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In weiten Windungen erkundete das Fahrzeug die Landschaft des Aeran, fädelte sich langsam durch und um den Wald, brach krachend durchs dichte Unterholz, umfuhr zackige Felsen und stürzte sich, Nase voran, in bitterblaue Flüsse, trieb mit der Strömung abwärts, heftig schaukelnd. Und ständig hielt es scharf Ausschau.
Es kam aus dem Wasser und stieg das Flußufer an einer Stelle hinauf, wo behauene Steinpfeiler darauf hinwiesen, daß hier ein alter, nicht mehr benutzter Landungssteg war, primitiv und roh zwar, doch immer noch ein Schutz gegen die kreisende Spirale der Zeit, die tosenden Winde, den ertränkenden Regen. Vor hundert Jahren vielleicht hatte an dieser kleinen Station ein Boot oder Floß vertäut gelegen. Das Fahrzeug schimmerte gelblich, seine lange nicht in Aktion gewesenen beweglichen Teile knarrten, wenn die Antennen sich drehten und die Kameras ausfuhren, die Landschaft abkreisten und in sich aufnahmen.
Knirschend und keuchend fuhr es weiter, versengte pflanzliches Leben beim mühevollen Erklettern steiler Anhöhen, knallte Oxygen in die Luft, das einen leichten Ozongeruch hinterließ, wenn elektrische Entladungen in die nie umgepflügte mineralreiche Erde fuhren.
Meilenweit entfernt von den Augen des Fahrzeugs befanden sich die Augen Karl Gorsteins, Schiffs-Meister der Gilbert Ryle. Er saß in seiner gemütlich warmen Wohnkajüte bei abgedämpften Lampen, ein Hauch Rosenparfüm lag in der Luft, leise rauschte der Ventilator, so daß die roten und blauen Draperien sich fast unmerklich bewegten und ihr statisches Leben dynamische Energie bekam; die Tiere und Landschaften an den Wänden schlugen sanfte Wellen.
„Nach links“, murmelte Gorstein in die Stille hinein, und die Augen des Fahrzeugs drehten sich nach links. Sie zeigten ihm Berge, halb verborgen hinter blauen, baumartigen Pflanzenformen, schwarze Schwingen flatterten die Laub wände entlang und verschwanden blitzschnell nach unten aus dem Gesichtskreis. Scharf glitzerte die Sonne auf den Kristalldrusen, die auf den fernen Hängen hier und dort zutage traten. Auf den Berggipfeln lag es glänzendweiß: Schnee.
„Jetzt nach rechts“, sagte er leise. Schwindelerregend flirrten die herumschwenkenden Kameras über den Bildschirm, als das Fahrzeug nach rechts abdrehte, grün und purpurrot fuhr das undurchdringliche Unterholz aus dem Gesichtsfeld; Aufglitzern wie von Glas – kristallisierte Erdessenz, vielleicht Quarz, vielleicht Glimmer, vielleicht Diamanten oder die scharfen Kanten von Smaragdbrüchen, von geomantischen Kräften zerrieben und über die gewachsene Erde verstreut. Wenn das Fahrzeug zurückkam, würde es ihm berichten.
Jetzt hatte es nach rechts gedreht. Es zeigte Schiffs-Meister Gorstein den dahinströmenden Fluß, der hinter dem Fahrzeug breiter war als vor ihm. Noch mehr flatternde Flugtiere gingen in der Ferne nieder, hinter dem Wald, wo sie nicht mehr zu sehen waren. Irgendwo in der Nähe bewegte sich etwas, kaum merklich. Gespannt beobachtete er: Die Kamera erfaßte eine rennende Gestalt, rötlichgelb, pelzig, klein und mager. Pfeilschnell schwand sie aus dem Sichtfeld und kam nicht wieder.
„Nach rechts!“
Das Licht fiel auf den glatten Rumpf des Schiffes, anderthalb Meilen weit weg. Jenseits des Schiffes ragte der Erdwall der Kolonie steil aus der Hochebene empor, schlug Bogen an den Windbrechern, verschwamm am weiten Himmel. Ein schwärzlicher, dünner werdender Rauch stieg auf und sank alsbald funkensprühend wieder zur Erde herab.
Gorstein hörte, daß sich die Tür hinter ihm leise öffnete und wieder schloß, kümmerte sich aber zunächst nicht um den Eintretenden, der, wie er wußte, der Rationalist war.
Auf dem Bildschirm tauchte soeben eine Frau aus dem Unterholz auf, starrte das Fahrzeug eine Sekunde lang an und rannte dann weiter, bis sie außer Sicht war. Gorstein beugte sich vor und gab Befehl an das Fahrzeug, sie zu verfolgen. Der Roboter gehorchte; das Bild schwenkte ab und fuhr taumelnd am Fluß entlang. Eine Minute später zeigte der Schirm eine dichte Pflanzenmauer, in die die Frau hineingelaufen war, und Gorstein sah ein, daß er sich mit diesem einen flüchtigen Blick zufriedengeben mußte.
Eine dunkelhäutige Frau, hochgewachsen, sehr schlank, sehr schön. Ihr Haar war kurzgeschnitten, und zwei Juwelen hatten auf ihrer Brust gefunkelt. Bis auf ein Paar primitiver Schuhe war sie nackt gewesen. Ganz bestimmt war sie keine Eingeborene das Aeran.
„Du wolltest mich sprechen?“ fragte der Rationalist. Es war die ruhige, abgeklärte Stimme eines alten Mannes. Ohne sich umzudrehen, nickte Gorstein langsam. „Ja.“
Er stand auf, trat zum Fenster, schlug den gemusterten Vorhang zurück und blickte über ein flaches Feld mit ganz spärlichem, mattbraunem, niederem und krummem Bewuchs. Doch am Ende dieses Feldes ragte der mächtige, fast zwanzig Fuß hohe, oben zu einer Art Brustwehr gerundete Erdwall steil empor. Darüber kämpfte immer noch die wirbelnde Rauchfahne mit dem Winde. Wächter gab es nicht. Durch den Spalt im Erdwall war nur der braune, nicht so steile zweite Ringwall zu sehen, eine Wand innerhalb der Wand, eine Doppelschranke gegen die zudringlichen Augen des Schiffes.
Während er auf die Wälle starrte, empfand er wieder diese Spannung. Unmöglich, die Nervosität zu erklären, dieses Gefühl des Unrechten; doch schon beim bloßen Hinstarren auf diese Kolonie wußte er, daß etwas nicht stimmte.
