4

 

Elspeth blinzelte sich die Tränen aus den Augen und starrte zu dem alten Mann hoch.

„Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe“, sagte dieser. Sie wollte antworten, doch es tat zu weh, wenn sie den Kiefer bewegte; stechender Schmerz durchschoß ihre Wangenmuskeln, und sie gab es auf; Kopfschütteln genügte ja auch. Der alte Mann schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte, sondern sah sie nur an. Es war derselbe Blick, mit dem er sie in der Feuer-Halle durch die Felsenpfeiler angestarrt hatte. Erstaunt, betroffen … interessiert.

„Ich habe gesehen, was er mit Ihnen gemacht hat.“ Er blickte in die Richtung, in der Darren verschwunden war. „Sehr brutal. Wirklich, sehr brutal, doch immerhin …“ Er zögerte kurz. Ausdruckslos starrte sie zurück. Irgend etwas war an ihm, das sie wiedererkannte, und doch war es etwas Undefinierbares … „Ja“, fuhr er verlegen fort, „ich dachte, es hörte sich mehr nach einem Streit zwischen Liebesleuten an als nach sonst etwas – deswegen habe ich meine Automatik aus dem Spiel gelassen.“ Er tippte auf den kleinen roten Beutel, der an seinem Gürtel hing. Jetzt, da sie auf seinen Gürtel blickte, sah Elspeth erst, wie dünn der Mann war, wie zerbrechlich. Seine rote und grüne Robe blähte sich im Wind, und sie konnte unter dem halbdurchsichtigen Stoff seine skelettdünnen Beine erkennen. Sein Gesicht war scharf und runzlig, wie von vielen Jahresringen; funkelnde Augen, die manches Jahrzehnt gesehen hatten.

Fast sofort ging ihr auf, wer er war. Ihr Verstand, wenn auch noch verwirrt von den Prügeln und den immer noch schmerzenden Beulen, setzte endlich die physiognomischen und charakteristischen Merkmale zusammen und fand die ins Auge springende Lösung. „Rationalist …“, murmelte sie und zuckte vor Schmerzen zusammen. Der alte Mann ließ sich auf die Knie nieder und berührte mit dem Finger ihre Lippen. Seine Miene wurde ernst, dringlich, beinahe jungenhaft unter den zeitverwitterten Konturen. „Rationalist …“, murmelte sie noch einmal.

„Sprechen Sie nicht, ehe wir den Bluterguß beseitigt haben. Hier …“ Mit einem Schwung holte er ein kleines Leinenpäckchen herum, das hinten an seinem Gürtel gehangen hatte, öffnete es und griff hinein, ärgerlich, weil er nicht gleich finden konnte, was er suchte. „Schade … anscheinend habe ich …“

Mühsam lächelnd berührte sie seine Hand. „Lassen Sie nur“, sagte sie. „Mein Boot … da …“

„Ich helfe Ihnen.“

Er stand auf und faßte ihre Hand, doch als sie versuchte, auf ihre zitternden Beine zu kommen, war ihr Gewicht zuviel für den kleinen Mann, und er ging in die Knie. Als er sie leise auflachen hörte, schüttelte er den Kopf und lachte auch. „Ich war noch nie sehr kräftig.“

„Bestimmt haben die anderen Kinder Sie oft verhauen, als Sie noch klein waren“, sagte Elspeth mühsam, während sie sich hochrichtete und sich auf die Beine stellte – ein ungewohntes Gefühl im Moment. Sie sah auf den alten Mann hinab. Er lächelte.

„Ich war zu schlau. Ich redete mich immer heraus.“

„Das können …“ Sie fuhr zusammen. „Das können Sie also gut. Mein Gesicht tut mir zum Sterben weh.“

„Heutzutage bin ich dessen nicht so sicher, daher habe ich meine Automatik mit. Stützen Sie sich auf mich, wenn Sie wollen.“

Sie sah ihn an, und er lächelte verständnisvoll. „Nein, lieber nicht.“

„Ich glaube, ich gehe lieber allein“, sagte sie, „aber vielen Dank für die gute Absicht.“

Ihre Fähre lag fast so, wie sie sie am Morgen verlassen hatte, halb versteckt unter toten Pflanzen und dem Tarnnetz, das sie darübergezogen hatte; aber jemand war mit Gewalt eingedrungen, das war ohne weiteres zu sehen. Diese Zubringerfahrzeuge waren nicht einbruchsicher konstruiert, sondern im Gegenteil so, daß der Benutzer, wenn er von einem Rekognoszierungsgang zurückkam und nachlässigerweise die Schlüsselscheibe vergessen hatte, immer noch ohne große Schwierigkeiten hineinkam. In der Fähre gab es selbstverständlich nichts Wertvolles, doch Raub war auch nicht das Motiv des Eindringlings gewesen.

Betroffen starrte der Alte durch das offene Einstiegsluk. „Wir haben Sie heute früh landen sehen. Ich bin sofort nach Abbruch der Versammlung hergekommen, und da war es schon so.“

„Diese Jenseitler!“ murmelte sie. „Wetten, daß Ihr Schiffs-Meister die Steuervorrichtung abmontiert hat?“

„Das hat er. Er will wissen, wer Sie sind. Bestimmt wird er vernünftig sein und sie Ihnen wiedergeben.“

Ich sitze hier fest, war ihr erster Gedanke. Ein kalter Schauer durchfuhr sie, war jedoch schon vorbei, als sie sich über diese unwillkürliche Angstreaktion klar war. War das denn wirklich so wichtig? Auf jeden Fall war es zu spät, um die langsame Auflösung der Erinnerung an ihre Vergangenheit aufzuhalten. Die Zersetzung hatte bereits begonnen, und wenn es immer so lief wie bei Austin, dann würde die Zersetzung weitergehen, ob sie nun von hier wegging oder nicht.

