten haben Mittel, sich gegenseitig in regelmäßigen Abständen zu überprüfen. Sollte es eines Tages einer Needra in den Sinn kommen, meine Karriere zu beenden, indem sie sich genau auf die Stelle legt, wo ich ein Schläfchen halte, würde sich innerhalb eines Monats ein anderer Agent bei Euch melden.« Arakasi wurde ernst. »Er würde Euch unwiderlegbare Beweise geben, und Ihr könntet ihm ebensosehr vertrauen wir mir.«

Mara nickte. »Vertrauen … Genau da liegt allerdings das Problem. Es wäre für jeden von uns dumm, die Vorsicht zu schnell abzulegen.«

»Natürlich.«

Eine leichte Brise ließ die Flammen in den Lampen kräftig aufflackern, und sofort huschten Schatten durch den Raum. Nacoya führte mit ihrer Hand gedankenlos das Zeichen gegen Unglück und das Mißfallen der Götter aus, doch Mara war zu sehr von dem Gespräch in Anspruch genommen, um sich jetzt abergläubischen Sorgen hinzugeben. »Wenn ich mich mit Euren Bedingungen einverstanden erkläre, werdet Ihr dann in meinen Dienst treten?«

Arakasi verbeugte sich leicht, eine Bewegung des Oberkörpers, die er voller Anmut ausführte. »Ich wünsche ebensosehr wie die Soldaten, wieder einem Haus zu dienen, Mistress, aber da ist noch etwas. Wir halten das Netzwerk aus Gründen der Ehre intakt. Nachdem das Haus der Tuscai gefallen war, legten ich und jene, die mit gearbeitet hatten, ein Gelübde ab. Wir schworen, niemals unter der Bedingung in einen anderen Dienst zu treten, daß wir dieses Gelübde brechen müssen.«

»Was ist das für ein Gelübde?«

Arakasi sah Mara direkt an, und seine Augen enthüllten jetzt fanatische Leidenschaft, weder durch List noch Tücke verstellt. »Rache am Lord der Minwanabi«, sagte er mit ruhiger Stimme.

»Ich verstehe.« Mara lehnte sich in ihren Kissen zurück und hoffte, daß die Leidenschaft in ihrem eigenen Herzen nicht so leicht zu erkennen war. »Wir haben den gleichen Feind, wie es scheint.«

Arakasi nickte. »Im Augenblick. Ich weiß, daß die Acoma und die Minwanabi im Streit miteinander liegen, aber der Strom der Politik ändert häufig seinen Lauf –«

Mara erhob ihre Hand und brachte ihn dadurch zum Schweigen. »Die Acoma haben eine Blutfehde mit den Minwanabi.«

Arakasi blieb still; er hatte die Beine übereinandergeschlagen und starrte jetzt auf die abgetragene Sohle der Sandale an seinem Fuß. Die Stille war so durchdringend, daß alle im Raum ein leichtes Frösteln verpürten. Hier war ein Mann von anscheinend grenzenloser Geduld, wie die Baumschlange, die ihre Gestalt den Ästen anpaßt und unerkannt geduldig auf vorbeistreifende Beute wartet, um dann mit unerwarteter Tödlichkeit zuzuschlagen. Als sich Arakasi schließlich ein wenig bewegte, bemerkte Mara, daß das, was bei diesem Gespräch auf dem Spiel stand, langsam an seiner Selbstkontrolle zu zehren begann. Trotz seiner Fähigkeiten und seiner Übung kämpfte der Supai gegen dieselben widerstreitenden Gefühle wie die zerlumpten Soldaten und Diener, die zu ihr gekommen waren: Möglicherweise würde er wirklich eine zweite Chance erhalten, aber nur, um erneut die Farben eines Hauses verlieren zu können. Dennoch spiegelte seine Stimme nichts von dem inneren Aufruhr wider, als er endlich sprach: »Wenn Ihr uns nehmen wollt, schwören ich und die Meinen den Acoma ewige Treue.«

Mara nickte.

Arakasis Gesicht wurde plötzlich lebhaft. »Dann, Mylady, laßt uns beginnen, denn Ihr könnt Euch einen deutlichen Vorteil sichern, wenn Ihr zu schnellem Handeln bereit seid. Bevor ich in die Berge ging, verbrachte ich einige Zeit im Norden bei einem Freund im Haus der Inrokada. Unter den Arbeitern dort geht das Gerücht um, daß weiter westlich im Herrschaftsgebiet ihres Lords, nahe der Waldgrenze, ein Cho-ja-Schwarm eine neue Königin hervorgebracht hat.«

»Die Nachricht hat sich noch nicht verbreitet?« fragte Mara. Sie war sofort neugierig geworden.

Arakasi machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der Lord der Inrokada ist ein stiller Mann; er bekommt wenig Besuch und stattet noch seltener anderen einen ab. Doch die Zeit ist knapp. Während der Obsternte werden Arbeiter die Nachricht bald zum Fluß tragen, und dann wird sie kreuz und quer durch das Kaiserreich jagen. Jetzt seid Ihr jedoch noch die einzige Herrscherin, die weiß, daß eine neue Königin der Cho-ja demnächst eine Heimstatt braucht. Mindestens dreihundert Krieger werden ihr dienen –« er zwinkerte plötzlich humorvoll –, »und wenn Ihr erst ihre Treue gewonnen habt, könnt Ihr sicher sein, daß keine Spione darunter sind.«

Mara stand auf. »Wenn das wahr ist, müssen wir noch im Morgengrauen aufbrechen.« Einen Schwarm der Cho-ja für ihr Land zu gewinnen wäre ein Geschenk der Götter. Die Cho-ja mochten zwar fremdartig sein, aber sie gaben wilde und treue Verbündete ab. Die neue Königin würde ihr Nest mit zunächst dreihundert Soldaten beginnen, von denen jeder zwei Tsurani ersetzen konnte, doch im Laufe der Jahre würde die Anzahl bis auf mehrere tausend ansteigen; und wie Arakasi bereits gesagt hatte, eignete sich keiner von ihnen als Agent für feindliche Häuser. »Ich möchte, daß die Fährtensucher in einer Stunde bereit sind«, forderte Mara Keyoke auf. »Wir werden bei Anbruch der Dämmerung zu diesem Stamm aufbrechen.« Als der Kommandeur sich entfernt hatte, wandte sie sich wieder Arakasi zu: »Ihr werdet uns begleiten. Papewaio wird sich um Diener kümmern und dafür sorgen, daß Eure Bedürfnisse zufriedengestellt werden.«

Mara löste das Treffen auf. Als ihre Berater sich erhoben hatten und hinausgehen wollten, zupfte Nacoya Arakasi am Ärmel. »Das Mädchen weiß doch nichts von den Cho-|a. Wie soll sie da verhandeln?«

Mit müheloser Höflichkeit ergriff Arasaki die Hand der alten Frau und drängte sie aus der Tür, als wäre sie eine von ihm verehrte Großtante. »Es wird so selten eine neue Königin hervorgebracht, daß sich niemand auf irgendwelche Verhandlungen vorbereiten kann. Die Lady der Acoma muß einfach den Wünsehen der neuen Königin entgegenkommen, welche auch immer es sein mögen.«

Als das Paar im Korridor verschwand, konnte Mara ihre Aufregung kaum verbergen. Sämtliche Gedanken an ihre bevorstehende Hochzeit wurden von dieser Neuigkeit ausgelöscht. Einen Schwärm der Cho-ja im eigenen Land zu haben bot mehr als Ehre und die Quelle militärischer Macht. Denn die Cho-ja waren nicht nur hervorragende Krieger, sondern auch Bergarbeiter; sie konnten tief in der Erde vergrabene Metalle und Edelsteine aufspüren, die dann von ihren Kunsthandwerkern zu Juwelen verarbeitet wurden. Die fremdartigen Wesen, die äußerlich stark an Insekten erinnerten, hüteten außerdem das Geheimnis der Herstellung von Seide, jenem kühlen, weichen Stoff, der bei allen, die in der ewigen Hitze des Kaiserreiches lebten, hoch geschätzt war. Es hatte sogar Kriege um die Kontrolle des Seidenhandels gegeben, bis ein kaiserliches Gesetz es einer einzelnen Gilde oder einem Edlen verbot, ein Monopol auszuüben. Jetzt durfte jeder Herrscher, der Seide besaß, damit handeln.

Die Produkte der Cho-ja waren sehr wertvoll, und sie selbst verlangten nur einfache Dinge: Korn und bestimmte Artikel aus Fell. Deshalb waren Familien bereit zu töten, wenn sie einen Schwarm auf ihrem Gebiet ansiedeln konnten. Und alle Stämme der Cho-ja zusammengenommen, die im Kaiserreich bekannt waren, brachten seltener als einmal während der Lebensspanne eines Menschen eine neue Königin hervor.

Aber Mara würde die neue Königin erst überzeugen müssen, sich auf dem Land der Acoma anzusiedeln. Wenn sie versagte, würden Stellvertreter anderer Häuser folgen, bis die Königin ein Angebot erhielt, das sie zufriedenstellte. Und wie Arakasi bemerkt hatte, war es weiterhin ein Mysterium, was es war, das so fremdartigen Kreaturen wie den Cho-ja gefallen mochte.