Er wandte sich zu dem Rationalisten um. Die Züge des lächelnden Mannes, der dort stand, trugen unverkennbar die Grundprägung uralt-asiatischer Herkunft, doch hatte die Rassenmischung vieler Generationen diese Merkmale überdeckt. Das Gewebe roter Äderchen, das seinen ganzen Körper überzog (vor Jahren hatte er einen Druckunfall gehabt) trug noch mehr dazu bei, die Tatsache zu verschleiern, daß er von allen Rationalisten, mit denen Gorstein je zu tun gehabt hatte, am stärksten jene Rasse verkörperte, die der menschlichen Psyche das Bewußtsein des kosmischen tao so unverwischbar eingeprägt hat.
Peter Ashka: weißhaarig, mit einem dünnen weißen Bart um die Kante des Unterkiefers, tief sitzenden, strahlendblauen, hinter schweren Lidern wohnenden Augen in einem Gesicht voller Fältchen und Äderchen. Er stand leicht gebeugt, starrte auf den Boden zu Gorsteins Füßen; seine Hände, die eine Leinentasche an die Brust gedrückt hielten, zitterten. Nackte Füße schauten unter seiner blauen und grünen Schiffsrobe hervor, die er eng um die Taille gegürtet trug, so daß man sehen konnte, wie skelettdünn er war. Es war die Magerkeit des Alters, nicht der Rasse, und doch war Peter Ashka, so schwächlich er auch wirken mochte, ein kräftiger, vitaler Mann. Und das war eine große Beruhigung für Gorstein, dem diese Vitalität seines Rationalisten noch wichtiger war als seine eigene Potenz.
Gorstein winkte dem Rationalisten, näher zu treten, und bedeutete ihm, auf der einen Seite der Kommunikationsmatte Platz zu nehmen, die in einer Ecke der Kabine ausgelegt und hergerichtet war.
Ashka, wortlos und in respektvoller Halbverbeugung, trat heran und nahm auf der südlichen Seite der Matte seine Position so ein, daß Gorstein mit dem Gesicht zum Pfeiler saß, dem Äquivalent der Achse jedes rotierenden Planeten. Als sie beide saßen und sich anlächelten (und der Statusunterschied formell aufgehoben war), entspannte sich Ashka und legte seine Leinentasche vor sich. Er blickte Gorstein an und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, seine Kleidung abzulegen. Gorstein löste seine Robe, ließ sie von den Schultern gleiten, so daß der warme Stoff ihn noch umhüllte, die fachmännischen Augen des Rationalisten jedoch die Muskeln und Ecken seines Körpers genau beurteilen konnten. „Du siehst angestrengt aus“, sagte Ashka gelassen. „Angespannt. Ja, angespannt. Gespannt auf irgend etwas. Ja. Sicherlich kann ich dir helfen.“
Der Anflug eines Lächelns berührte Gorsteins Lippen. „Danke. Ich frage mich, ob dein Zauberbüchlein mir hilft oder ob nicht einfach du selbst schon entspannend wirkst …“
Er blickte auf die Gegenstände auf der Matte: einige kleine gemusterte Plastikbüchsen, glatt anzufühlen, jedoch mit ihren vielfach verschlungenen, aus dem Material heraus- und wieder hineintretenden Schmucklinien mit den Augen allein kaum voneinander zu unterscheiden, aber schon auf den ersten Blick faszinierend. Er fuhr fort: „Ich habe Koffein, verflüssigt und mit Schokolade versetzt, glaube ich. Hier ist Mescal“ – er tippte auf den kleinsten Behälter und berührte dann einen dritten – „… das ist Neurobyn, im Augenblick vielleicht nicht ratsam. Und dies hier ist …“ Er brach ab, nahm die letzte Büchse auf, betrachtete sie genau und runzelte die Stirn. Dann schüttelte er sie und lächelte, als er es klappern hörte. „Knopfkekse. Sehr gut. Nimm dir ein paar. Hier ist auch Zuckerstärke, und diese Proteintafel ist echtes Fleisch.“ Er deutete auf die Büchsen. „Bitte sehr – bediene dich ganz nach Belieben.“
Begehrlich blickte Ashka auf die Delikatessen und dann auf zum Schiffs-Meister. „Willst du nicht auch …?“
Gorstein lehnte ab. Er hätte keinen Hunger, und ein Stimulans wollte er nicht riskieren. Enttäuscht blickte Ashka noch einmal kurz auf das Proteintäfelchen und hob die Hände. „Danke, aber ich möchte ebenfalls nichts.“
Gorstein räumte die Büchsen von der Matte, und Ashka setzte seine Leinentasche in das Zentrum des Ringes der ching-Hexagramme, die in den Stoff eingewebt waren. Reine Dekoration, doch unmöglich konnte man die Ruhe, die Ausgeglichenheit leugnen, die sie ausstrahlten. Nur eine Ansammlung von Fäden, rief sie gleichwohl etwas im Betrachter wach, es war, als ob etwas Greifbares von der Matte zum Hirn fließen würde, eine Droge, deren Zauber durch den bloßen Anblick wirkte.