„Die Versammlung wurde abgebrochen …“

„Es gab einigen Ärger“, lächelte der alte Mann, „wir wurden rausgeschmissen. Eine sehr rätselhafte Kolonie …“

„Ja.“ Unbewußt nickte sie zustimmend, wechselte aber brüsk das Thema. „Da gleich im obersten Fach ist ein Erste-Hilfe-Kasten. Bringen Sie ihn mir, bitte?“

Sie setzte sich am Ufer hin und wartete auf den Rationalisten. Von ihrem Platz ganz unten an dem spärlich bewachsenen Flußrand konnte sie nur Dschungel sehen. Von ferne hörte sie Tierschreie, konnte sie aber nicht identifizieren. Wie immer lag stechender, leicht fauliger Pflanzengeruch in der Luft, doch daran gewöhnte man sich bald, ebenso wie man den geringeren Sauerstoffgehalt der Atmosphäre nicht mehr empfand, sobald man das anfängliche Unbehagen bei der Ankunft überwunden hatte.

„Mein Name ist Peter Ashka“, sagte der alte Mann, setzte sich neben Elspeth und gab ihr zwei kleine, weiße Kissen.

„Elspeth Mueller“, murmelte sie und drückte sich die Kissen an die Wangen. Sie kniff die Augen zu, als Myriaden winziger Nadeln injizierend und absorbierend in ihre Haut drangen.

Ashka streckte die Hand aus und schüttelte ihren kleinen Finger mit dem seinen. Sie lächelte.

„Sieht man so deutlich, daß ich Schiffs-Rationalist bin?“ fragte er. Er rückte näher zu ihr, und dabei zog sich sein Körper fast in sich selbst zusammen; er verschwand beinahe in dieser unpraktischen Robe. Er muß frieren, dachte Elspeth mit einem Seitenblick auf ihn. Sie nickte.

„Nicht unbedingt Schiffs-, aber jedenfalls Rationalist. Gleich habe ich es allerdings nicht gesehen. Ich bin seit einer ganzen Weile ein bißchen weg von alledem.“

„Weg von alledem? Wovon? Von der Zivilisation?“

Elspeth lachte und bedauerte das sofort. Sie hoffte, ihr Lachen hatte nicht zynisch geklungen, aber der Wert dieser Bezeichnung kam ihr ziemlich eingeschränkt vor, seit sie mit der Aerani-Kultur in Berührung gekommen war, einer Steinzeitkultur – einer sehr hohen Kultur jedoch, nach dem einzigen Maßstab, der ihrer Ansicht nach von Betracht war: dem hohen Grad ihrer Kommunikation und Kooperation mit der Natur, die sie nutzten, ohne drastische ökologische Veränderungen zu verursachen. In ihrer Vorstellung sah sie diese Definition durch ihr Hirn laufen, vielsilbige Wörter in glänzend schwarzer Druckschrift. Sie dachte oft in Definitionen, ein Überbleibsel der intensiven Fachgelehrsamkeit ihrer Jugend.

„Daher kommt es vielleicht“, entgegnete Ashka, „daß ich nicht genau determinieren kann, wer oder was Sie sind. Das soll übrigens eine sehr geschickt formulierte Frage sein.“

„Damit ich nicht merken soll, daß Sie mich ausspionieren. Ah – diese Rationalistendiplomatie!“

„Wir arbeiten auf Ebenen, von denen die meisten Menschen gar nicht wissen, daß sie sie in sich haben.“

Ein alter Rationalistenscherz. Elspeth lachte, weil das leichter war, als den alten Herrn in Verlegenheit zu bringen. Sie spürte ein warmes Tröpfeln an ihrem Handgelenk und nahm das Kissen von ihrer rechten Wange. Dunkles Blut war von dem Absorptionskissen auf ihre Haut gelaufen, und sie fluchte leise. „Immer erwische ich die undichten! Immer!“

„Ihr Gesicht sieht schon viel besser aus. Tut es noch weh?“

Tatsächlich war der Schmerz weg. Komisch, dachte sie, wenn der Schmerz aufhört, merkt man es manchmal gar nicht, doch wenn er kommt, steht er im Mittelpunkt des Bewußtseins.

„Es ist schon besser, Opa. Viel besser.“

„Sie können Ashka zu mir sagen, wenn Sie wollen …“

Elspeth hatte gar nicht gemerkt, was sie da gesagt hatte. Sie war in die lässige Sprechweise und Haltung zurückgefallen, mit der sie gelebt hatte, in der sie aufgewachsen war. Respektlosigkeit war fast eine Weltanschauung. In mehrjähriger Abwesenheit von ihrer Heimatwelt war ihr diese Haltung abhanden gekommen, daher hatte sie es jetzt als evolutionär erfrischend empfunden, wieder einmal so zu reden. Doch sie kam sich scheußlich vor. „Ich bitte um Entschuldigung, Ashka. Ehrlich.“

Sie faßte seine Hand, doch in seinem Gesicht war keine Empfindlichkeit zu lesen; er sah so gelassen und heiter aus wie vorher. Schließlich war er Rationalist; er wußte zuviel, um anderer Leute Schwächen auf irgendeine Weise in jene private geistige Ebene eindringen zu lassen, die ihm ganz allein gehörte.

„Ich wette, Sie wissen, woher ich komme“, lächelte sie.

„Neu-Anzar, jawohl. Ich glaube, halb und halb habe ich das schon an Ihrem Aussehen erkannt.“

„Daß ich so groß bin, meinen Sie. Nun, das ist schließlich nicht so selten.“

„Ich meinte Ihre Stammesnarben. Sind das Diamanten?“

Sie schob das lockere Jackett zurück, so daß sich das schwächliche Sonnenlicht in den leicht bestaubten Facetten ihrer Brüste fing. Ashka starrte lange hin. Elspeth waren seine forschenden Blicke auf die Dauer etwas unbehaglich, doch schließlich sah er weg und schüttelte den Kopf. Er murmelte etwas – sie glaubte, ‚barbarisch’ herauszuhören.

„In der Stammeshauptstadt werden noch viel schlimmere Sachen gemacht. Manche Initiationsriten bei den äquatorialen Stadt-Clans können mit dem Tod enden. Andere wieder sind sehr schön. Damals war ich sehr stolz – ich erinnere mich, daß ich sehr stolz war … und dabei hatte ich große Schmerzen …“ Leere … Absichtlich verbannte sie die Vergangenheit aus ihrem Sinn; sie wollte nicht merken, daß bereits noch mehr von ihrer Kindheit weggefressen war.