Als Lujan und seine Truppe sich auf den Weg in die Berge machten, um nach neuen Rekruten Ausschau zu halten, waren die anderen so sehr in die Vorbereitungen für die Reise zu den Cho-ja vertieft, daß es niemand bemerkte. Bedienstete eilten hin und her und schafften immer mehr Vorräte für die Eskorte herbei.

Mara verließ ihre Gemächer einige Zeit vor der Morgendämmerung. Die Hirten hatten noch nicht begonnen, die Needras auf die Weiden zu treiben, und Nebel hing noch ruhig über dem vor Feuchtigkeit glänzenden Gras. Mara trug dunkle Reisekleidung, um sich vor der Feuchtigkeit zu schützen, und wartete vor einer schlichten Sänfte mit Jican an ihrer Seite. Seine Rechentafel war über und über mit Notizen beschrieben, und er hielt den Griffel in der Hand, während Mara letzte Befehle und Anweisungen diktierte.

Plötzlich biß sie sich aufgewühlt auf die Lippe. »Bei den Göttern, vor lauter Aufregung hätte ich es beinahe vergessen!«

Jican wölbte seine Brauen. »Mistress?«

»Die Einladungen zur Hochzeit.« Mara schüttelte verärgert den Kopf. »Nacoya wird Euch die entsprechenden Verse mitteilen. Sie weiß ohnehin besser als ich, wer eingeladen werden muß und wen wir ignorieren sollten. Denkt daran, sie zu bitten, an meiner Stelle die notwendigen Schritte in die Wege zu leiten, da ich es vergessen habe.«

Jican stellte eine weitere Frage, während er eilig weiterschrieb. »Was ist mit dem Verkauf des Sommerviehs, Mistresj Die Tiere, die wir versteigern wollen, müssen wir bereits vorher bei der Gilde der Needra-Züchter registrieren lassen.«

»Ihr habt bisher gute Entscheidungen getroffen«, sagte Mara in dem Bewußtsein, daß ihr die Zeit davonlief. »Ich vertraue Eurem Urteil.« Keyoke trat mit einer Truppe ausgewählter Krieger herbei, und Papewaio und Arakasi standen bereits wartend ein kleines Stück abseits und unterhielten sich.

Die Männer versammelten sich mit der ruhigen Tüchtigkeit erfahrener Soldaten, und bald hatte auch der letzte seinen Platz eingenommen. Keyoke näherte sich; er trug die dunkle, praktische Rüstung, die sich für eine unauffällige Reise durch die Wildnis eignete. Sein Offiziershelm hatte nur einen einzigen, kurzen Federbusch, und das verzierte Zeremonienschwert hatte er gegen jenes eingetauscht, das er im Kampf bevorzugte.

Keyoke verbeugte sich vor Mara. »Mistress, die Männer sind bereit. Die Träger mit den Vorräten warten, und die Fährtensucher sind schon unterwegs. Wir können aufbrechen, sobald Ihr den Befehl erteilt.«

Mara entließ Jican, nachdem sie ihm Glück und ehrlichen Handel gewünscht hatte. Dann stieg sie in ihre Sänfte und ließ sich in die Kissen fallen. »Laßt die Männer marschieren«, befahl sie.

Als die halbnackten Träger sich hinabbeugten, um das Gewicht des Gefährts auf ihre Schultern zu nehmen, spürte sie einen Anflug von Furcht. Dies war kein offizieller Besuch bei einem anderen Herrscher, sondern ein gewagter, mutiger Schritt, um im Spiel des Rates einen Vorteil über jeden der anderen Spieler zu erringen; eine solche Kühnheit barg viele Risiken. Und während die Reisegesellschaft auf einen kleinen Hügel zumarschierte und das Herrenhaus allmählich ihren Blicken entschwand, fragte sich Mara, ob sie es wohl jemals wiedersehen würde.

Arakasi führte die kleine Gruppe der Acoma auf verborgenen Pfaden und Wegen durch das Hinterland. Von Tag zu Tag mehrten sich die Zeichen der Anspannung, der die Soldaten ausgesetzt waren. Tsuramsche Krieger würden in der Gegenwart einer Lady oder eines Lords niemals die Kontrolle verlieren, doch Mara hatte bei vorangegangenen Reisen ihren unruhigen Unterhaltungen gelauscht, ihrem Geplänkel, ihren Witzen am Lagerfeuer. Jetzt verhielten sich die Männer vollkommen ruhig; sie brachen ihr Schweigen nur bei äußerster Notwendigkeit und dann im Flüsterton. Ihre gewöhnlich lebhaften Gesichter waren jetzt durch und durch den ausdruckslosen Masken tsuranischer Soldaten gewichen.

Den dritten Tag verbrachten sie bis zum Einbruch der Nacht in einem Versteck, dann schlichen sie durch die Dunkelheit und kauten Thyza-Brot und Needra-Fleisch, um nicht entdeckt zu werden. Bei Anbruch des nächsten Tages marschierten sie tief in den Herrschaftsbereich eines benachbarten Lords und kamen seinen Wachpatrouillen mehrere Male gefährlich nahe. Keyoke hielt seine Männer eng zusammen und ging jedem Kontakt aus dem Weg. Es war gut möglich, daß selbst ein nicht ganz so mächtiger Lord die Gelegenheit beim Schöpfe packen und zu einem Schlag gegen die Eindringlinge ausholen würde, wenn er seinen Soldaten zutraute, Mara und ihre fünfzig Wachen besiegen zu können. Und falls ein anderer Lord von der Geburt der Königin erfahren hatte, war es nicht nur möglich, daß sie unterwegs überfallen würden, sondern sogar ziemlich wahrscheinlich.

Mara fühlte sich die ganze Zeit über müde und erschöpft, fand aber dennoch keine Ruhe; daran waren nicht nur das ununterbrochene Reisen und die immer gegenwärtige Furcht schuld, sondern auch eine sonderbare Erregung. Wenn sie diesen neuen Schwarm tatsächlich für sich gewinnen könnte, würde das dem Überleben der Acoma mehr helfen als ein Dutzend schlauer Schachzüge im Hohen Rat.

Vier weitere erschöpfende Tage vergingen. Die Gruppe schlief zu den ungewöhnlichsten Zeiten, denn die Nächte mußten genutzt werden, um den Patrouillen auszuweichen oder riesige Weiden und Thyza-Felder zu überqueren, die sich an den Ufern der vielen Nebenflüsse des Gagann hinzogen. Die Sklaven übernahmen dann die Nachhut und richteten die abgeknickten Sämlinge wieder auf, um alle Spuren zu beseitigen, die auf ihre Gegenwart schließen ließen. Bei Sonnenaufgang des neunten Tages setzte Mara sich wie die Soldaten auf die bloße Erde und aß Käse und Reisekekse. Sie rief Keyoke und Arakasi zu sich.

Beide lehnten es ab, etwas zu essen, denn sie hatten bereits kurz zuvor die gleichen kalten Rationen zu sich genommen. Mara betrachtete ihre Gesichter, das eine faltig, ledrig, sehr vertraut und so beständig wie der tägliche Sonnenaufgang, das andere wenig mehr als eine Illusion, eine Maske, die immer derjenigen Person entsprach, die gerade erwünscht war. »Wir haben jetzt drei Herrschaftsbereiche durchquert, jede davon gut bewacht. Dennoch hat keine einzige Patrouille Alarm geschlagen. Soll ich das den außerordentlichen Fähigkeiten meines Führers und meines Kommandeurs zuschreiben, oder ist es immer so einfach für bewaffnete Soldaten, in fremde Domänen des Kaiserreiches einzudringen?«

»Eine interessante Frage, Mistress.« Arakasi bedachte sie mit einem Blick, der eine Spur Respekt enthielt. »Um zu wissen, daß Keyoke ein hervorragender Offizier ist, benötigt man kein Netzwerk von Spionen. Im ganzen Kaiserreich achtet man seine Erfahrung.«

Bei diesem Kompliment sah Keyoke den Supai an. »Ohne die Führung Arakasis wäre es nicht so gut gelaufen. Sein Wissen über das Hinterland ist beeindruckend, etwas, das für die Acoma in Zukunft noch sehr wertvoll sein wird.«

Mara erkannte sofort, daß Keyokes Bemerkung indirekt zeigte, daß er Arakasi mittlerweile stillschweigend akzeptiert hatte. Der Supai wirkte so konzentriert und aufmerksam wie ein Soldat, und diesmal schien es sein natürliches Verhalten zu sein. Die Fähigkeit des Mannes, so zu erscheinen, wie er es gerade wünschte, verunsicherte Mara ein bißchen. »Sagt mir freiheraus«, forderte sie ihn auf, »würdet Ihr es als einfach bezeichnen, wenn Ihr eine bewaffnete Gruppe durch das Land der Acoma führen müßtet?«

Arakasi lachte; ein unerwarteter Klang in diesem von Ernst erfüllten Lager. »Mistress, ganz sicher nicht. Keyoke wird weithin bewundert wegen seiner Kenntnisse der Kriegskunst. Er weiß um die Gefahren, die regelmäßige, sich niemals ändernde Patrouillen mit sich bringen. Er ist umsichtig und listig, selbst wenn er nur eine geringe Anzahl von Soldaten befehligt.« Mit einem respektvollen Blick auf den Kommandeur fügte er hinzu:

»Besonders, wenn er nur eine geringe Anzahl von Soldaten befehligt. Es ist schon schwierig für einen Mann, in das Land der Acoma einzudringen, und erst recht für eine ganze Streitmacht.«

Keyoke griff den kleinen Widerspruch auf. »Ihr sagtet ›schwierig‹, nicht ›unmöglich‹.«

Arakasi nickte zustimmend. »Das ist wahr.«

»Lujans Graue Krieger schienen keine großen Schwierigkeiten gehabt zu haben, unsere Needras zu stehlen«, sagte Mara.