Ashka öffnete seine Tasche und packte den Inhalt aus, den er Stück für Stück ordentlich und präzise vor sich aufbaute, wobei er die Finger kurz auf jedem Stück ruhen ließ: Tarotkarten, abgegriffen, alt. Es war ein Marseiller Talon aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, und obwohl die Ecken der Karten auf ihrer Reise durch die Zeit gelitten hatten, glänzten die Bilder in hellen, lebendigen Farben; mit dem Alter hatten die Karten an Bedeutsamkeit gewonnen. Ashka schätzte sie hoch, obwohl er sie selten benutzte. Das Mnemo-Terminal, ein kleiner Bildschirm im Ebenholzrahmen, den Ashka im Laufe der Zeit, wie es seine persönliche Gewohnheit war, mit allerlei Kerben und Einschnitten versehen hatte. Er stellte es so auf, daß seine Erdung den Metallstreifen berührte, der am Fuße der Wand entlanglief. Auf der Oberkante des Bildschirms leuchtete ein winziges rotes Kontrollämpchen, welches besagte, daß die Verbindung zur Assoziations-Gedächtnisbank des Schiffes hergestellt war. Dann nahm Ashka einen kleinen roten Beutel heraus, dessen Inhalt er zur Rechten auf die Matte schüttete: kleine, weiße, sehr zerbrechliche Knöchelchen. Seit vielen Jahren trug er sie bei sich. Er hatte sie von einem Schamanen, seinem ersten Lehrer, geerbt, der sie ebenfalls geerbt hatte – und immer so weiter, durch die Jahrhunderte, bevor es Rationalisten gab, bevor man das Rationale Universum überhaupt begriffen hatte. Knochen. Das aus den Gelenken gelöste Rahmenwerk eines kleinen ausgestorbenen Vogels. Gorstein hatte nur einmal gefragt, warum diese Knochen Ashka so wichtig waren und ob sie ein selbständiges Orakel seien. Ashka, damals noch ein paar Jahre jünger, hatte nur gelächelt und dann in aller Ernsthaftigkeit erklärt: „Es sind die Knochen eines ausgestorbenen Erden-Wasservogels, des Moorhuhns, das einst auf den Gewässern des Planeten Erde schwamm, in den Luftströmungen und Winden der Erde flog, die Erde selbst als Nest benutzte, sich mehrere Fuß tief in die Erde eingrub. So ein Vogel war eins mit allen Biotopen der alten Erde, und in seinen Knochen ist die Erinnerung an diese Umwelt. Werfe ich diese Knochen, so bilden sie beim Fallen ein Muster – hier die Wirbelsäule, dort das Brustbein, so die Beine und so die Flügelknochen – oder vielleicht auch anders. Aus ihrer Konfiguration läßt sich vieles herauslesen. Ich benutze sie selten, und nie in meiner Eigenschaft als Rationalist.“ Gorstein hatte den Kopf geschüttelt und, ganz vorsichtig atmend, die tiefsinnigen Ausführungen des Rationalisten in sich einsinken lassen. Als er dabei einen raschen Blick auf Ashka warf, hatte er gerade noch den Schatten eines Lächelns auf den Lippen des Rationalisten erhascht. Nur einen Schatten, der rasch verschwand. Gorstein war etwas pikiert gewesen und hatte nicht wieder danach gefragt. (War dieser harmlose Scherz der Anfang gewesen? Der Beginn der Korrosion …?)
Das letzte Stück auf der Matte, das wichtigste: eine gebundene Ausgabe des ching, noch in der traditionellen Umhüllung aus schwarzer Seide. Sorgsam legte Ashka es vor sich hin, wickelte es aus, enthüllte das uralte Buch mit den von der Zeit angegilbten Blättern, die mit einer Schutzimprägnierung behandelt waren. Es war in einer altertümlichen Sprache geschrieben, die nur wenige außer den Rationalisten beherrschten, der Sprache, die die Grundlage des komplexeren Inter-Ling bildete, der Universalsprache des Weltalls. In aller Ruhe vollendete Ashka seine subtile Aufstellung; auch seine Hände zitterten jetzt nicht mehr. Gorstein hatte sich abgewöhnt, über die Pedanterie des Mannes zu lächeln, die er bei den traditionellen Vorbereitungen zu den Wandlungen an den Tag legte – übrigens auch bei allen Orakeln, mit denen er arbeitete. Und dabei hatte der Rationalist so gute Erfolge, daß man nicht annehmen durfte, die Tradition sei ohne Bedeutung.
Gorstein wußte, daß es nicht so sehr darauf ankam, wie oder wo oder unter welchen Umständen die Orakel befragt wurden: Der ausgleichende Einfluß des Rationalisten war wichtiger als alles andere. Zum Teil hing die Konsultation von der fachmännischen Interpretation des Luminariums ab … zum Teil von der Versenkung in den Geist des Fragenden … zum Teil vom Werfen der Münzen … zum Teil von Interferenzen …
Er ließ seine Zweifel verblassen und kehrte in die Gegenwart zurück, blickte in das gesammelte Gesicht seines Freundes (seit wie vielen Jahren waren sie schon Freunde? Es kam ihm wie ein ganzes Leben vor, doch es waren nur vierzig Jahreszeiten, zehn Jahre von fünfzig!).
Wie immer, wenn er dem pedantischen Alten zusah, fühlte sich Gorstein unglücklich bei dem Gedanken, daß Ashkas Leben sich dem Ende näherte. Warum hast du das getan, Peter? Warum? Keines Mannes Schicksal gehört nur ihm selber. Du hättest nicht fragen sollen … Die näheren Umstände dieser Befragung hatte er Gorstein nie geschildert. Er hatte nur gesagt, dabei sei fast seine Beziehung zum ching zerstört worden – aber wie es auch vor sich gegangen sein mochte: Ashka hatte eine absolute Voraussage verlangt – er hatte nach dem Zeitpunkt seines Todes gefragt. Und er hatte ihn erfahren. An sich gab das Buch der Wandlungen keine Voraussagen, sondern es führte; aber da es in Tausenden von Jahren zahlreiche Varianten und Erweiterungen erfahren hatte, war Gorstein nicht überrascht, daß auch Elemente reiner Wahrsagerei in seine Blätter eingedrungen waren. Ashka schwieg sich rücksichts- oder vielleicht taktvollerweise über diesen Punkt aus. Er wußte auch nur, daß die ihm verbleibende Lebensspanne jetzt nur noch sieben Monate betrug.
Das verursachte Gorstein bürokratische Kopfschmerzen, denn er mußte bald mit dem langen und mühsamen Verfahren der Auswahl eines neuen Rationalisten beginnen, und alle an Bord befindlichen Schüler Ashkas waren noch zu jung, um dieser Verantwortung gewachsen zu sein.
Ashka schien jetzt mit seinem Arrangement zufrieden zu sein. Er sah seinen Schiffs-Meister an. „Also – nun sage mir, warum du mich rufen ließest. Identifiziere dein Problem.“
„Seit unserer Landung hier …“ Wie schwierig ist es doch, Gefühle in Worte zu fassen, ohne daß sie banal, fast kindisch klingen. „Seit wir hier gelandet sind, habe ich so ein unangenehmes Gefühl. Ein sehr unangenehmes. Ein Gefühl der Spannung wäre vielleicht der bessere Ausdruck.“
Gedankenvoll nickte Ashka. „Und in welcher Hinsicht?“
„In Hinsicht auf … unsere Mission, nehme ich an.“
„Du bist dir nicht sicher?“
„Es ist schwer zu sagen …“ Beim Sprechen fühlte er sich noch unbehaglicher. Wie würde es auf die Offiziere wirken, wenn sich der Schiffs-Meister vor Ratlosigkeit wand wie ein Wurm? Doch der Rationalist stand rangmäßig ganz außerhalb der übrigen Offiziere. Es war Unsinn, daß es Gorstein unangenehm war, seine Befürchtungen diesem Manne zu enthüllen, der zwischen ihm und der gesamten Besatzung stand. „Ja“, sagte er nachdrücklich, „die Mission. Ich verspüre eine gewisse Gespanntheit bezüglich unserer Mission.“
„Und welcher Aspekt der Mission macht dir am meisten Sorgen?“
Gorstein schloß die Augen und schwieg einen Moment in angestrengtem Nachdenken. Er merkte, daß sich seine Hände, die in seinem Schoß lagen, unbewußt öffneten und schlossen; er zog seine Robe über seinen Schoß, denn er kam sich durch diese nervösen Bewegungen noch nackter vor. Durch seine blinzelnden Lider sah er, daß Ashka ihn aufmerksam und lächelnd anblickte. Gorstein erwiderte sein Lächeln.