„Sie wissen, warum wir hier sind“, sagte Ashka schließlich. Es war eine Feststellung, keine Frage. Elspeth nickte stumm. Als sie weiter nichts sagte, fuhr er fort: „Wie lange haben Sie keine Verbindung mehr mit der Zivilisation?“

„Seit Jahren. Die habe ich natürlich nicht alle auf dem Aeran verbracht. Aber – ich hatte eben keine Verbindung.“

„So wissen Sie also nichts von dem Großen Kampf?“

Sie sah ihn an. „Natürlich weiß ich davon. Ich habe gesehen, wie es anfing. Das hat mir Angst gemacht. Einmal, weil ich wußte, was mit dem Anzar passieren würde, wenn die Elektra die Macht übernahm, und dann, weil … nun, ich hatte das Gefühl, die Elektra würde eine noch universalere reaktionäre Politik betreiben als die Alte Föderation. Da hatte ich doch recht, nicht wahr? Diese Monitoren …“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist doch richtige Angst, nicht wahr? Angst vor allen diesen winzigen, unbedeutenden Kolonien, die sie nicht sehen können; sie müssen sich gegen die Eins-zu-einer-Trillion-Chance schützen, daß aus einer Kolonie in der zehnten Generation eine Supermacht hervorgeht.“

„Unzweifelhaft ist das der Fall“, erwiderte Ashka ernst. „Die alte Flotte, die alten Besatzungen sind alle zu dieser Aufgabe herangezogen worden, und ein Mißerfolg hätte furchtbare Konsequenzen. Die Elektraner wissen, wie wir über diese Art von Invasion denken und wissen auch, daß wir sie ablehnen würden, wenn es möglich wäre; und so haben sie es uns praktisch unmöglich gemacht, daß wir ihnen nicht gehorchen. Es gibt nur einen Mann auf dem Schiff, der nicht in ständiger Furcht vor dem Scheitern dieser Mission lebt.“

„Sie selbst.“

„Ja, ich. Ich habe im ganzen bekannten Universum keine Familienangehörigen. Der Tag meines Todes, eines friedlichen Todes, ist im Kalender in meiner Kabine angestrichen. Aber ich bin nur der Rationalist auf dem Schiff und habe mit den Befehlen nichts zu tun.“ Er sah Elspeth forschend an. „Sie sind der Meinung, daß Sie diese Aktion verhindern müssen?“

„Die Aktion Ihres Schiffs-Meisters? Ja, ganz entschieden.“

„Ich glaube, das wäre ein vergeblicher Versuch.“

Elspeth lachte. „Vielleicht kann ich das ching darüber lesen. Vielleicht sollte ich versuchen, mich wieder zu vertragen …“ Sie nahm das Kissen von ihrer linken Wange und warf es zu dem anderen auf die Erde. In ein paar Minuten würde die organische Struktur des Kissens zusammenbrechen, so daß es ohne weiteres von der Biosphäre absorbiert werden konnte. Angelockt von dem seltenen Protein, das durch den Boden ins Wasser sickerte, kam ein Rudel gelber Flußtiere (skitch) an die Oberfläche geschossen; winzige Beinchen paddelten wild gegen die Strömung an, die schlängelnde Bewegung erinnerte Elspeth an die Nattern, die sie in verschiedenen Zoos gesehen hatte.

„Wie meinen Sie das – sich wieder vertragen?“ fragte Ashka.

„Mit dem ching. Wir haben uns verkracht.“

„Haben Sie versucht, zu einer Verständigung zu gelangen? Das ching kann sehr launisch sein, wissen Sie. Mir nimmt es jedesmal übel, wenn ich das Tarotspiel benutze.“

Überrascht und verblüfft mußte Elspeth laut auflachen. „Darauf wäre ich nie gekommen. Eifersucht. Wirklich?“

„Absolut. Ein Orakel betrachtet sich gern als das einzige, das sein Benutzer hat. Wenn man daneben noch andere Orakel benutzt, kann es sehr böse werden, und man muß eine ganze Menge Rationalistik aufwenden, um wieder zu einer brauchbaren Verständigung zu gelangen.“

„Darauf wäre ich nie gekommen“, wiederholte Elspeth. „Ich habe natürlich immer nur das ching benutzt. Dieses Problem ist also nie akut geworden.“

„Und wieso habt ihr ‚euch verkracht’?“

Sie zuckte die Achseln. „Erst seit ich hier bin, auf dem Aeran. In den letzten fünf Jahren habe ich der Gesellschaft für Randgebietskunde angehört und hauptsächlich Erdvorgeschichte betrieben. Die meisten Randgebietler stecken so fanatisch in ihrer speziellen Forschung, ihrem Randgebiet, daß ich sehr für mich gelebt habe. Ich brauchte nicht zu schnorren oder zu jobben, wie die meisten von denen … Aber es hat mir Spaß gemacht.“

„Und Ihr Randgebiet war prähistorische Soziologie?“

„Frühe Erd-Zivilisationen, kann man sagen. Ausgrabungen, Rekonstruktionen … Dann hörte ich eines Tags von der Aerani-Kultur. Jemand hatte Bilder von der Kolonie und von den Symbolen, die sie bei ihren Ritualen benutzen; da mußte ich natürlich herkommen und mir das selbst ansehen. Innerhalb von ein paar Tagen, die ich größtenteils im Orbit verbrachte, nicht einmal hier unten, stellte ich fest, daß mir das ching lauter Unsinn erzählte. Ich stellte eine Frage, und es antwortete irgend etwas, das überhaupt nichts in meinem Kopf auslöste. Kompletten Unsinn.“

„Haben Sie es gefragt, was da falsch war?“

„Es ist ja kompliziert, und ich habe vielleicht auch etwas falsch gemacht, aber – ja, ich habe gefragt, und ich bekam immer noch nichts. Ein paar Tage lang fühlte ich mich sehr einsam.“