Arakasi konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. »Ebenfalls wahr, aber er hatte einen Vorteil: Ich erklärte ihm, wann und wo er zuschlagen sollte.«

Keyoke wurde gefährlich still. »Es scheint, daß wir einiges zu besprechen haben.« Seine Geste drückte die Bitte aus, sich zurückziehen zu dürfen. »Mylady?«

Mara ließ sich mit ihrer Zustimmung noch Zeit. »Gibt es irgendeine Domäne im Kaiserreich, die so gut bewacht ist, daß kein Fremder oder Gesetzloser hinein-oder hindurchgelangen könnte?«

»Nur eine«, sagte Arakasi. Keyokes Zorn ließ ihn ganz offensichtlich unberührt. »Das Gebiet der Dachindo weit im Osten.«

Mara lächelte, als hätte sie einen kleinen Sieg errungen. »Nun, Keyoke, Ihr und Arakasi habt in der Tat einiges zu besprechen.« Sie folgte den beiden Männern mit den Augen, als sie sich erhoben und leise murmelnd davongingen; im nebligen Grau der Dämmerung steckten sie ihre Köpfe zusammen. Sosehr Keyoke sich auch über die indirekt aufgezeigten Schwächen in seiner Verteidigung ärgern mochte, Mara wußte doch, daß die Weisheit siegen würde. Er würde jede Information aufsaugen, die Arakasi ihm bieten konnte, um den Schutz seiner Herrin noch weiter zu verbessern. Im festen Vertrauen, daß zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit nicht mehr nur die Domäne der Dachindo für Fremde unzugänglich sein würde, sandte sie einen Sklaven, um sich ihren Kamm bringen zu lassen. In den letzten Minuten, bevor die Reisegruppe sich wieder auf den Weg machte, versuchte sie in einer steigenden Woge aus Ärger, Wut und Hilflosigkeit, die Knoten in ihren Haaren ohne die Hilfe einer Zofe aufzulösen.

Es wurde ein heißer Tag. Ohne zu klagen marschierten die Soldaten durch die sich immer stärker verändernde Landschaft. Die Ebenen des Tieflands mit ihrem Flickenteppich aus Feldern und Weiden wichen bewaldeten Hügeln und Bergen mit kahlen, felsigen Spitzen. Die Bäume waren alt und wild, umgeben von blühenden Reben und Dornbüschen. Doch je schwieriger das Gelände wurde, desto besser wurde die Stimmung unter den Soldaten. Sie hatten den Weg in sehr kurzer Zeit zurückgelegt, und als das Sonnenlicht auf den Pfad fiel, hatten die Reisenden die weit entfernten Grenzen des Inrodaka-Gebiets erreicht. Arakasi ließ haltmachen. Die Soldaten tauschten ihre Feldrüstung gegen die lackierte und polierte Rüstung. »Wir müssen diesen Weg verlassen und auf die andere Seite der Schlucht gelangen, um dort auf einen anderen Pfad zu stoßen«, erklärte Arakasi. Er zeigte auf einen Pfad, der hinauf in noch dichteren Wald führte.

Keyoke hielt inne, während er sich umzog, er hatte den Helm mit dem Federbusch noch nicht ganz ausgepackt. »Ich dachte, die Cho-ja legen ihre Stöcke in Wiesen oder Tälern an.«

Arakasi wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Licht nahm rasch ab, und er schien bestrebt, ihr Ziel noch vor Einbruch der Nacht zu erreichen. »Das stimmt zum größten Teil auch; zumindest habe ich noch nie von einem Schwarm gehört, dessen Stock nicht in offenem Gelände liegt.« Er zeigte den Pfad hinauf. »Weiter oben wird der Wald lichter. Etwa dreihundert Meter höher befindet sich ein grasbewachsenes Tal. Das ist der Ort, den wir suchen.«

Mara hatte zufällig mitgehört. »Also liegt der Stock dieses Schwarms gar nicht im Gebiet der Inrodaka?«

»Nein, aber es gibt eine Art von Abmachung.« Arakasi zeigte in nördliche Richtung, wo der Wald dicht und wild war. »Diese Ländereien waren einst Teil einer großen Domäne, doch das ist vor unzähligen Jahren gewesen. Als der damalige Lord, wer immer er war, fiel, wurden seine Besitztümer unter den Eroberern aufgeteilt. Inrodaka war einer von ihnen. Dieses Gebiet blieb frei. Es ist kein sehr gutes Land. Das Holz ist brauchbar, aber es ist schwierig, die Bäume zu fällen. Es gibt nur zwei oder drei Weiden für die Herden, und die haben alle keine Verbindung zu den Weiden des Tieflands. Dennoch haben die Cho-ja die Inrodaka als ihre Verpächter anerkannt. Wer weiß schon, wie sie denken.« Er führte die Soldaten den ansteigenden Pfad hinauf. »Von jetzt an müssen wir vorsichtig und beherrscht sein. Es könnte sein, daß Soldaten der Cho-ja uns herausfordern. Wir dürfen nicht kämpfen. Wenn eine neue Königin in ihrem Schwarm ist, sind sie sehr angespannt und aggressiv. Möglicherweise täuschen sie einen Angriff vor, daher darf niemand das Schwert ziehen, wenn wir nicht alle niedergemacht werden wollen.«

Mara beriet sich mit Keyoke, dann stimmte sie der Anordnung des Supai zu. Hintereinander begannen sie im strahlenden Grün der Acoma mit dem Aufstieg. Der Pfad wand sich steil nach oben und schlängelte sich zwischen zerklüfteten Felsnasen hindurch. Es war unmöglich, weiter in der Sänfte zu bleiben, doch selbst als sie zu Fuß ging, mußte Keyoke seiner Herrin an besonders schwierigen Stellen helfen. Dies waren keine Wege für Menschen, sondern Pfade für die Kumi, die sechsbeinigen Bergziegen Kelewans, die wendigen Cho-ja. Für die Träger war es am anstrengendsten, sie schwitzten und stöhnten unter ihrer Last, während andere die leere Sänfte mit roher Kraft hinaufwuchteten.

Heiß brannte die Sonne auf die Rücken der Soldaten. Seltsame Bergvögel schwangen sich von den Bäumen, sobald die Truppe sich näherte, und das Dickicht wimmelte jetzt vor Wild. Fasziniert von dem so neuartigen und fremden Anblick kam es Mara niemals in den Sinn, sich über ihre wunden Füße zu beklagen.

Kurz nach Mittag drang der Ruf eines Soldaten von ganz vorne zu ihnen. Keyoke griff nach Maras Arm und eilte mit ihr zur Spitze des Zuges, wo ein Dutzend Cho-ja-Krieger stand; sie hielten Speere quer über ihre oberen Rümpfe und waren kampfbereit, aber sie bedrohten die Menschen nicht. Sie sahen beinahe wie Insekten aus: glänzend schwarz, mit sechs deutlich gegliederten Gliedmaßen und in Segmente unterteilten Rümpfen. Auf Mara wirkten sie alle gleich, so als wären sie aus ein und derselben Form eines Gildehandwerks gegossen. Sie sah die fremdartigen Wesen an und fühlte sich vollkommen hilflos.

»Dies sind die alten Krieger des Schwarms«, bemerkte Keyoke. »Sie werden uns nicht angreifen, solange wir ihnen keinen Grund dazu liefern.«

Keyokes Worte halfen Mara, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Ebenso angespannt wie ihre Eskorte sah sie zu, wie ihr Kommandeur vortrat und salutierte, indem er mit nach vorn gerichteter Handfläche den Unterarm hob. »Ehre Eurem Schwarm.«

Jetzt sprach der am nächsten stehende Cho-ja mit überraschend verständlicher Stimme: »Ehre Eurem Haus, Männer der Acoma. Wer spricht? Der Schwarm muß über Eure Gegenwart informiert werden.«

»Ich bin Keyoke, Kommandeur der Acoma.«

Der vorderste Cho-ja erwiderte den Salut. Während er sich bewegte, konnte Mara einen genaueren Blick auf seinen zweigeteilten Körper werfen. Sie erkannte, daß von dem größeren hinteren Rumpfteil vier dreifach gegliederte Beine abgingen, während am oberen kleineren Rumpfteil zwei beinahe menschliche Arme saßen. Der ganze Körper wurde von einem Chitinpanzer umhüllt, der an den Unterarmen in eine klingenähnliche Kante auslief, die so scharf wie die Schneide eines Schwertes zu sein schien. Auf dem Kopf trug er einen Helm von eindeutig tsuranischer Machart. In dem ovalen Gesicht saßen zwei große Facettenaugen über zwei Schlitzen, die anstelle einer Nase fungierten. Kiefer und Mund des Cho-ja wirkten wiederum erstaunlich menschlich, wenn auch die Stimme einem hohen Singsang ähnelte. »Ich bin IxaPt, Truppenführer der Zweiten Kompanie des Schwarms Kait’lk.«