„Mein Gott, ich bin eben ganz verspannt. Was soll ich bloß tun, Peter?“
Ashka schüttelte den Kopf. „Deine Neigung zu Archaismen ist sehr betrüblich. Was du tun sollst? Nicht so verspannt sein. Es ist ganz einfach.“
„Tief atmen, ich weiß.“
„Nur ein paar Sekunden.“
Nach etwa einer Minute spürte Gorstein, daß sein Körper lockerer wurde, sein Herz langsamer schlug, und dieses peinliche Unbehagen schwand. Er kam sich ein bißchen dumm vor. „Welchen Aspekt der Mission? Ja. Eine gute Frage. Ich habe keine Antwort darauf. Vielleicht brauche ich gerade hier Klärung.“
Der Rationalist lächelte. „Wann hat sich dieses Unbehagen entwickelt?“
„Danach. Unmittelbar nachher.“
„Bevor oder nachdem du die Kolonie zum erstenmal gesehen hast?“
Von seinem Platz aus konnte Gorstein die Erdaufwürfe nicht sehen, doch die Erwähnung der Kolonie zog ihm den Magen zusammen – er sah diese einförmigen Bauten vor sich, die im Winde wirbelnde Rauchspirale.
„Nachher.“
„Was kann ich dann für dich tun? Du machst dir Sorgen, daß es Schwierigkeiten bei dieser Mission geben wird. Das ist ein ganz normales Spannungsgefühl – vom Examen bis zur Mission hat der Gedanke an Mißerfolg etwas Schreckhaftes, manchmal ganz irrationalerweise.“
„Nein!“ Gorstein war im Moment enttäuscht, und das machte ihn ärgerlich. „Nein … Es ist mehr als das. Ich habe zu viele solcher Missionen für unsere neuen Herren durchgeführt, als daß mir eine mehr oder weniger Sorgen machen würde. Es sitzt bestimmt tiefer.“
Lächelnd griff Ashka nach dem kleinen Gedächtnisterminal. „Ich verstehe, glaube ich. Du willst sicher sein, daß dein Unbehagen innere Ursachen hat und nicht von einer Kraft, die von außen kommt, verursacht wird.“
Sehr elegant ausgedrückt, dachte Gorstein. Jetzt, da der Rationalist es so einfach und präzise ausgesprochen hatte, war es ihm auch klar. Wollte er unbewußt dem Gedanken an äußere Ursachen ausweichen? War es für den gelasseneren Gorstein, der unterhalb des Bewußtseins des lauten, autoritären Gorstein lag, ein unerträglicher Gedanke? Vielleicht sollte man das zu einem späteren Zeitpunkt mit dem Rationalisten erörtern.
„Ich möchte, daß du das Buch der Wandlungen für mich konsultierst.“
Ashka schien überrascht zu sein. Er schüttelte langsam den Kopf. „Warum? Es wäre sinnlos. Nach etwas zu fragen, worüber man nur sehr wenig weiß, würde nur eine Antwort allgemeinster Art ergeben – einen Trend, eine Voraussage (da du dieses Wort ja so sehr liebst), die alles mögliche bedeuten könnte. Das ching ist erst dann nützlich, wenn deine Kenntnisse über den Aeran ein wirklich brauchbares Niveau erreicht haben. Das weißt du doch sicherlich, Schiffs-Meister.“
„Trotzdem …“, begann Gorstein hartnäckig.
Jetzt wurde Ashka ärgerlich. „Ich lehne ab!“ rief er, bereute jedoch sofort seinen Ausbruch und lächelte, um Entschuldigung bittend. „Entspanne dich, Karl, dann kann ich etwas Nützliches für dich tun.“
Mißmutig entspannte Gorstein sich und sah dem Rationalisten zu. Die Gedächtnisbank war zu einfach, viel zu einfach.
Ashka bezog sich immer nur auf die Wandlungen, oder zum mindesten hatte er bei anderem Bezug nie diese ausfließende, allumfassende Art, die Gorstein so außerordentlich beruhigend fand. Ein Buch oder ein Freund? Was war wichtiger? Er blickte auf das ching und dann wieder auf Ashka. Er schloß die Augen. Ich weiß es nicht … ich weiß es eben nicht.
Auf dem Gang vor dem Logis des Schiffs-Meisters waren Schritte zu hören, die näher kamen, zögerten und sich dann wieder entfernten. Zweifellos eine Bitte um Landgang; es kam nicht oft vor, daß man eine Welt fand, die so günstige Lebensbedingungen bot wie der Aeran, und die Mannschaft war ziemlich lange in der Gilbert Ryle zusammengepfercht gewesen. Aber im Augenblick würde es keinen Landurlaub geben. Wenn die gigantischen Wälle in die Kameraaugen des Schiffes starrten und in der Umgebung der Siedlung, die eigentlich eine ganz konventionelle, wenn auch etwas rückständige Kolonie sein sollte, nicht das geringste Zeichen von Zivilisation zu entdecken war, konnte davon keine Rede sein.
Ashka war an der Arbeit. Nach dem Gedächtnislogbuch des Schiffes entwarf er Gorsteins Persönlichkeitsdiagramm, zeichnete die Observationslinien vom Datum der Landung auf dem Planeten Aeran Aurigae IV ein und setzte die Fragepunkte. Nach einiger Zeit runzelte er die Stirn und warf einen Blick auf Gorstein. Er setzte den Mnemo-Terminal ins Zentrum der Kommunikationsmatte und stellte seine Frage laut. Die Wörter erschienen in leuchtendem Blau ganz oben auf dem Bildschirm.
„Ist Schiffs-Meister Gorsteins Unbehagen in seiner eigenen Person begründet?“
Der Prozeß dauerte eine Sekunde, dann kam die Antwort, kurz und eindeutig: nein.