„Bestimmt“, sagte Ashka mitfühlend, „aber ich glaube nicht, daß das ching irgendwie böse auf Sie ist. Es macht mich stutzig, was Sie mir da über die Unsinn-Antworten erzählen. Wenn das ching eine Wut auf Sie hat, dann läßt es Sie das auch wissen. Verwirren tut es niemals.“

„Vielleicht. Vielleicht hat es bloß einfach nicht mehr funktioniert. Wir waren nie so besonders intim.“

„Das brauchen Sie gar nicht erst zu sagen. Daß es nicht mehr funktionierte, meine ich. Aber warum – das verwirrt mich. Das ching ist mit dem Benutzer verbunden und kann sich nur zusammen mit ihm einem Wechsel der kosmischen Umgebung anpassen. Selbst die Aerani müßten eigentlich das ching benutzen können … Von einem völligen Versagen habe ich nie gehört.“ Er runzelte die Stirn, starrte aufs Wasser, auf die Tierchen, die sich dort von dem unsichtbaren Blutplasma-Strom nährten, der in den Fluß sickerte. Hier und da verschwand eines der Tiere, halb oszillierend, halb schwimmend, aus dem dichten Gedränge und kam an anderer Stelle zur Ruhe. Ashka beobachtete das Treiben nachdenklich, kaute an der Innenseite seiner Backen, schüttelte den Kopf, als könne er kaum glauben, was Elspeth ihm berichtet hatte.

„Wenn ich jemals die Beziehung zum ching verlöre, könnte ich nichts Besseres tun, als mir eine Kiljarod an den Kopf zu setzen, um mein Leben sekundenschnell zu beenden.“

„Es wäre furchtbar, wenn so etwas einem Rationalisten passieren würde, und furchtbar auch für die, die von ihm abhängig sind. Ich selber war nie so abhängig …“

„Dann sind Sie eine Ausnahme.“

Sie saßen ein Weilchen wortlos da. Verspätet merkte Elspeth, wie gut sie daran getan hatte, offen und ehrlich über den Verlust ihrer Beziehung zum Orakel zu berichten. Wenn Ashka auch nur eine Sekunde lang glaubte, daß die Anwesenheit des Schiffes auf dem Aeran die Beziehung der Mannschaft zum offiziellen Orakel des Schiffes beeinträchtigen könnte, dann würden sie zweifellos den Planeten sofort verlassen. Doch es würde schon schwierig genug sein, selbst einen Rationalisten davon zu überzeugen, daß ein Planet vom Erd-Typ ohne auffällige magnetische oder gravitatorische Abweichungen der Grund dafür sein könnte, daß sich ein einzelnes weibliches Wesen nicht mehr auf ihr ching verlassen konnte. Und doch … es war eine Chance. Wenn sie selbst den Schiffs-Meister aufsuchen und ihn bitten würde, sofort zu starten und der neuen Regierung zu erklären, was es mit dem Aeran auf sich hatte, dann könnte vielleicht alles gut werden.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fragte Ashka: „Was machen Sie nun wirklich auf dem Aeran? Was ist mit Ihren Symbolen?“

„Ich zeige es Ihnen.“

Sie standen auf, und Elspeth ging voran, am Flußufer entlang. Sie kletterten über herausragende flache Felsen, glitten im Schlamm aus, duckten sich unter den tiefhängenden Ästen riesiger Grünrindenbäume, wo sich der Dschungel so nahe ans Wasser drängte, daß er stellenweise tatsächlich über die Landkante stolperte und bizarre braune und gelbe Kräuter aus Unterwasserwurzeln wuchsen. Ashka bekam Schwierigkeiten mit dem Atmen; die Atmosphäre des Aeran wirkte sich auf seine nicht daran gewöhnten Muskeln aus, und vielleicht lag es auch an seinem Alter. Sie mußten eine längere Pause machen. Ob sie ihm nicht einfach sagen könne, was er wissen wollte, fragte er; doch sie schüttelte nur lächelnd den Kopf, und nach einer Weile rutschten und stolperten sie weiter, an dem verschlungenen Fluß klebend, immer auf der Hut vor möglicherweise gefährlichen Tieren.

Dann sah Ashka seinen ersten Schwarzflügler. Mit ausgebreiteten Schwingen, um im Gleichgewicht zu bleiben, trieb er auf dem Fluß, den Kopf unter Wasser, und delektierte sich an irgendwelchen anscheinend reichlich vorhandenen Wassertieren. Elspeth nahm von einem Flecken fast kahlen Erdbodens einen Stein auf und warf nach ihm. Der Schwarzflügler, aufgeschreckt von dem Plumps, vollführte ein paar blitzschnelle Sprünge auf dem Wasser, stieg kreischend auf, schlug wild mit den Schwingen, machte ein paar rasend schnelle, gleichsam flackernde Sprünge und war weg. Erstaunt, mit einem halben Lächeln, sagte Ashka: „Wenn ich es nicht selbst gesehen hätte – ich würde es nicht glauben.“

„Teleportation“, stellte Elspeth sachlich fest. „Das können alle Tiere auf diesem Planeten.“

„Ja … ja … Ich erinnere mich, wie dieses Fisch-Zeug oszillierte. Ich dachte, das Licht hätte mich getäuscht.“

Elspeth schüttelte den Kopf. „Keine Täuschung. Es ist ein wunderbarer Fluchtmechanismus. Sie können auch mitten im Sprung die Richtung ändern. Ich habe noch keine Raubtierart gesehen, die dagegen etwas Brauchbares entwickelt hätte.“

„Teleportation“, wiederholte Ashka nachdenklich. „Ich habe einmal einen Mann teleportieren sehen … aber das war nicht so wie bei diesem Schwarzflügler.“ Elspeth sagte nichts darauf. Sie wußte nicht, worauf der alte Mann hinaus wollte. Dann bückte sie sich, nahm einen zweiten Stein auf und schleuderte ihn weit über das Wasser. „Das haben Sie gesehen? Einen Mann teleportieren?“

„Ich habe viele Dinge gesehen und viele Dinge vergessen“, antwortete Ashka geheimnisvoll. „Alle Rationalisten sehen immer mal wieder Bizarres und Neues – es gehört zu unserem Beruf, Augenzeugen bei dem und jenem zu sein – auch beim Teleport. Es liegt weit hinten in meiner Vergangenheit. Und das ist eine Gegend“, schloß er lächelnd, „wo Tatsachen und Ereignisse die irritierende Gewohnheit haben, sich zu verlieren.“

Bei diesem Gedanken fühlte sich Elspeth unbehaglich. „Also – gehen wir weiter?“ sagte sie.