»Jetzt erinnere ich mich.« Keyoke entspannte sich etwas, als befände er sich in der Gesellschaft eines alten Bekannten. »Ihr habt während der Invasion des Hochlands von Thuril gedient.« Dies erklärte, wieso der Cho-ja die Farben der Acorna erkannt hatte. Er winkte Mara zu sich. »Dies ist die Lady der Acoma. Sie ist gekommen, um mit Eurer neuen Königin zu verhandeln.«

Augen wie gehämmertes Metall huschten über das Mädchen an Keyokes Seite. Dann versuchte der Cho-ja, so gut es ging, eine menschliche Verbeugung nachzuahmen. »Willkommen, Lady. Eure Ankunft erfolgt zum richtigen Zeitpunkt. Die neuen Krieger sind unruhig; die Brut ist zahlreich und der Stock überfüllt. Ihr dürft gehen, und mögen Eure Götter die Verhandlungen segnen.«

Der Cho-ja trat rasch zur Seite und machte den Tsurani den Weg frei. Mara war überrascht über das unerwartete Geschick ihres Kommandeurs. »Keyoke, ich wußte nicht, daß Ihr die Sprache der Cho-ja beherrscht.«

»Ich kenne ihre Soldaten so gut, wie man sie überhaupt kennen kann. Vor vielen Jahren diente ich zusammen mit einigen von ihnen. Das war, als Euer Großvater viele Häuser in den Kampf gegen die Östliche Konföderation führte.« Falls der alte Krieger seine Jahre spürte, so zeigte er es jedenfalls nicht und erklomm den schwierigen Pfad mit kaum einem Zeichen von Anstrengung.

»Die Cho-ja begrüßten uns mit außerordentlicher Höflichkeit.«

»Mistress, dies war ein Vorposten aus alten, disziplinierten Soldaten«, warnte Arakasi. »Keyoke tat gut daran, ihren Offizier anzusprechen. Aber von jetzt an, bis wir den Schwarm erreicht haben, müssen wir sehr aufmerksam sein. Viele junge Krieger sind ausgebrütet worden, um die neue Kömgin zu beschützen, wenn sie dorthin reist, wo der neue Schwarm sein Nest bauen wird. Sie werden undiszipliniert und aggressiv sein – äußerst gewaltbereit, solange die junge Königin nicht in der Erde ihres neuen Stockes in Sicherheit ist.«

Keyoke bog einen dornigen Zweig zur Seite. »Ihr sprecht wie jemand, der die Cho-ja kennt, Arakasi«, meinte er.

Der Supai wich dem zurückschnellenden Zweig aus. »Niemand kennt die Cho-ja. Aber ich habe mich einmal auf der Flucht vor Minwanabi-Attentätern eine Woche bei einem Schwarm aufgehalten und dabei viele Dinge von ihnen gelernt. Es ist meine Natur, über Dinge, die ich nicht verstehe, Fragen zu stellen, sooft sich die Gelegenheit dazu ergibt.«

Mara war beeindruckt. Selbst als der Weg wieder besser wurde und sie sich hätte in die Sänfte setzen können, zog sie es vor, zu Fuß zu gehen. »Dann erzählt mir etwas von den Cho-ja, Arakasi. Wie sind sie?«

»Die älteren sind so zuverlässig wie die Abfolge der Jahreszeiten, Lady. Die jüngeren sind unberechenbar. Sie werden in einer Krippe ausgebrütet. Ein Dutzend niederer Weibchen, die Rirari genannt werden, sind zu nichts anderem da, als Eier zu legen.« Der Begriff stammte aus dem archaischen Tsurani und hieß so viel wie Königin zweiten Grades oder Herzogin. »Aber die Eier sind unfruchtbar. Die Königin verschluckt sie als Ganzes und läßt sie durch eine Kammer in ihrem Körperinnern wandern, wo sie befruchtet werden und so weiter.«

»Und so weiter?« fragte Mara.

»Aufgrund der besonderen Fähigkeiten der Cho-ja kann die Königin, nachdem sie von einem männlichen Zeuger gedeckt wurde, das Geschlecht und die Funktion eines jeden Eies bestimmen – oder es steril lassen. So hat man es mir zumindest erklärt.«

»Sie können über diese Dinge selbst bestimmen?« Mara wunderte sich. »Erzählt mir mehr darüber.«

»Die männlichen Cho-ja sind in drei Gruppen aufgeteilt: die Zeuger, die Arbeiter und die Soldaten. Die Arbeiter sind entweder schlau oder stark, Handwerker oder Lasttiere, abhängig vom Bedarf des Schwarms. Die Soldaten sind beides, stark und schlau. Die Zeuger sind dumm, aber sie haben nur eine einzige Aufgabe, nämlich sich mit der Königin zu paaren.«

Arakasi warf einen Blick auf Mara und sah, daß sie immer noch gespannt zuhörte. Auch einige der in ihrer Nähe marschierenden Soldaten lauschten der Erzählung des Supai. »Wenn die Königin sich einmal in ihrem Königlichen Gemach niedergelassen hat, bewegt sie sich niemals mehr von der Stelle. Die Arbeiter füttern sie unaufhörlich, während sie Eier von den Rirari erhält und von den männlichen Zeugern gedeckt wird. Jeder paart sich mit ihr mehrere Stunden lang, beinahe bis zur Erschöpfung, dann wird er von einem anderen ersetzt. Ihr werdet es sehen, wenn wir der alten Königin begegnen.«

»Faszinierend.« Mara hielt inne. Sie war ein wenig atemlos, denn der Weg war wieder steiler geworden. »Was ist mit der jungen Königin?«

»Über die Weibchen muß ich noch viel lernen«, gestand Arakasi ein. »Aber alle männlichen Cho-ja können, solange sie noch unreif sind, ähnlich unseren Kindern spielen und heranwachsen – mit dem Unterschied, daß sie an dem einen Tag noch wie Needra-Kälber herumtollen und am nächsten aufwachen und wissen, daß die Zeit ihres Dienstes gekommen ist. Doch wenn eine neue Königin geboren wurde, werden die Soldaten ausgebrütet und eilig zur Reife gebracht. Deshalb werden wohl so aggressive, unberechenbare Krieger aus ihnen, fürchte ich. Sie brausen schnell auf und leisten nur den Befehlen der neuen Königin absoluten Gehorsam.«

Arakasi wurde jetzt still, denn der Pfad erklomm eine kleine Anhöhe, um dann scharf nach unten in ein Tal abzufallen, das wie eine tiefe Falte zwischen zwei Hügeln ruhte. Durch einen Bogen aus den Ästen zweier Ulo-Bäume hindurch sahen sie eine Wiese in der hellen Sonne liegen. Das Gras war smaragdgrün und so gleichmäßig geschnitten, daß es kaum natürlich sein konnte.

Arakasi zeigte mit dem Finger nach vorn. »Der Stock liegt da vorn, hinter diesen Bäumen.«

Keyoke befahl den Soldaten, die Reihen wieder ordentlich zu schließen. Dann marschierte die Kompanie in Kampfformation vorwärts, ihre Herrin geschützt in der Mitte.

Als die Eskorte den Rand der Ulo-Bäume erreichte, begann Maras Herz vor Aufregung schneller zu schlagen. Zwischen den erhobenen Speerschäften der Krieger hindurch konnte sie einen Blick auf die Weiden erhaschen, wo sich ein gewaltiger Wall erhob – er war so alt, daß kleine Bäume auf ihm Wurzeln geschlagen und zu blühen begonnen hatten. Dann tauchten plötzlich rechts neben dem Stock ein Dutzend Gestalten auf. Wie eine Herde Needras, die ein Blitzschlag in Panik versetzt hat, rasten sie mit trommelnden Schritten auf Maras Gruppe zu. »Krieger«, sagte Arakasi. »Haltet die Männer zurück; dies ist wahrscheinlich eine Täuschung.« Keyoke, der unter seiner Rüstung leicht schwitzte, gab seinen Männern ein Zeichen. Kein einziger von ihnen hob seine Waffe, obwohl vermutlich viele die Klugheit dieses Befehls in Frage stellten, denn die Cho-ja jagten in einem gewaltigen Galopp auf sie zu. Sie kamen immer näher, bis die Soldaten der Acoma die rasiermesserscharfen Kanten ihrer Unterarme im Sonnenlicht funkeln sahen. Dann, als sie nahe genug heran waren, um zuschlagen zu können, drehten sie in letzter Sekunde ab und rannten mit einem Geräusch, das wie menschliches Gelächter klang, auf den Stock zu.