„Sind äußere Kräfte die Ursache für Schiffs-Meister Gorsteins Unbehagen?“
Unzweideutig: ja.
Gorstein beugte sich vor und wollte etwas sagen, doch Ashka gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen.
„Was sind das für Kräfte?“
Rotlichtantwort: noch unbekannt.
„Welchen Grad von Sicherheit hat die Feststellung, daß es Kräfte sind, die von außerhalb des Schiffes stammen?“
Dreiundneunzig Teile Sicherheit.
„Ist es sinnvoll, das ching …“ – auf dem Schirm erschienen Wellenlinien, was nicht verstanden bedeutete – … „Korrektur: Hat es einen Wert, das I ching zu Rate zu ziehen?“
Der Prozeß dauerte etwas länger. Dann blitzte es im Bruchteil einer Sekunde auf dem Bildschirm: Es ist sinnvoll, das I ching zu Rate zu ziehen, weil dadurch Umfang und Sitz des Unbehagens in der Psyche Schiffs-Meister Gorsteins deutlicher hervortreten und in Beziehung zu den beobachteten Elementen auf dem Aeran gebracht werden könnten. Vorsicht bei der Interpretation!
Gorstein lächelte. Ashka schien hinreichend befriedigt zu sein; er fühlte sich nicht gedemütigt, weil sich seine bisherige Ansicht als falsch erwiesen hatte. Wie hätte er es auch wissen sollen? Etwas außerhalb des Schiffes … höchst bemerkenswert. Etwas außerhalb dieser Metall wände … etwas, das mit dem Planeten oder mit der Kolonie oder mit beiden zu tun hatte. Gorstein hatte nicht etwa Angst – auf diese Idee kam er gar nicht.
Ashka wickelte das Buch aus und legte es vor sich hin. Er öffnete es und nahm drei runde Silberscheiben heraus, die zwischen den Blättern lagen. Er gab sie Gorstein, der sie kurz betrachtete. Es waren sehr alte Münzen; sie zeigten einen Frauenkopf auf der einen und ein seltsames, verwirrendes Pflanzenmuster auf der anderen Seite. Alle drei trugen die Jahreszahl 1961. Die Inschriften waren in zwei altertümlichen Sprachen, deren eine die Frühform von Inter-Ling war. Vor langer Zeit hatte Gorstein einmal gefragt, was das eigentlich für Münzen seien. „Sixpence“, hatte Ashka geheimnisvoll und mit offensichtlichem Stolz geantwortet, „sehr seltene europäische Münzen aus dem Fische-Zeitalter. Zwanzigstes Jahrhundert nach Christi.“
So alt.
Gorstein betrachtete die Münzen mit Respekt und wärmte sie auf seine Körpertemperatur an. Ihm wurde ein bißchen übel vor Spannung. Sein Herz begann zu rasen, und Ashkas ruhige Gelassenheit schien tausend Meilen weit weg zu sein. Doch schließlich überkam ihn ein tiefinneres Sicherheitsgefühl; es war der Druck der Münzen gegen seine Handflächen in der geballten Faust, ihr bitterer, metallischer Geruch, als er die Faust an die Nase führte, das Geräusch beim Aneinanderreihen der Münzen, während er die gravierte Oberfläche mit den Fingerspitzen abfühlte. So war die Wirkung jedesmal: Die Münzen zogen seine Spannung von ihm ab wie ein Brennpunkt; sie absorbierten seine Emotion auf eine völlig metaphorische Weise. Er öffnete die Hand, blickte auf die feuchten Münzen, den legendären Frauenkopf, die merkwürdigen Runen, deren Sinn sich in dunklen Jahrhunderten verlor … welch eine Kraft, welch eine ehrfurchterregende Kraft steckte in diesen Fragmenten einer fast vergessenen Vergangenheit!
Wie Ashka ihm vor fast zwei Jahren erklärt hatte, als die beiden enge Freunde geworden und einander nähergekommen waren, als es für den Rationalisten nötig gewesen wäre, um dem jüngeren nützlich zu sein, hatte es eine Zeit gegeben, da man zur Arbeit mit dem Buch der Wandlungen keine Münzen benutzte. Man warf dünne Stäbchen wieder und wieder, und mittels einer komplizierten Routine des Auszählens zu vieren hatte man nach und nach das sechsteilige ying-Zeichen aufgebaut, das die Frage beantwortete. Es war Ashkas größter Wunsch gewesen, einen Satz solcher Stäbchen aufzutreiben, doch hätten die zerbrechlichen Dinger die Strapazen der langen Reisen auch kaum überstanden. Anders als Metall konnte Holz seinen Schatten nur wenige hundert Jahre weit werfen. Metall konnte weiter in die Zeit hineinsehen. Die Stäbchen (Stengel hatte er sie genannt) waren ein bißchen parteiischer, denn bei ihnen kam die yang-Linie ein klein wenig öfter als die ying-Linie heraus. Die Alten hatten angenommen, diese Neigung sei die treibende Kraft des ching, doch ihr Verständnis war durch ihr kosmisches Konzept begrenzt gewesen; ein unvollständiges (und oft irrationales) Konzept, denn sie hatten die kosmischen Gezeiten nicht in Betracht gezogen und wenig oder gar nicht die Natur der Zeit selbst; und vor allem hatten sie das Buch der Wandlungen auf eine unpersönliche Art konsultiert und die tieferen Schichten ihres Geistes überhaupt nicht mit herangezogen. Was sie alles versäumt hatten! (sagte Ashka).
„Wenn du soweit bist …“, sagte der Asiat lächelnd, „… ich habe deine Frage formuliert.“
„Ja gewiß, ich bin bereit.“
„Das ist eine Insulare – keine direkte Frage, verstehst du?“
„Warum keine direkte Frage?“
„Es gibt hierbei keine direkte Frage, die du stellen könntest. Doch wenn das ching helfen kann, dann wird es helfen, da ich dabei bin. Verstehst du?“
„Wie lautet die Insulare?“
„Was ist der Grund für mein Spannungsgefühl?“
Gorstein schloß die Augen und wiederholte im Geiste die Frage. Fast zehn Minuten lang saß er reglos und schweigend und wiederholte immer wieder die Insulare, überdachte sie in allen ihren Aspekten und Möglichkeiten, auf jedes verborgene Faktum hin – Zukunft und Vergangenheit, innere und äußere Konsequenzen machte er sich deutlich … es war eine sehr einfache, sehr klare Frage; die Antwort würde ein Hinweis auf irgendein Konfliktgebiet sein, das aufgrund seiner in der menschlichen Natur liegenden Veranlagung zum Vorgefühl, zum Spüren von Alternativen auf ihn einwirken könnte. Wenn Ashka den Strom der Möglichkeiten leitete, seine eigene Kraft einspannte, um Gorsteins unbestimmtes, noch nicht voll gegenwärtiges Ahnen zu präzisieren und zu erweitern, könnte die Frage einen relevanten Abschnitt des ching-Textes hervorheben, der ihm eine Idee davon geben würde, was da nicht stimmte.