Ein paar Minuten später kamen sie an einen großen natürlichen Teich, durch den der Fluß in einer bogenförmigen Strömung hindurchfloß. Dabei entstanden auf der Oberfläche verzwickte und faszinierende Wellenmuster. Das Wasser war dunkel; es sei hier über fünfzig Fuß tief, erläuterte Elspeth. Steile Felsen erhoben sich zu beiden Seiten des Teiches, und diese Felsen waren mit Hunderten von Symbolen bedeckt, nicht von der geologischen Zeit, sondern von Menschenhand flach, aber dauerhaft eingekerbt, manche auch nur eingekratzt, manche durch Schläge mit einem spitzen Werkzeug eingemeißelt.

„Das sind sie?“ fragte Ashka, bückte sich und fuhr mit dem Finger einen der flach eingekratzten Kreise nach; dann richtete er sich wieder auf und balancierte vorsichtig auf dem abhängenden Fels. „Kreise, konzentrische Kreise, gebrochene Kreise, Kreise von Linien geschnitten …“ Er sah Elspeth fragend an.

„Wenn die Aerani auf Jagd gehen oder die Asche ihrer toten Kinder verstreuen, oder wenn sie denken, ein bestimmter Ort sei nicht geheuer, dann ritzen sie solche Symbole in die Steine … und auch andere. Die hier sind Wasser-Symbole … dieses hier bedeutet, Asche im Wasser’ … das da ist die Bitte an das Wasser, es möge die Anima eines Ertrunkenen zurückgeben … das hier bittet um die Erlaubnis, ein im Teich lebendes Tier zu fangen.“ Sie stand auf, ohne einen Blick von der Vielfalt der Symbole zu wenden. „Anderswo gibt es Luft-Symbole und Baum-Symbole und Erd-Symbole. Es gibt ein enormes Alphabet dieser Zeichen, und in den letzten hundert Stunden oder so habe ich zusammengestückelt, was sie bedeuten – das ist ungefähr die gesamte Zeit, die ich auf dieser Welt verbracht habe.“

„Die Beziehung zu Abstraktionen fällt mir schwer“, erwiderte Ashka und sah sich in dem dichten Wald um. „Das muß ich wohl von meinen Vorvätern geerbt haben. Mir ist es lieber, wenn ich das ganze Bild sehe und es dann mit den Augen des Geistes auf sein Wesentliches reduziere. Diese Symbole …“ – er starrte auf den Felsen hinab – „… es ist etwas Wesentliches an ihnen, gewiß, doch sie lösen kein sonderliches Gefühl von Bedeutsamkeit in meinem Kopf aus. Ich bin mehr für Landschaften.“

„Die schlafenden Drachen …“, warf Elspeth ein, und er lächelte.

„Sie mögen ja obskur sein“, sagte er dann und berührte wiederum einen der Kreise, „aber ich spüre da etwas unbestimmt Vertrautes.“

„Einfache Muster, einfache essentia, manifestieren sich kontinuierlich in verschiedenen Kulturen …“

„Ah ja“, stimmte Ashka zu und stand wieder auf. „Ich glaube, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Irgendwo anders haben Sie nicht nur ähnliche, sondern identische Symbole gesehen. Ist es das?“

„Genau“, sagte Elspeth rasch, hielt aber dann inne. Im Begriff zu erklären, was sie so aufregte, fiel ihr ein, wie fanatisch sie jemandem vorkommen müsse, der mit der Kunde primitiver Völker nicht vertraut oder daran nicht interessiert war.

Mit sorgsam gewählten Worten bemühte sie sich daher, Ashka ins Bild zu setzen, wobei sie versuchte, in seiner Haltung, seinen Reaktionen zu lesen, bereit, sofort aufzuhören, wenn sie auch nur im geringsten merkte, daß er die Sache lächerlich fand. Doch schon nach ein paar Minuten stellte sie im Gegenteil fest, daß er weit davon entfernt war, sie für eine Fanatikerin zu halten, sondern daß er fasziniert und intensiv zuhörte.

Es hatte angefangen, als sie mit der Randgebiets-Gesellschaft lebte, als Mitglied einer kleinen Kommune, mit der sie gute Beziehungen hatte, obwohl sie sich physisch ziemlich isoliert hielt und mit den anderen in der Hauptsache nur zusammenkam, um zu reden und Ideen auszutauschen. Die Leute hatten nicht recht gewußt, was sie mit ihrer Zeit und ihren Interessen anfangen sollten, und so waren sie in corpore zur Erde geflogen und arbeiteten freiwillig beim Archäologischen Restaurationsprogramm West-Europa mit. Nach dem Dreistunden-Krieg, der vor ein paar Jahrhunderten stattgefunden hatte, war vieles von dem, was historisch interessant war, noch unter Staub, Sand und Geröll begraben; und langsam wurden diese prähistorischen Monumente, die im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert so mühevoll freigelegt worden waren, erneut ausgegraben und restauriert.

Sie hatten erst in Frankreich gearbeitet, dann in Irland, und zwar an dem uralten Steinzeit-Krematorium im Stromgebiet des jetzt ausgetrockneten Flusses Boyne. Tausende von Freiwilligen arbeiteten längs des Boyne, die meisten an der Ausgrabung der Hügelgräber eines Volkes, das drei- oder viertausend Jahre vor Christus an diesen Hängen gelebt hatte. Es gab eine zerfallene Touristenstation aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert und diverse Hoch- und Tiefbauten aus der gleichen Zeit, darunter ein ausgezeichnetes Specimen einer Teer-Chaussee, die nunmehr in der Länge von vierhundert Yards freigelegt war.