Mara sah ihnen nach; sie seufzte zitternd vor Erleichterung. »Sie sind so flink. Wie ist es uns bloß gelungen, sie uns Untertan zu machen?«

Arakasi wischte sich über die Stirn und lächelte nachsichtig. »Das haben wir nie getan, Lady. Die Menschen besiedelten Land, daß die Cho-ja niemals wollten, und irgendwann waren die Königinnen und ihre Schwärme von ihnen eingekreist. Zu diesem Zeitpunkt war es für beide Seiten einfacher, miteinander zu verhandeln, als sich gegenseitig zu bekämpfen. Man braucht sehr gute Soldaten, um einer Streitmacht der Cho-ja gegenübertreten und überleben zu können, denn haben sie sich erst einmal auf einen Kampf eingelassen, sind sie furchtbare Krieger.«

Als Maras Gruppe sich vorsichtig weiter auf den Wall zubewegte, tauchten weitere Cho-ja auf. Bald waren Hunderte an jeder Seite, einige hatten Körbe an den Körpern befestigt, andere Gürtel mit Werkzeugen. Der Fleiß, der so zutage trat, erregte Maras Neugier, und sie blinzelte zwischen den Vorhängen der Sänfte hindurch nach draußen. »Arakasi, ist dies ein Schwarm von normaler Größe?«

»Er ist ein bißchen größer als die meisten, Mistress, aber nicht viel.«

»Wie viele Cho-ja leben hier?«

Arakasi antwortete, ohne zu zögern. »Zwanzig-, fünfundzwanzigtausend.«

Mara war verblüfft. Vor ihr lag eine ganze Stadt mitten in der Wildnis. »Wie viele werden mit der neuen Königin ziehen?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, in der Vergangenheit pflegten sich die Schwärme aufzuteilen, wenn der Bevölkerungsdruck zu groß wurde.« Arakasi zuckte mit den Schultern. »Inzwischen gibt es einen solchen Grund für eine neue Königin nicht mehr, denn trotz des unaufhörlichen Brütens kontrollieren die Cho-ja die Bevölkerung ihres Schwarmes. Vielleicht muß sich die alte Königin in jeder Generation erneut reproduzieren, möglicherweise bringt aber auch der Zufall eine neue Königin hervor. Ich weiß es nicht.«

Als sie dicht vor dem Wall standen, erschien er ihnen wie ein symmetrischer, steiler Hügel. Die Soldaten schlössen ihre Formation noch enger, denn der Weg wurde jetzt noch belebter. Hier war das Gras so weit abgetreten, daß unaufhörlich Staub unter den geschäftigen Füßen aufwirbelte. Mehrere Male näherten sich ihnen Gruppen junger Cho-ja; sie deuteten auf sie, starrten sie mit metallischen Augen an und zwitscherten lebhafte Kommentare in ihrer eigentümlichen Sprache. Die Älteren schenkten den Besuchern jedoch nur wenig Aufmerksamkeit. Eine Gruppe Arbeiter trippelte an ihnen vorbei; auf ihren Rücken waren Bündel mit Holz befestigt, die so groß waren, daß fünf Menschen dafür notwendig gewesen wären. Bei den Cho-ja genügte jedoch ein einzelner zur Bewältigung dieser Last.

Dann raste eine Gruppe junger Krieger auf Mara und ihre Eskorte zu. Die Arbeiter wurden vom Weg vertrieben, ihre Bündel schwankten, und die Kiefer klapperten in einem befremdlichen Ausdruck des Mißfallens aufeinander. Innerhalb weniger Augenblicke waren die Tsurani umringt. Keyoke befahl seinen Leuten stehenzubleiben. Staub wirbelte auf, und obwohl die Cho-ja kampfbereit schienen, ordnete Keyoke an, Ruhe zu bewahren und die Speere in den Boden zu stecken. Keiner der Cho-ja war bewaffnet oder trug einen Helm wie die Wachen am Kamm, doch ihre kräftigen, von Natur aus gepanzerten Körper und die rasiermesserscharfen Kanten ihrer Unterarme machten sie auch so zu furchteinflößenden Gegnern.

Arakasi blieb bei der Sänfte, während Keyoke nach vorne eilte. Der Kommandeur hatte kaum die Spitze seiner Truppen erreicht, als ein Cho-ja heranstürzte. Mit einer für seine Rasse typischen, geradezu unheimlichen Fähigkeit verharrte er mitten aus der stürmischen Bewegung heraus und hielt wenige Zentimeter vor Keyoke an. Er blieb bebend stehen, als wartete er nur darauf, endlich kämpfen zu können. Doch es folgte keine weitere Herausforderung des Cho-ja, und so verbeugte Keyoke sich mit vorsichtiger Höflichkeit. »Wir sind von den Acoma«, verkündete er. »Die Lady der Acoma bittet um die Erlaubnis, mit Eurer Königin zu sprechen.«

Der Cho-ja-Krieger blieb vollkommen reglos, während um ihn herum die Arbeiter hin und her eilten. Die Soldaten der Acoma warteten schweigend, aber angespannt auf Zeichen einer Bedrohung, während Arakasi sich mit Keyoke beriet. »Ich glaube nicht, daß diese Krieger Tsurani verstehen. Dieser hier ist noch kaum ausgereift. Es könnte sein, daß wir uns verteidigen müssen.« Der Supai senkte seine Stimme; er sprach beherrscht, aber eindringlich. »Wenn der hier vorne angreift, werden die anderen ihm wahrscheinlich zu Hilfe eilen. Ganz sicher tun sie es, wenn wir ihn provozieren. Geht nur gegen die vor, die uns wirklich angreifen, denn einige, die hinzukommen, wollen uns vielleicht helfen.«

Keyoke antwortete mit einem schwachen Nicken. Seine Hand lag am Griff seines Schwertes, wie Mara erkennen konnte. Aber er machte keine Anstalten, es aus der Scheide zu ziehen, selbst dann nicht, als die Kreatur vor ihm den Kopf verdrehte, um einen besseren Blick auf den Kämpfer zu erhaschen, dessen Rüstung so glänzte. Lange, angespannte Minuten verstrichen; dann tauchte ein anderer, noch größerer Cho-ja auf. Mara wartete ebenso unruhig wie ihre Eskorte, als er sich zwischen den jungen Kriegern hindurchschlängelte. Er blieb bei dem stehen, der sich vor Keyoke aufgebaut hatte, und rief etwas, das wie ein Befehl klang, in dieser hohen, fremdartigen Sprache mit den merkwürdig klickenden Lauten. Einige der um sie herum stehenden Jüngeren senkten die beiden oberen Gliedmaßen und eilten davon. Die meisten blieben jedoch, so auch der, der ihnen den Weg versperrte. Ohne Vorwarnung griff der ältere Cho-ja mit seinen Armen um die Körpermitte des jüngeren und hielt dessen Gliedmaßen in einer Stellung fest, die ihm jede Bewegungmöglichkeit nahm. Für einen Augenblick verharrten die beiden Cho-ja derart aneinander gefesselt und stöhnten vor Anstrengung, als sich ihre Chitin-Panzer aneinander rieben. Der erste Cho-ja taumelte; er verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden, wo er für einen Augenblick in wilder Panik um sich schlug. Der ältere preßte ihn mit seinem Bein kurze Zeit auf den Boden, dann trat er zurück und erlaubte dem jüngeren Cho-ja aufzustehen. Kaum war er wieder auf den Füßen, drehte er sich auch schon um und rannte davon, die übrigen jungen Krieger in seinem Gefolge.

Der zurückbleibende Cho-ja klickte entschuldigend und salutierte. »Ehre Eurem Haus, Menschen.« Keyoke erwiderte den Gruß, während der Cho-ja zu einer Erklärung ansetzte: »Dieser Junge war noch nicht an den Anblick von den Menschen gewöhnt. Er war kampfbereit, und die anderen wären ihm gefolgt, hätte ich ihn nicht zu Boden geworfen.«

Leise, aber doch so, daß alle ihn hören konnten, sagte Arakasi: »Die Cho-ja sind am verletzlichsten, wenn sie auf dem Boden liegen. Sie sind unglaublich wendig und haben eine fürchterliche Angst davor, den Halt zu verlieren.«

»Das ist wahr«, stimmte der Cho-ja zu. »Als ich den Jungen hinunterdrückte und am Boden festhielt, wußte er, daß ich ihm überlegen war und er keine Chance gegen mich haben würde. Ich bin Ratark’l, ein Soldat der Kait’lk.« Er verbeugte sich in der Weise der Menschen, dann bedeutete er ihnen mitzukommen. »Ich kenne Eure Farben nicht, Menschen, aber ich sehe, daß Ihr nicht von den Inrodaka seid. Ihre Männer tragen die Farbe, die wir nicht sehen können, jene, die Ihr rot nennt.«

»Wir sind von den Acoma.« Keyoke deutete auf Maras Sänfte. »Dies ist meine Herrin, die Lady der Acoma. Sie ist bis hierher gereist, um Eure Königin zu treffen.«

Der Cho-ja drehte sich mit einer raschen Bewegung um und wirkte plötzlich erregt. »Meine Kenntnisse Eurer Sprache erweisen sich jetzt als ungenügend. Ich weiß von Euren Lords. Aber was ist eine Lady?«

Keyoke ahmte die Geste der Cho-ja nach, die Respekt ausdrückte. »Sie ist unsere Herrscherin.«

Der Cho-ja stellte sich beinahe auf die Hinterbeine. Seine Augen glitzerten, als er mit einer bisher ungekannten Unterwürfigkeit den Kopf in Richtung der Sänfte verneigte, in der Mara geschützt vor fremden Blicken in den Kissen saß. »Eine Herrscherin! Wir haben niemals eine Eurer Königinnen gesehen, Mensch. Ich werde sofort zu meiner Königin eilen und von Eurer Ankunft berichten.«