Er öffnete die Augen. Der kleine Raum kam ihm dunkel und unruhig vor, die Wände schienen kleine Wellen zu schlagen, Fußboden und Decke vom Zentrum aus nach außen wegzudriften; doch Ashka saß noch vor ihm, gelassen und lächelnd. Langsam gelangte der Körper des Schiffs-Meisters zu seinem vollkommensten Gleichgewicht (yang und ying dachte er – alle meine Hormonspiegel verändern sich, der Parasympathikus schaltet sich knackend ein, der Sympathikus reagiert auf meinen unterbewußten Befehl und schaltet sich ab, die Körpersysteme entspannen sich, der Muskeltonus stimmt, die Ströme fließen normal … Gleichgewicht – letzten Endes kommt alles nur auf Gleichgewicht an. Inneres, äußeres; auf den Wellen reiten, auf dem Strom der Zeit. Alles steht untereinander in Wechselbeziehung, überschneidet sich, verschränkt sich, Materie und Zeit als Produkte der Struktur des großen tao, jeder Mensch ein fragmentarischer Nebeneffekt dieser gleichen Struktur …).
„Jetzt?“ fragte er, und der Rationalist trat hinter ihn, berührte seine Handgelenke und seinen Hals, prüfte die Spannung des Bindegewebes. „Nein. Schlechte Verteilung.“
„Aber ich fühle mich doch ganz entspannt“, protestierte Gorstein.
„Das reicht bei weitem nicht aus, Karl. Dein Körper ist depressiv.“ Er suchte in seiner Leinentasche und brachte einen fest gerollten Streifen Tuch zum Vorschein. Beim Abrollen erglänzten auf dem grünen Stoff tausend winzige Nadeln im Lichte der Kabine.
„Depressiv? Zuviel yin wahrscheinlich.“ Ein Eynismus.
„Wenn du es konservativ ausdrücken willst – gewiß. Wenn du lieber deine elektrischen Hautwerte wissen möchtest …“
„Nein, nein. Diesen ganzen Unsinn von Sudiom-Fluß und so … Zuviel yin, das reicht mir durchaus.“ Er sah zu, wie Ashka eine winzige Nadel auswählte, die fast unsichtbar gewesen wäre ohne das Glitzern ihres diamantenen Kopfes. Gorstein beugte sich vor und fühlte den winzigen Stich, als die Nadel in seine Haut drang. Konnte diese leichte psychische Depression wirklich der einzige Grund seines Unbehagens sein, dieser lästigen Neurose? Es wäre fast beschämend, wenn jetzt die physische Energie aufsteigen und sich neu verteilen würde, und er hätte auf einmal nicht mehr die geringsten Zweifel über seine Mission. Denn dann hätte er den Rationalisten wegen einer Sache bemüht, zu der er eigentlich selbst imstande sein müßte. Wie unangenehm!
Von dem Punkt, an dem die Nadel das Fettgewebe durchbohrt hatte, ging ein Gefühl des Fließens aus: Ashka drehte sein winziges Instrument; er hatte die Augen dabei geschlossen, seine Finger glitten leicht über Gorsteins Haut, tastend, spürend, sich einfühlend. Dann ebbte die Spannung in Gorsteins Magen und Gliedern ab. Er hatte sich im Vergleich zu seinem früheren Zustand schon so entspannt gefühlt, daß er sich der noch vorhandenen Restspannung erst bewußt wurde, als sie verging. Der Raum wurde wieder stabil. Er lächelte.
Ashka fühlte ihm nochmals die Pulse. „Ich wußte nicht, daß du Leberbeschwerden hast. Du solltest wirklich nicht soviel trinken.“
„Eine kleine Fibrose, durchaus unter Kontrolle. Ich nehme schon seit langem keinen Alkohol mehr zu mir, wie du wissen solltest.“
Kopfschüttelnd seufzte Ashka. Er war immer noch nicht befriedigt, aber vielleicht merkte er, daß er Gorsteins Körperrhythmus durch weitere Akupunktur nur noch geringfügig beeinflussen würde. Er zog die Nadel heraus, wickelte sie in Gaze und steckte sie wieder in das Tuch. „Jetzt bist du so gut vorbereitet, wie es nur möglich ist.“
Gorstein sprach die Frage laut aus. Sie erschien auf dem grünen Bildschirm; er sprach das Wort ching aus, der Schirm flimmerte hell auf, und eine Kolonne aus sechs länglichen Flecken erschien, bereit, sich in das Zeichen zu verwandeln, das seine Würfe ergeben würden. Mit einem letzten Seitenblick auf Ashka und einer kurzen, letzten Konzentration auf die Frage warf er die Münzen auf die Kommunikationsmatte. Ihre silbrigen Oberflächen blitzten im Fallen durch das diffuse Licht der Kabine, und die Matte absorbierte die Bewegung. Der unterste Fleck auf dem Schirm verwandelte sich in eine gebrochene Linie.
Schütteln.
Die Münzen fielen und rollten, kamen glitzernd zur Ruhe.
Schütteln.
Fasziniert beobachtete Ashka, wie die Münzen ihre rätselhafte Botschaft formulierten; Gorstein fühlte, daß ihm der Schweiß ausbrach: Von seiner Stirn tropfte es kalt auf die haarlose Brust.
Wirf die Münzen – Schütteln, Rollen, Daliegen – Kopf und Zahl, Zahl und Kopf, yin, yang – flink rollten die Münzen über die Matte, seine Hände zitterten, wenn sie die kleinen Metallscheiben freiließen; die fünfte Linie war eine gebrochene, beide Männer starrten auf das Schirmbild – sie wußten, was das ching ihnen verkünden würde.