Doch das großartigste war der Hügel von Newgrange, ein Tumulus, der Fluß und Straße überragte, ein echter weißbekappter brugh, der auf fünfzig Meilen im Umkreis sichtbar gewesen war. Man hatte ihn jetzt weitgehend restauriert. Voll erhalten war ein aus früher Urzeit stammender Ring behauener Steine sowie eine Einfassung aus riesigen Felsbrocken, die in die Konstruktion zu unbekannten, vermutlich rituellen Zwecken hineingebaut war. In jenen dunkelsten Zeitaltern, noch bevor die legendären Pyramiden Ägyptens entstanden waren, hatte man diese Symbole und Muster in jene Steine eingehauen.

Fasziniert von diesen Runen, die bis in die Gräbergänge selbst hineinreichten und unschwer unter der späteren Graffittischicht freizulegen waren, hatte Elspeth so viele dieser Zeichnungen gesammelt, wie sie nur konnte, hatte tagelang in Sonne und Regen gearbeitet, die Symbole abgezeichnet, über sie nachgedacht, besonders über jenes eine Symbol im Mittelgrab, das bei den sterblichen Überresten der dort Bestatteten Wache hielt …

Und dann waren sie wieder abgezogen, ihr Interesse war begraben unter den Notwendigkeiten des Lebens und dem Suchen nach einem neuen Randgebiet.

„Bis …“

„Bis uns eines Tages, als eine kleine Gruppe in einem Höhlenloch namens Sabbeth windtauchte, ein gewisser Austin gebracht wurde. Jemand wollte ihm etwas Gutes tun. Er war mit einem aus der Gruppe befreundet und litt an Geistes- und Gedächtnisschwund. Halb hysterisch mühte er sich ab, seinen Verstand noch ein paar Tage länger zu behalten.

Austin war auf einem gewissen Planeten gewesen – fragen Sie mich nicht, warum – und hatte gefunden, daß die dortigen Kolonisten bizarre physische Veränderungen durchgemacht hatten – verständlicherweise – und außerdem in die Steinzeit zurückgefallen waren, mit der Natur lebten. Es war eine Welt, die einem abenteuernden Besucher nicht ausgesprochen feindlich war; nur daß er nach ein paar Tagen anfing, gewisse Dinge zu vergessen. Er war gelandet, hatte Beobachtungen gemacht, das Gefühl genossen, auf einem fremden Planeten zu sein, und hatte dann festgestellt, daß sein Verstand mit jeder Stunde, die verging, einer Art Erosion unterlag. Als er das merkte, eilte er in seine Raumfähre und floh in die Arme seiner Freunde.“

„Diese Welt war der Aeran?“

„Ja. Der Aeran …“

Nach dem Verlassen des Planeten war der Abbauprozeß nicht zum Stillstand gekommen; und Elspeth war dabeigewesen, als Austin starb, und zwar von eigener Hand – ein Mann, der nicht mehr wußte, wer er war und woher er kam, eine leere Hülse, ein sprechender Körper, der seine Freunde nicht mehr erkennen konnte und nur kreischend nach Erinnerungsbrocken suchte, nach irgendeinem Ereignis gerade noch an der Grenze seines Gedächtnisses, aber gerade außerhalb seiner Reichweite.

Vor seinem Tode sah er Elspeths Symbol-Wörterbuch aus Newgrange. Er erkannte die Symbole wieder, doch da er sie nie auf der Erde gesehen hatte, mußte er sie anderswo gesehen haben. Auf dem Aeran? Vielleicht, hatte er gesagt, und seine blauen Augen hatten sie voller Tränen durch die Schatten, durch den lebenden Tod angestarrt. Vielleicht Aeran … vielleicht.

„Ich war höchst interessiert, wie Sie sich wohl vorstellen können. Ich wußte wirklich nicht, ob ich ihm glauben sollte oder nicht – er war ja halb verrückt, manchmal tobte er und konnte nicht immer zusammenhängend sprechen. Aber ich kam hierher und fand diese …“ – sie deutete auf den Felsen – „… und noch andere. Und eine Kultur, wie er sie beschrieben hatte.“

„Und die Symbole sind die gleichen? Wie die am Boyne-Fluß?“

„Fast identisch. Hier gibt es ein paar, die dort nicht waren – wenigstens soweit wir wissen –, und manche, die ich in Newgrange gefunden habe, kommen hier nicht vor; aber wie soll man eine Einmeißelung in einem Stück Eruptivgestein datieren? Das ist sehr schwierig, besonderes wenn der Stein schon seit Tausenden von Jahren tot ist. Eine Menge Symbole sind vielleicht Jahrhunderte später geschlagen worden, vielleicht aus religiöser Ehrfurcht oder einfach aus Vandalismus.“

„Aber wie konnte es dann dazu kommen? Wie hat eine Zivilisation, die seit siebentausend Jahren oder so tot ist, ihre Kunst in einer Entfernung von zweitausend Lichtjahren manifestieren können?“

„Wenn Sie denken, ich kann Ihnen das beantworten“, entgegnete sie mit verlegenem Lächeln, „dann müssen Sie ein klein bißchen raumverrückt sein.“

„Haben Sie gar keine Idee? Keine Idee davon, was in dem Flußtal in dieser ganzen Zeit geschehen sein könnte, oder hier in den letzten paar hundert Jahren?“

„Ich habe natürlich in dieser Richtung nachgedacht. Ehrlich, es macht mich halb verrückt, darüber nachzudenken. Haben Sie bei all Ihrer reichen Erfahrung jemals so etwas erlebt?“

Nachdenklich schüttelte Ashka den Kopf. „Nein, das kann ich nicht sagen. Hier liegt etwas sehr Sonderbares vor, etwas Einmaliges – dessen wenigstens bin ich sicher.“

„Intuition“, lächelte Elspeth. „Aber das ist kein Ersatz für harte Tatsachen.“

„Oh – jetzt fangen Sie auch noch davon an“, murmelte der Rationalist dunkel.