Der Cho-ja wirbelte herum und schoß zwischen der Masse hindurch auf den Eingang des Stocks zu. Etwas hilflos durch sein kurz angebundenes Verhalten wandte Keyoke sich an Arakasi: »Was haltet Ihr davon?«

Arakasi zuckte mit den Schultern und schlug vor, daß sie sich weiter auf den Stock zubewegen sollten. »Ich nehme an, die Cho-ja, die bisher nur im Stock gelebt haben, haben niemals eine tsuranische Frau gesehen. Nur Händler und Boten des Lords der Inrodaka kommen hierher. Es ist gut möglich, daß es ihrer Erinnerung nach überhaupt das erste Mal ist, daß eine Herrscherin kommt, um mit der Königin des Schwarms zu verhandeln. Und das wäre etwas Neues, was sich als interessant erweisen könnte.«

Keyoke ließ die Truppe haltmachen. »Gefährlich?«

Arakasi dachte darüber nach. »Wahrscheinlich nicht, wenn ich das auch nicht mit Sicherheit sagen kann, bei all den jungen Kriegern hier, die so begierig darauf sind, mit einer neuen Königin einen neuen Schwarm zu gründen. Dennoch habe ich niemals davon gehört, daß die Cho-ja einem Gast Böses antun. Ich denke, im Augenblick sind wir sicher.«

Mara meldete sich aus dem Innern der Sänfte zu Wort: »Das Risiko interessiert mich nicht, Keyoke. Wenn wir uns nicht mit der neuen Königin verbünden können …«

Keyoke warf einen Blick auf seine Herrin. Er wußte genauso wie Nacoya, daß Mara ihre Pläne allein schmiedete und von niemandem einen Rat annahm. Doch anders als die Amme nahm er diese Tatsache eher gleichgültig hin. Der Kommandeur nickte und führte seine Gruppe weiter auf den Stock zu. Als die Soldaten den Eingang erreicht hatten, trat eine Ehrenwache aus seinem Schatten. Zwei von ihnen trugen verzierte, mit Federbüschen geschmückte Helme, ganz wie die Offiziere der Tsurani. Obwohl kein Befehl zu hören gewesen war, änderten die Cho-ja, die mit den unterschiedlichsten Lasten und Nachrichten unterwegs waren, ihren Weg und benutzten jetzt die kleineren Nebeneingänge zu beiden Seiten des Haupteingangs. Die Truppe der Acoma blieb vor der Ehrenwache stehen. Als der aufgewirbelte Staub sich wieder gelegt hatte, verbeugte sich der vorderste, anscheinend ranghöchste Cho-ja mit dem oberen Rumpfteil. »Ich bin Lax’l, Kommandeur des Schwarms Kait’lk.«

Auch Keyoke verbeugte sich. »Ich bin Keyoke, Kommandeur der Acoma. Ehre Eurem Schwarm.«

»Ehre Eurem Haus, Keyoke von den Acoma.«

Keyoke ging zu der Sänfte. »Hier ist Mara, Herrscherin der Acoma.«

Sofort wurde Lax’l aufmerksam. »Einer unserer Krieger kündigte eine menschliche Königin an. Ist sie es?«

Arakasi kam Keyoke mit einer Antwort zuvor: »Sie ist jung, doch sie wird die Mutter vieler Lords sein.«

Alle Cho-ja in der Ehrenwache stießen den gleichen scharfen Schrei aus. Das rege Treiben um den Eingang stockte. Einen Augenblick lang bewegte sich niemand, weder Mensch noch Cho-ja. Dann verneigte sich der Kommandeur der Cho-ja so tief, daß er beinahe wie eine Needra auf dem Boden kniete, und alle andere Cho-ja in Sichtweite, auch die Lastenträger, taten es ihm nach. Ein schleifendes Geräusch erklang, als sie sich erhoben und wieder ihren Aufträgen nachgingen. »Wir begrüßen die menschliche Königin im Schwarm Kait’lk. Unsere Königin wird ohne Verzögerung von Eurer Ankunft benachrichtigt werden. Wir werden ihr außerdem vom Grund Eures Kommens berichten, wenn Ihr gestattet.«

»Ich gestatte es«, erwiderte Mara sofort. Da eine kleine Verzögerung unvermeidlich erschien, erlaubte sie den Trägern, die Sänfte auf dem Boden abzustellen. Sie hielt sich jedoch weiterhin hinter den dünnen Gazevorhängen verborgen. »Benachrichtigt Eure Kömgin, daß wir um die Ehre bitten, mit der neuen Königin darüber zu verhandeln, ob sie ihren neuen Schwarm auf dem Land der Acoma ansiedeln will.«

Bei diesen Worten reckte der Cho-ja seinen Kopf in die Höhe, und hob erstaunt eine der vorderen Gliedmaßen. »Neuigkeiten wandern schnell durch das Kaiserreich. Die junge Königin ist gerade erst ausgebrütet und noch nicht dafür bereit, sich über der Erde aufzuhalten.«

Mara biß sich auf die Lippe. Zeit war jetzt entscheidend, denn der Hochzeitstermin stand fest, und ihre Güter waren verletzlich während ihrer Abwesenheit. Nacoya und Jican waren zwar außerordentlich fähig, aber sie würden nicht verhindern können, daß Spione die Nachricht von ihrer Reise zu einer geheimen Mission weitergaben. Jeden Tag, den sie abwesend war, wuchs das Risiko eines Angriffs gegen die immer noch gefährlich unterbemannte Garnison der Acoma. Von einem spontanen Impuls und einer instinktiven Zielstrebigkeit getrieben, zog Mara die Vorhänge zurück. »Kommandeur der Cho-ja«, sagte sie, bevor Arakasi oder Keyoke ihr davon abraten konnten, »wenn die neue Königin mich nicht draußen empfangen kann, werde ich zu ihr gehen, sofern Eure Herrscherin es erlaubt.«

Arakasi versteifte sich vor Entsetzen, und Keyoke, der sich mit dem Daumen am Kinn hatte reiben wollen, erstarrte mitten in der Bewegung. Diese Bitte war anmaßend; niemand konnte abschätzen, wie die Cho-ja darauf reagieren würden. Einen Augenblick hielten sie den Atem an, während die Cho-ja genauso bebend vor ihnen standen wie der junge Krieger, der sich ihnen erst kurze Zeit zuvor angriffslustig in den Weg gestellt hatte.

Aber Lax’l zeigte sich eher unsicher als verärgert. »Lady Königin, so weit wir zurückdenken können, hat noch niemals ein Mensch um so etwas gebeten. Wartet hier, und ich werde es herausfinden.« Er drehte sich um und trippelte in den Stock.

Langsam ließ Keyoke seinen Arm wieder sinken. »Das war ein gefährlicher Schritt, Mistress. Falls die Königin Anstoß an unserer Bitte nimmt, sind Eure Krieger ziemlich in der Minderzahl, im Verhältnis eins zu zweihundert.«

»Und trotzdem, der Cho-ja-Offizier schien nicht beleidigt«, warf Arakasi ein, »eher überrascht.« Er schüttelte den Kopf, aber es lag etwas wie Bewunderung in dieser Geste.

Der vorsichtige Keyoke forderte seine Soldaten dennoch zu höchster Wachsamkeit auf, und sie hielten die Hände dicht bei den Waffen, während sie auf die Rückkehr des Cho-ja-Kommandeurs warteten.

Plötzlich trippelte Lax’l aus der Dunkelheit des Eingangs heraus. Er verneigte sich tief, und die glänzende Haube seines Kopfes berührte beinahe den Staub auf dem Boden. »Unsere Königin fühlt sich geehrt, daß Ihr bereit seid, das Herz des Schwarms zu besuchen, um ihre Tochter zu sehen. Ihr dürft mit einem Offizier, fünf Soldaten und so vielen Arbeitern wie Ihr benötigt eintreten. Lady der Acoma, bitte folgt mir jetzt, denn meine Königin wartet darauf, Euch in der großen Kammer begrüßen zu können.

Mara gab Keyoke durch die Vorhänge ein Zeichen, und leicht verwirrt wählte er Arakasi und vier andere aus, mit denen sie Lax’l folgen würden. Den übrigen Wachen befahl der Kommandeur, sich zu rühren, solange ihre Herrin abwesend war. Dann betrat Mara mit ihren Begleitern den Berg; augenblicklich wurde sie von der Düsternis des Tunnels verschluckt.