„Tu den letzten Wurf“, sagte Ashka leise. „Verbanne den Gedanken an das Resultat völlig aus deinem Geist. Wiederhole die Insulare … wiederhole die Frage …“
Innerlich wiederholte Gorstein die Worte, ließ sie einen Moment in seinem Geiste widerhallen – jetzt ging es ihm weniger um die Frage selbst, als um die furchtbare Entscheidung, die sein letzter Wurf bringen würde. Denn es gab nur zwei Möglichkeiten: die gebrochene Linie für den Erfolg, die ungebrochene für den Fehlschlag … Stagnation … Hexagramm 45 ‚Die Sammlung’, oder 47 ‚Bedrängnis’. Wie furchtbar, sich den Entscheid vorher auszumalen; doch es war unmöglich, nicht zu sehen, daß nur diese beiden Hexagramme in Frage kamen, das eine, das sich Gorstein so wünschte, das andere, das er so fürchtete.
Er warf die Münzen.
,Bedrängnis’!
„O mein Gott!“ rief er aus. Er hatte das Gefühl, leichenblaß geworden zu sein, innerlich so tot, wie sein verzerrtes Gesicht äußerlich schien. Seine Spannung verflüchtigte sich rasend schnell, sein Unbehagen schwand dahin, und an ihrer Stelle überfiel ihn eine derartige Katastrophenstimmung, daß er beinahe mit einem Aufschrei rücklings in die Falten seiner Robe gesunken wäre.
Es ist doch nur ein Buch, sprach eine Stimme in seinem Innern; aber er war so durcheinander, daß er keine sachlichen Überlegungen zum Wert oder Unwert des Buches anstellen konnte.
Er blieb sitzen, zutiefst erschüttert. Ashka sah ihn etwas erschrocken an. „Sei doch nicht so irrational! Gott existiert nicht. Er war immer nur eine Entsprechung dessen, was unsere Ahnen im tao sahen. Und überhaupt – warum so deprimiert, Karl? Solltest du etwa in fünfzig Lebensjahren – in dreißig davon hattest du ständig Rationalisten zu deiner Verfügung! – immer noch nicht erfaßt haben, daß das ching warnt, Trends aufzeigt, aber nicht prophezeit? Kannst du so etwas immer noch glauben, Karl?“
„Wie lautet der Text? Wie steht es im Buch?“
„Unsinn, Karl“, wehrte Ashka ab. „Das Orakel hat dich falsch beeinflußt, und weder ich noch das Orakel können dich ändern …“
„Lies mir vor, was dasteht!“ entgegnete Gorstein heftig, und schon beim Sprechen dachte er: Warum? Das ist doch ganz egal? Es ist doch nur ein blödes Buch, eine Krücke – warum kann ichs nicht abschütteln wie Regen, wie eine lästige Frau?
Ashka nahm das Buch auf, doch er öffnete es nicht, sondern barg es in beiden Händen. „Es gibt kein Verstehen. Das Große geht, das Kleine kommt …“
„Und was heißt das, deiner Meinung nach, Peter?“ Ist mir doch ganz egal.
Ashka legte das Buch vor sich hin und blickte auf den mürben Deckel. „Wenn du nicht deine natürliche stabile Position im Wirbel der Ereignisse findest, wenn du dich nicht auf deine Situation einstellen und sie bewußt daraufhin überprüfen kannst, welcher Trend diese Voraussage verursacht hat, dann glaube ich, das Orakel sagt eine fehlgeschlagene Mission voraus, und irgendwie spürst du das. Es ist auch, muß ich sagen, ein Ratschlag von der Art, wie ich ihn erwarten würde, wenn sich deine Beziehungen zur Besatzung dieses Schiffes verschlechtern. Diese Zweideutigkeit kommt daher, daß du das ching vor der Zeit befragt hast. Auf jeden Fall steuerst du in tiefes Wasser, Karl … Du darfst auf keinen Fall vergessen, daß der Ausgang jetzt in deiner Hand liegt. Erfolg oder Fehlschlag hängen von dir ab. Die Zukunft steht nicht fest, also laß es nicht darauf ankommen. Nimm an, daß alles schiefläuft, finde heraus, warum, und dann stelle es ab.“
„Irgend etwas außerhalb des Schiffes …“
„Nein, Karl. Etwas außerhalb deines Bewußtseins.“
„Wir können es ja näher spezifizieren. Wir können das ching fragen, auf welche Alternative es hinauswollte. Wir können es fragen, was genau es als schieflaufend ansieht.“
Ärgerlich schüttelte Ashka den Kopf. „Nein, Karl, nein. Das können wir nicht. Und wenn wir’s könnten, wäre es zu gefährlich.“
„Das hast du schon einmal gesagt“, fuhr Gorstein auf. „Das hast du früher schon oft gesagt. Wieso würden du und das Buch der Wandlungen kaputtgehen, wenn man etwas Spezifisches fragt?“
„Warum sollte ich dich anlügen, Karl?“
„Weil du dir in deinem rätselhaften Rationalistenhirn vielleicht einbildest, daß spezifizierte Voraussagen zu leicht sind. Du denkst vielleicht, wenn man vor Alternativen gestellt wird und Entscheidungen treffen muß, das ist gut für den Charakter, davon wird man stärker. Aber ich brauche Tatsachen, Rationalist, klare Tatsachen. Was wird schieflaufen – wie, warum, wann? Sag mir diese Tatsachen!“
„Was würdest du tun, wenn ich sie wüßte?“
„Wie meinst du das?“
„Wie würdest du handeln?“
Gorstein starrte dem Alten ins Gesicht. Ashka lächelte, leicht amüsiert, ohne jede beleidigende Absicht. Tatsachen, dachte Gorstein, Tatsachen oder gar nichts. Was nützt alles andere zwischen uns? Dieses Buch macht uns zu Krüppeln … „Diesen Streit hatten wir doch schon einmal, Peter, nicht wahr?“
„So viele Male, Karl …“ Jetzt grinste Ashka unverhohlen. „Wie kommt es nur, daß du anscheinend nie die Natur des ching begreifst? Warum gerade du? Jeder andere hat seine Beziehung zum Orakel, doch nicht Karl Gorstein.“
„Kann ich dafür, daß die Wandlungen … Entschuldigung, das I ching. Immer höflich. Kann ich dafür, daß wir uns nie richtig nahekommen?“
Ashka zuckte die Achseln. „Unmöglich zu sagen. Ich kenne andere Männer – und Frauen –, die nie völlig eins mit dem Orakel geworden sind. Bei denen bin ich, wie bei dir, nicht ein bloßer Apparat zur Einstellung der richtigen Brennweite, sondern ein tatsächlicher Kanal, ein Kontrollorgan. Bei dir muß ich sehr schwer arbeiten, Karl. Ich muß du werden, anstatt einfach dazusitzen und den Vorgang aus der Ferne zu beaufsichtigen. Du machst mir sehr viel Mühe.“
Meine Krücke? Meine helfende Hand? Damit ich auf dem graden schmalen Weg bleibe?