Eine ganze Weile saß Ashka da und starrte auf den dunklen Teich, in das Wirbel ziehende Wasser. Der Wind war leicht, aber kühl; als der Tag sank und der Abend dämmerte, wurde der dichte Wald um die Felsen- und Wasserlichtung laut. Meist kamen die Geräusche von den Pflanzen, aber hin und wieder schrillten die Schreie von Tieren, die im Unterholz herumstöberten, durch die Dämmerung.

Schließlich begann er: „Zwei Möglichkeiten kommen mir in den Sinn. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich über Möglichkeiten rede?“

„Nur heraus damit.“

„Ich nehme, nebenbei bemerkt, an, daß die Kolonisten die Symbole nicht mitgebracht haben können, sagen wir in einem Buch, oder in Fotografien …“

„Sicherlich wäre das eine Möglichkeit, obwohl die Gräber schon ein paar hundert Jahre lang verschüttet waren, als die erste Kolonistensiedlung errichtet wurde.“

„Dann ist es also erstens möglich, daß hier etwas mit den Kolonisten geschehen ist, das den Menschen in Irland auch passiert ist. Die Symbole mögen sich auf ein gewisses Ereignis beziehen.“

„Fremdplanetarische Kontakte? Meinen Sie das?“

„Könnte sein. Es gibt Hinweise auf noch unbekannte fortgeschrittene fremdplanetarische Lebensformen in der Galaxis. Möglich ist es. Die zweite Möglichkeit, die mir in den Sinn kommt: Die Symbole, die vor langer Zeit hier und in Irland aufgetaucht sind, können etwas grundsätzlich Menschliches sein, eine unterschwellige, künstlerische Ausdrucksform, welche in den meisten menschlichen Kulturen im Dunkel der Zeiten verschwunden ist; doch auch in diesem Fall muß ein bestimmtes Ereignis das Wiederauftauchen dieser Ur-Kultur ermöglicht oder veranlaßt haben.“

Elspeth dachte eine Weile über diese Hypothesen nach. Etwas von außen oder etwas von innen Kommendes. Ja, damit schien sich alles erklären zu lassen! Es war ja keine sehr brillante Hypothese, aber bestimmt war sie provokant. Eine extra-planetarische Präsenz in Irland, drei Jahrtausende vor Christus, die auf einer kolonialen Welt erneut auftauchte? Das konnte man sich allenfalls vorstellen, das war leichter zu verstehen als die Hypothese eines Kultur-Urphänomens, das in jedem menschlichen Individuum verborgen liegt und darauf wartet, sich zu manifestieren. Und doch, dieses letztere war das wahrscheinlichere, wenn man es auch nicht verstehen konnte.

Fremdplanetarier oder die menschliche Seele. Oder … noch etwas anderes? Und nach welchen speziellen Aspekten dieser Symbole mußte sie suchen, um Hinweise auf die richtige Lösung zu finden?

Kopfschüttelnd sah sie Ashka an. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht bleich und tiefernst.

„Die meisten dieser Symbole sind ja höchst einfach. Kreise, Quadrate, Wellenlinien …“

„Hmm?“ Er fuhr aus seinen Gedanken hoch und sah ihr in die Augen. Dann meinte er: „Warum sollten sie auch kompliziert sein?“

„Oh – manche sind aber kompliziert.“ Sie bückte sich und umfuhr einen der offenen Kreise. „Erd-Symbole können phantastisch kompliziert sein, manchmal komplexe Kombinationen anderer Zeichen, manchmal basieren sie auf der Doppelspirale.“

„Meinen Sie, sie werden hier im gleichen Sinne gebraucht wie in Irland?“

„Das möchte ich auch gern wissen. Ich neige dazu, es zu glauben … ich zeige Ihnen mal was anderes, nur ein paar Yards weiter.“

Sie erhob sich rasch und half Ashka beim Aufstehen. Sie verließen den Teich und gingen zu einem Monolithen, fünf Fuß hoch, ziemlich untersetzt. Er ragte schräg aus dem Boden und sah aus, als sei er von Hand dort hingestellt worden. Am auffälligsten jedoch waren die verzwickten Linien, die in zweien seiner vier Seitenflächen eingekerbt waren: parallele Wellenlinien und Spiralen, nach oben und nach unten verlaufend, dann um den Stein herum, und sämtlich unvermittelt auf Bodenhöhe endend.

Wie ein riesiger Fingerabdruck, dachte Elspeth zum hundertstens Male.

„Was sagt Ihnen das?“ fragte sie. „Was kommt Ihnen dabei unmittelbar in den Sinn?“

Ashka war entzückt von diesem Steinmuster. „Das ist der Strom der Erdenergie im Stein. Etwas anderes kann es gar nicht sein. Genauso fließt die Erdenergie durch einen Felsbrocken. Erstaunlich.“

„Die Ecksteine der irischen Gräber waren voll von dieser Ornamentik, und auf manchen war ganz deutlich ein Fokus zu erkennen.“

„Bei den Einzelspiralen denkt man an diese Areale, jawohl … ich hätte es merken müssen … und diese schwankenden Linien sind Abweichungen in den Strömen. Aber …“ Er sah sie an. „Mehrere Foci in einem Areal? Mehrere Fokalsteine unter den Grundsteinen von ein und demselben Grab? Sie müssen nach dem Einmeißeln dorthin gebracht worden sein oder nachdem das Ornament in die kristallinische Struktur eingeschlossen wurde.“

„Offenbar. Und doch sehen Sie die Hauptsache nicht: Woher hat ein primitives Volk eine so ausgeklügelte Wellenform? Erst Tausende von Jahren nach dem Untergang der irischen Kultur wurde die Erdenergie sichtbar gemacht.“

Beide starrten auf den Felsen. Ashka erwiderte: „Eine solche Frage liegt auf der Hand. Vielleicht lautet die Antwort, daß primitive Völker von Natur aus mit der Erdenergie vertraut waren, daß ihnen jedoch diese Vertrautheit im Laufe der Zeit abhanden kam; vielleicht sollte man lieber fragen, warum der zivilisierte Mensch gewisse alte Fähigkeiten der Wahrnehmung verloren hat?“