Maras erster Eindruck war der eines feuchten, erdigen Geruchs, der sich mit einem anderen vermischte, einem nussigen, würzigen, der nur von den Cho-ja stammen konnte. Das große Gewölbe, durch das sie gingen, war mit Reliefs von überwältigender Schönheit verziert, mit kostbaren Einlegearbeiten aus Metallen und Edelsteinen. Mara stellte sich Jicans Freudenschreie vor, sollten die Acoma Handwerker erhalten, die zu solchen Arbeiten fähig waren. Dann vertieften sich die Schatten, als der Tunnel sich weiter nach unten wandte, fort von dem Lichtkegel des Eingangs. Mara saß hinter den Gazevorhängen und sah zunächst so gut wie gar nichts, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Kommandeur der Cho-ja trippelte mit der für seine Rasse so typischen Behendigkeit voran. Die Menschen mußten ein zügiges Tempo vorlegen, um Schritt halten zu können, und das Keuchen der Sklaven kam als vielfältiges Echo zurück, als sie die Sänfte ein labyrinthisches Durcheinander von Rampen hinabtrugen. Die Tunnel waren aus dem Boden geschlagen worden, abgestützt durch eine seltsame Masse, die hart wie Stein war. Geräusche hallten von diesem Material zurück und gaben dem Quietschen der Rüstungen und Waffen einen schaurigen Charakter. Die Gruppe schritt noch tiefer ins Innere des Berges, um immer neue Biegungen und durch Windungen, die offensichtlich keinem erkennbaren Muster folgten. Seltsame leuchtende Kugeln waren an den Kreuzungen aufgestellt und machten aus ihnen Inseln des Lichts inmitten der Düsternis. Mara studierte diese Lichtkugeln intensiv und stellte verwundert fest, daß sie weder Öl noch Feuer enthielten. Sie fragte sich, wie dieses Leuchten entstehen konnte, selbst dann noch, als ihre Sänfte von den ständigen Rempeleien der geschäftigen Cho-ja hin und her geschüttelt wurde. Die meisten drehten sich einen Augenblick um und betrachteten die Menschen, bevor sie weitergingen.

Als die dritte Kreuzung hinter ihnen in der Ferne verschwand, dachte Mara über das so andersartige Aussehen der Cho-ja nach. Die Krieger schienen alle gleich stark zu sein; sie besaßen einen gewaltigen Unterleib, einen breitschultrigen Oberkörper und waren anderthalbmal so groß wie die größten Tsurani. Die Arbeiter dagegen waren deutlich kleiner und stämmiger und ruhiger in ihren Bewegungen. Aber sie hatte noch andere gesehen, die wendiger als die Arbeiter, aber weniger furchterregend als die Krieger waren. Sie fragte Arakasi danach. »Handwerker, Mistress«, antwortete er.

Der Weg wurde steiler, als sie weiter ins Innere des Stocks vordrangen. Die Kreuzungen tauchten jetzt häufiger auf, und die Luft war voller Cho-ja-Geruch. Nach einiger Zeit weitete sich der Gang und öffnete sich zu einer großen Höhle, in der viele Lichtkugeln hingen. Mara schob den Vorhang ihrer Sänfte zurück und bestaunte überrascht den Anblick, der sich ihr bot. An der Decke eines jeden Tunnels, der in die Kammer mündete, hingen kleine Cho-ja, die etwa so groß waren wie ein menschliches Kind von ungefähr fünf Jahren. Durchsichtige Flügel auf ihren Rücken schlugen wild auf und ab; die Bewegung war kaum mehr als ein verschwommener Fleck im dämmrigen Licht. Jedes Geschöpf schien eine oder zwei Minuten zu ruhen und dann für die gleiche Zeit weiterzuschlagen. Der unablässige Wechsel brachte die Luft mit beinahe musikalischen rhythmischen Veränderungen zum Summen. Arakasi bemerkte Maras Verwunderung und erklärte: Dies müssen Arbeiterinnen sein.«

»Ich dachte, Ihr hättet gesagt, daß Ihr nur etwas über die männlichen Cho-ja wißt«, bemerkte Mara.

»Ich habe diese hier niemals gesehen«, gestand er. »Aber ich weiß, daß nur die Weibchen Flügel haben.«

Lax’l enthüllte ein unerwartet scharfes Gehör, als er jetzt einen Blick zurück auf Mara und ihre Eskorte warf. »Ihr Berater hat recht, Lady Königin. Die Ihr hier seht, sind sterile Weibchen; sie sind nahezu geistlos und leben nur, um die Luft durch die Tunnel und Kammern zu treiben. Ohne ihre Arbeit würde es hier unten kaum Luft zum Atmen geben.« Er führte die Gruppe schnell durch die Höhle, bog um eine Ecke und trat in einen niedrigen Gang, der schon nach wenigen Metern leicht anzusteigen begann. Die Sklaven, die Maras Sänfte trugen, rangen nach Atem. Mara hatte gerade überlegt, ob sie nicht um ein langsameres Tempo bitten sollte, da öffnete sich der Tunnel plötzlich zu einem Raum, der nur die Kammer der Königin sein konnte.

Die Cho-ja-Königin war riesig, sie maß mindestens zehn Meter vom Kopf bis zum Ende ihres zweiten Rumpfsegments. Dunkel und beinahe glänzend schwarz lag sie auf einem Erdhügel. Aus dem Anblick der verkümmerten Beine schloß Mara, daß sie sich niemals von diesem Ort erhob. Tücher aus edlen Stoffen verbargen Teile ihres Körpers, und zwischen ihnen schössen Arbeiter hin und her und putzten ihren gewaltigen Körper, eifrig bemüht, ihr jede Bequemlichkeit zu geben und jeden Wunsch zu erfüllen. Hoch über ihr, festgebunden an ihrem Rumpf, hockte ein stämmiges Männchen mit dem Körperbau eines Soldaten und dem kleinen Kopf eines Arbeiters. In rhythmischen Bewegungen stieß der Cho-ja vor und zurück. Arakasi neigte den Kopf. »Eines der Zuchtmännchen, Mylady. Eines ist immer bei der Königin.« Ein Dutzend Cho-ja waren vor ihr aufgereiht, einige mit verzierten Helmen, andere ohne jeden Schmuck; sie alle warteten in höflichem Schweigen auf die Ankunft der Lady der Acoma und ihrer Begleiter. An beiden Seiten der Kammer lagen kleinere Versionen der Königin auf ihren Bäuchen, und Arbeiter eilten geschäftig um sie herum.

»Rirari, vermute ich; die geringeren Königinnen, die die Eier legen«, flüsterte Arakasi Mara zu.

Lax’l bedeutete ihnen zu warten und trippelte mit einer Reihe klickender Geräusche zu seiner Königin. Stille senkte sich jetzt über die Kammer, obwohl die Arbeiter weiterhin ihren Aufgaben nachgingen. Die Träger setzten Maras Sänfte auf der Erde ab, und mit Keyokes Hilfe stieg sie aus. Nun, da sie nicht länger hinter den Gazevorhängen verborgen war, fühlte sie sich klein, beinahe verlassen in der Kammer, die mindestens viermal so groß war wie die große Halle der Anasati; die Größe der Königin, die beinahe bis zur Decke reichte, war geradezu überwältigend. Mit schierer Willenskraft hielt Mara sich auf den Beinen und wartete, während ein Sklave aus ihrer Gefolgschaft ihr einen juwelenbesetzten Umhang um die Schultern legte. Sie versuchte so gelassen und ruhig wie möglich zu erscheinen, als die Königin sie aufmerksam und eindringlich betrachtete. Die dunklen Facettenaugen spiegelten keinerlei Ausdruck wider. Nach außen hin wirkte Mara ruhig, doch ihre Knie begannen zu zittern, als der Sklave zurücktrat. Dann sprach die Königin mit einer überraschend leichten und zarten Stimme, die so gar nicht zu ihrer massigen Gestalt passen wollte. »Ihr seid die menschliche Königin?«

Mara verneigte sich leicht, und die Juwelen auf ihren Ärmeln blitzten im Dämmerlicht auf. »Ich bin Mara, Herrscherin der Acoma. Wir haben keine Königinnen wie Ihr, aber ich regiere über mein Haus in der gleichen Art wie Ihr über Euren Schwarm.«

Die Königin gab ein eigenartiges Geräusch von sich. Ihr Chitinpanzer bewegte sich nicht, doch ihr Gesicht schien Erheiterung auszudrücken, und der Laut hatte Ähnlichkeit mit einem menschlichen Lachen.

»Ich habe nicht angenommen, daß Ihr auf die gleiche Weise brütet wie wir, Mara von den Acoma. Ich weiß von Euren merkwürdigen Paarungsgewohnheiten. Ich bin sehr alt. Aber ich habe immer nur von Herrschern gehört. Wie kommt es, daß Ihr regiert und nicht die Männchen, die Euch begleiten?«

Mara erklärte, daß nur dann, wenn es innerhalb einer edlen Familie keine männlichen Erben gab, ein weibliches Mitglied an die Macht gelangte. Die Königin lauschte und sagte, als Mara geendet hatte: »Ihr Menschen seid so fremd. Wir fragen uns oft, wieso Ihr Euch so verhaltet. Aber ich schweife ab. Die neue Königin, meine Tochter, ist neugierig darauf, eine menschliche Königin zu sehen, vor allen Dingen eine, die sich aus Achtung vor unseren Sitten unter die Erde wagt.«

Jetzt ließ die alte Königin ein lautes, schrilles Pfeifen ertönen, und zwei Arbeiter der Cho-ja traten vor. Zwischen sich führten sie eine Cho-ja, die kleiner war als alle anderen dieser Wesen, die die Menschen bisher zu Gesicht bekommen hatten. Mara sah sie einen Augenblick verwirrt an, bevor sie begriff. »Dies ist die neue Königin?«