Die Gedanken bewegten sich weiter in seinem Kopf.
„Ich weiß, Peter. Und darum schätze ich dich nur um so mehr. Ohne dich …“
„Wärest du Treibgut, Karl. Bloßes Treibgut, den Wellen und Strömungen ausgeliefert, unfähig, deine Existenz von einem Augenblick zum nächsten zu führen und zu kontrollieren. Es wäre viel leichter für mich, wenn du wenigstens versuchen würdest, das ching zu verstehen. Es ist doch wirklich ganz einfach. Aber dein hartnäckiger Glaube, daß es das Absolute weiß und es aussprechen kann, das ist … nun, eine Erschwernis für mich und das Orakel.“
„Es kann das Absolute aussprechen. Ich weiß, daß es das kann, und du weißt es auch.“ Er wollte jetzt diskutieren. Das Buch selbst ließ ihn ganz kalt, wenn er es ansah.
„Es gibt kein Absolutes, Karl. Nichts ist unwandelbar. Es kann bloß näher spezifizieren, und du kannst dich entschließen, auf der Welle zu reiten. Ich könnte das Faktum meines Todes ändern, doch ich habe nicht den Wunsch dazu. Ich gleite ihm gelassen entgegen, denn das ist mein Wunsch. Kein Absolutum, Karl, sondern Spezifika. Und auch die nur um einen schrecklich hohen Preis. Schrecklich hoch. Das ching ist ein empfindliches und wählerisches Orakel; es ist in uns allen, und wir bauen unsere Beziehung zu ihm auf, indem wir die Philosophie lesen, die es in Tausenden von Jahren durch die Menschen artikuliert hat. Die Worte auf dem Papier sind ganz gleichgültig; wichtig ist, was sie innerlich bedeuten. Und um diese Bedeutung zu erfassen und sie mit deinem Zukunftsgefühl zu verkoppeln, mußt du das Orakel verstehen und lieben. Und das tust du nicht, Karl. Du verstehst es weder, noch liebst du es. Aber es versteht dich, und jawohl, ich glaube, es liebt dich, und mit mir als Mittler leitet es dich. Doch wir wären beide so froh, wenn du es …“
„Verstehen könntest.“
„Ja, Karl. Verstehen könntest.“
„Ich werde es versuchen.“
Wieder blickten sie auf das Hexagramm. „Was besagt diese gebrochene Linie?“
Nach kurzem Zögern erwiderte Ashka: „Er verbirgt seine Schande.“
Gorstein spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich, doch er blieb ruhig. Schande! Was lasse ich diesen Mann mit mir machen? Schande? Unerträglich! „So daß die ganze schlechte Nachricht lautet: »Persönliche Katastrophe’ – würdest du es so ausdrücken? –, ‚die von einem Fehlschlag im Verlauf dieser Mission herrührt’?“ sagte er laut – es sollte fatalistisch klingen.
„Wenn es so ist, dann laß es nicht dazu kommen. Außerdem habe ich sehr starke Zweifel daran, daß bei dieser Sitzung überhaupt ein exaktes Resultat herauskommen kann. Es ist von grundlegender Wichtigkeit, Karl, daß du dein inneres Gleichgewicht erlangst, ehe du das ching in dieser Sache weiter befragst.“
„Ja“, entgegnete Gorstein ernst. Er stand auf, trat nackt wie er war, ans Fenster und starrte hinaus auf die stummen Erdwälle der Aerani-Siedlung. „Danke, Rationalist. Danke für deine Zeit und Kraft.“
„Die Konsultation ist doch noch nicht beendet“, sagte Ashka, und ihm war anzusehen, daß er überrascht war, weil Gorstein das Orakel aufgab, ehe er den vollen Spruch gehört hatte.
„Danke, sagte ich. Das ist alles.“
Ashka starrte auf Gorsteins nackten Körper, der als dunkle Silhouette gegen das helle Tageslicht stand. Gorstein war ein kräftig gebauter Mann mit leichtem Fettansatz an Hüften und Schenkeln, doch muskulös und geschmeidig dabei. Aber wie er da am offenen Fenster stand, schien er zu altern, krumm und schlaff zu werden, seine festen Konturen zu verlieren. Ashka blickte auf den Bildschirm hinab und sagte leise: „Wechsel!“ Das Hexagramm flimmerte, die Linien wechselten zu einem neuen Zeichen.
Hexagramm 33, ‚Rückzug – Gelingen – für Kleine ist fördernd Beharrlichkeit’. Ashka verstand eine dieser Implikationen nur zu gut, doch er blieb stumm und suchte seine Geräte zusammen. Als er das ching aufhob, zögerte er und hielt es in seinen zitternden Händen, fühlte den rauhen Stoff des Einbands, roch genüßlich den Duft der alten Blätter. Immer vermittelte ihm dieses Buch ein starkes, fast greifbares Erkenntnisgefühl, wenn er es in Händen hielt. Es war ja, wie er wußte, nur ein Schlüssel zur Tür in das eigentliche Orakel – und doch war dieses Gefühl immer am stärksten, wenn er das Buch in Händen hielt. Es war, als sei es immer zornig, als seien die bedruckten Buchseiten wie die tiefen Linien im Gesicht eines Mannes, die auf eine zornige Natur hindeuten, auch dann, wenn sein Herz zeitweise frei von Zorn ist. Am Zorn des ching waren die anderen Orakel schuld. Das seidene Tuch schirmte es ab vom Tarot und von der Extrapolativ-Funktion des Schiffes; doch es wußte, daß sie da waren – es grollte ihnen, aber das Grollen war immer sehr leise.
Jetzt, mit dem ching in seinen Händen, Gorstein beobachtend, doch ohne daß er etwas anderes wahrnehmen konnte als das Gefühl des tao, das sich im Buch verdichtete, spürte er stärkeren Zorn, eine fast greifbar deutliche Emotion des ching. Es mußte Eifersucht sein.
Gab es draußen auch ein Orakel? Wenn ja, dann mußte es ein sehr kräftiges sein, weil es so auf das ching wirkte. Er hüllte es in sein Tuch und packte die anderen Gerätschaften ein. Wortlos, rückwärts gewandt, verließ er den Raum und überließ Gorstein dem Nachdenken über seine nächsten Schritte.