„Um sie mittels der Wissenschaften neu zu entdecken. Und dann hier, wo er wieder in eine Steinzeitkultur zurückgefallen ist. Ja. Das ist ebenfalls eine auf der Hand liegende Frage.“

„Ich bin Rationalist und kein Erneuerer“, erwiderte Ashka spitz. Sie gingen zum Fluß zurück. „Mit solch einem Bewußtsein müßte dieses Volk ein Orakel haben, ein spezifisches Konzept von Zeit und Voraussage.“

„Das hat es“, bestätigte Elspeth. „Sie waren in der Feuer-Halle mit ihrem Seher zusammen.“

„Ah!“ nickte Ashka, befriedigt, weil seine Vermutungen zutrafen. „Es würde mich sehr interessieren, das hiesige Orakel zu sehen. Ist es von irgendwie bekannter Art?“

„Ich habe es niemals gesehen“, gestand Elspeth, „obwohl ich mich so verhalten habe, wie es vorausgesagt hat. Ich habe das Gefühl, daß es ziemlich anders ist als das ching.“ Die Untertreibung des Jahres, dachte sie. Sollte sie ihm sagen, daß das Orakel absolute Voraussagen gegeben hatte? Nein, das würde die Überraschung verderben.

„Eine Spirale“, sagte sie, als sie sich längs des Flußufers durch den Wald arbeiteten, „würde wahrscheinlich ein Konzept der Seele symbolisieren – sie beginnt mit dem unendlich Kleinen und wächst ins unendlich Große.“

Einen Augenblick hielten sie an, um zu Atem zu kommen, und blickten aus dem Gebüsch über das fließende Wasser. Dann sagte Elspeth: „Aber ich bin noch nicht ganz sicher. Was mich so fesselt, ist die Unterschiedlichkeit der Spiralformen. Da gibt es doppelte Spiralen, die ganz etwas anderes bedeuten müssen, und dann gibt es Spiralengruppen in augenförmigen Mustern, wissen Sie – zwei Augen gewissermaßen. Also, was bedeutet das? Und am häufigsten …“ Sollte sie es ihm sagen?

„Und am häufigsten?“ stieß er nach.

Es wurde jetzt sehr rasch dunkel. „Am häufigsten? Drei verschlungene Doppelspiralen im Dreieck.“

Peter Ashka blieb stehen; Elspeth wandte sich um und sah ihn an. Im Zwielicht des Aeran war der ganze Planet voller Geräusche; der Wind im Walde übertönte alles.

„Dieses Symbol habe ich in der Feuer-Halle gesehen“, sagte der Rationalist; „ein sehr faszinierendes Ornament.“

„Sie nennen es den Erdwind, und es bezeichnet etwas sehr Signifikantes, von den einfachen Kreisen und Spiralen Verschiedenes. Aber was, das weiß ich nicht. Die Eingeborenen scheinen … nicht direkt Angst davor zu haben, aber sie sträuben sich, darüber zu sprechen.“

„Ein Gott-Symbol.“

„Nein. Etwas sogar noch Größeres.“

„Ist das intuitives Gerede, oder haben Sie Beweise?“

Elspeth lächelte in den grauen Abend. „Intuition. Aber ich muß herausfinden, was der Erdwind ist.“

„Die dreifache Spirale, die eine besondere Art von Dreieinigkeit bedeutet, hat mich an ein Zeichen erinnert, das in zahlreichen taoistischen Kunstwerken auftaucht – eine Spirale bedeutet ching, oder die ‚Wandlung’, die einen ästhetischen Impuls gibt, die Motivationskraft aller inneren künstlerischen Konzeption und Inspiration. Die zweite bezieht sich auf shen, den leuchtenden inneren Geist, der die Gedanken und Gefühle des Individuums und seinen Sinn für persönliche Identität umfaßt. Die dritte Spirale bedeutete das ch’i, die bewegende Vitalität, die Kraft, durch die sich alle großen Erneuerer in das tao einstimmen. Das ch’i ist in uns allen, es ist die Ur-Seele, die christliche Seele, das Bindeglied zu Gott.

Spüren Sie einen solchen Sinn im Erdwind? Die Spirale ist offenbar ein Zeichen des inneren Geistes in seiner Beziehung zur äußeren Größe – kann es darüber irgendeinen Zweifel geben?“

„Ich stecke voller ähnlicher Ideen, lieber Ashka. Und ich weiß es einfach nicht. Ich weiß es nicht.“

„Und dieses bizarre Spiralenmuster … gab es das in Irland auch?“

„Nur einmal. Im Hauptgrab, Newgrange, an der Rückseite des Grabes selbst; es war in die rechte Hinterwand einer kleinen Kammer in der Mitte eingemeißelt, und das Magische daran war, daß einmal, aber nur einmal im Jahr die Sonne den ganzen Gang entlangschien, in diese Apsis hinein. Nur einmal, und zur Zeit der Erbauung war dieses Datum der kürzeste Tag des Jahres.“

„Ein magischer Tag?“

„Die Winter-Tagundnachtgleiche. Ein Tag von großer mystischer Signifikanz.“

„Das ist ja hochinteressant“, sagte Ashka ehrlich. „Das werde ich durch die Mühle meines Gedächtnisses laufen lassen, wenn Sie wollen.“

„Ja, bitte.“

„Ich werde mich auch darum kümmern, daß Sie Ihr Steuergerät zurückbekommen …“

Elspeth lachte bitter. „Das spielt jetzt wirklich keine Rolle mehr. Ich habe wahrscheinlich keine Zeit, an Bord meines Schiffes zu gehen. Ich muß Ihren Schiffs-Meister davon überzeugen, daß er von dieser Welt herunter muß.“

„Ich habe selbst wenig Lust hierzubleiben“, entgegnete der Rationalist. „Wenn Ihr Austin wirklich vom Aeran angesteckt worden ist, dann müssen wir hier weg, je eher, je besser. Wir haben jetzt keine Zeit zu verlieren.“

Sie schritten durch den Wald.

In deinem eigenen Interesse, Peter Ashka, hoffentlich ist es nicht zu spät …