»So habe ich auch einmal ausgesehen, vor langer Zeit. Sie wird wachsen und innerhalb von einigen Wochen wird sie groß genug sein, um herrschen zu können; wenige Monate später wird sie mit der Reproduktion beginnen.« Die junge Königin blickte Mara an; sie ging um sie herum, um sie von allen Seiten betrachten zu können. Sie schien sich mit einer außerordentlichen Anmut zu bewegen, wie sie kein anderer Cho-ja bisher gezeigt hatte; ihre Schritte waren fließend, ja geschmeidig, ohne die hastigen Bewegungen der Arbeiter und Soldaten. Die neue Königin wandte selbst, als sie in der klickenden Sprache ihres Volkes sprach, niemals die Facettenaugen von Mara ab. »Wenn unsere Jungen geboren werden, besitzen sie bereits die Kenntnis unserer Sprache, Eure dagegen müssen sie nach der Brut erst noch lernen. Es wird noch einige Zeit dauern, bis meine Tochter Eure Sprache verstehen wird.«

Die musternden Blicke der jungen Königin machten Mara befangen und unsicher, dennoch verhielt sie sich ruhig und wartete ab. Endlich beendete die junge Königin die Prüfung, gab noch einmal einige klickende Laute von sich und blieb dann still stehen. Die alte Königin antwortete rasch und übersetzte dann ins Tsurani. »Sie meint, Ihr seht alle so fremd aus – beängstigend.« Sie wandte sich an Mara. »Allerdings seht Ihr weniger beängstigend aus als die Männchen.«

Mara verneigte sich leicht vor der neuen Königin. »Bitte sagt ihr, daß ich sie wunderschön finde.« Die Bemerkung war keine bloße Schmeichelei, auch wenn die junge Kömgin eines Tages so monströs wie ihre Mutter werden würde. Im Augenblick war sie von feiner Statur und hübsch anzusehen. Im Unterschied zu den blaugetönten Männchen glänzte ihr Chitinpanzer in einem satten Kastanienbraun, und sie hatte etwas an sich, das Mara nur weiblich nennen konnte.

Die alte Königin übersetzte, und die junge trillerte vor Vergnügen. Mara fuhr fort: »Wir sind gekommen, um zu verhandeln. Wir würden die neue Königin und ihre Gefolgschaft gerne einladen, auf unserem Land einen neuen Stock zu errichten. Wir möchten so bald wie möglich mit den Verhandlungen beginnen.«

»Ich verstehe nicht. Die Verhandlungen haben bereits begonnen«, antwortete die alte Königin.

Mara spürte Besorgnis in sich aufsteigen. Die Endgültigkeit der Ereignisse kam zu schnell, um damit umgehen zu können. Sie hatte sich auf Arakasis Unterstützung verlassen. Jetzt bemühte sie sich, Zeit zu gewinnen. »Ich fühle mich erschöpft von den Strapazen der tagelangen Reise. Darf ich einen Tag ausruhen, bevor wir diese Angelegenheit besprechen?«

Die alte Königin wiederholte die Bitte und gab Mara dann die Antwort der jungen Königin: »Meine Tochter möchte jetzt gleich hören, was Ihr bietet.«

Mara schaute Arakasi an, der ihr zuflüsterte: »Wenn Ihr jetzt fortgeht, beleidigt Ihr sie unter Umständen und verliert jede Möglichkeit, noch einmal mit ihr zu sprechen.«

Mara fühlte sich plötzlich ausgesprochen müde. Die Aufregung, den Stock zu erreichen, hatte ihr in den letzten Stunden Auftrieb gegeben, aber jetzt hatte sie den Eindruck, kurz vor einem Zusammenbruch zu stehen. Die Last der Verhandlungen mit der jungen Königin und das mörderische Tempo ihrer Reise in der vergangenen Woche umnebelten ihren Geist. Dennoch schien es keine andere Möglichkeit zu geben, als weiterzumachen. Mara bedeutete ihrem Sklaven, ein Kissen aus der Sänfte zu holen und auf den Boden zu legen. Sie nahm Platz und bemühte sich um einen formellen Anschein, während sie mit den Verhandlungen begann. »Was würde Eure Tochter wünschen, um auf dem Land der Acoma zu leben?«

Die junge Königin setzte sich in der Art der Cho-ja nieder; sie hockte sich auf die vier Beine, hielt den Oberkörper aufrecht und verschränkte die Arme in sehr menschlicher Weise. Sie heftete ihre großen Augen auf Mara und sagte etwas. Die alte Königin übersetzte. »Meine Tochter möchte wissen, ob die Erde Eures Landes naß oder trocken ist.«

Mara antwortete ohne zu zögern. »Beides. Das Land der Acoma ist weit und vielfältig, es reicht von wasserüberfluteten Thyza-Feldern bis zu hohen Wäldern. Wir haben Weideland, das bis in die Berge hinaufreicht und dem ähnelt, das diesen Stock umgibt.«

Die junge Königin lauschte der Übersetzung ihrer Mutter und antwortete: »Meine Tochter möchte ihren Schwarm neben klarem Wasser ansiedeln, doch der Boden sollte nicht zu feucht sein. Sie bittet außerdem darum, daß der Ort nicht in allzu großer Nähe zu einem Wald liegt, da die alten Wurzeln es schwierig machen, die unteren Tunnel zu graben. Die erste Kammer muß schnell gegraben werden, denn sie kann nicht riskieren, sich länger als unbedingt notwendig draußen aufzuhalten.«

Mara besprach sich mit Keyoke. »Wir könnten ihr die untere Weide westlich des Flusses geben. Sklaven könnten dann im Osten neues Land für die Herden roden.« Als der Kommandeur zustimmend nickte, fuhr Mara fort: »Sagt Eurer Tochter, daß wir ihr ein Stück Land mit einem kleinen Hügel anbieten, das von offenem Weideland umgeben ist und nur einen kurzen Marsch entfernt von frischem, klarem Wasser liegt. Aber das Land liegt höher als die Ufer des Flusses und bleibt daher trocken, selbst in den Zeiten der schweren Regenfälle.«

Die alte und die junge Königin begannen sich zu unterhalten. Die Sprache der Cho-ja mit ihren Klick-und Pfeiflauten schien effizienter als die menschliche Sprache zu sein, oder aber diese Wesen hatten neben dem Sprechen noch eine weitere Möglichkeit, Nachrichten auszutauschen. Mara wartete innerlich unruhig und angespannt.

Plötzlich hallte ein durchdringendes Pfeifen durch die große Kammer des Stocks. Maras Gefolgschaft richtete sich alarmiert auf, und die Unterhaltung zwischen der Königin und ihrer Tochter brach schlagartig ab. Besorgt, daß die Störung vielleicht ein Unheil ankündigte, griff Keyoke nach dem Griff seines Schwertes.

Doch Arakasi griff nach dem Unterarm des Kommandeurs und flüsterte eindringlich: »Wenn Ihr aus dieser Nähe eine Klinge auf die beiden Königinnen richtet, sind wir alle sofort tot.« Die ältere Königin wirkte gar nicht besorgt, aber die Männchen neben ihr hatten sich halb aus der Hockstellung erhoben. Es war eine Kampfposition, die es ihnen ermöglichte, sofort zum Angriff überzugehen. Die halberhobenen Unterarme bebten leicht, als rasiermesserscharfe Chitinkanten sich auf Keyoke richteten. Der alte Kommandeur hatte Cho-ja im Kampf gesehen; diese hier waren nur um Haaresbreite von einem Angriff entfernt. Er ließ sein Schwert los, und sofort gingen die Krieger vor der alten Königin wieder in die entspannte Hockstellung zurück. Die Königin schwieg. Arakasi holte erleichtert und hörbar Luft und versuchte, so etwas wie Sicherheit auszustrahlen. »Sollte Gefahr drohen, werden uns diese Soldaten ebenso beschützen wie ihre Königin.« Keyoke nickte angesichts der Logik dieses Satzes, trat aber dennoch näher zu seiner Herrin.

Die alte Königin auf dem Podest klickte und zuckte mit einem der unteren Gliedmaßen. Als Antwort auf ihren Befehl verließ Lax’l den Platz zu ihren Füßen und eilte davon.

Mara, die ihn beobachtete, fragte sich, ob sie sich jemals würde auf die Geschwindigkeit einstellen können, mit der die Cho-ja sich fortbewegten, wenn es nötig war. Sie gäben sicher unschlagbare Boten ab, ein Gedanke, der sie an einen Reim aus ihrer Kinderzeit erinnerte, den Nacoya ihr des öfteren vorgetragen hatte: » … die Cho-ja sind die ersten mit Neuigkeiten und frühem Obst.« Das Lied war nichts als Unsinn und galt bei den Tsurani allgemein als Kinderkram. Mara war sich inzwischen jedoch nicht mehr so sicher, ob es nicht doch ein bißchen Wahrheit enthielt.

Lax’l kehrte zurück, noch bevor sie den Gedanken weiterverfolgen konnte. Er tauschte schnelle, pfeifende und klickende Geräusche mit seiner Königin aus, dann wischten die nächsten Worte der Königin alle Überlegungen an Gutenachtgeschichten aus Maras Gedanken.

»Lady Königin der Acoma«, sagte die Herrscherin der Cho-ja, »ein anderer Lord ist eingetroffen und bittet ebenfalls die neue Königin um die Ehre, ihren Stock auf seinem Land zu errichten.«