7

 

Sie schliefen ein paar Stunden; alle beide waren sie erschöpfter, als sie gedacht hatten. Dann ging Iondai von seiner Wohnstätte durch den niedrigen Tunnel voraus zum Orakel, seiner Arbeitsstätte. Manchmal mußten sie kriechen; Ashka konnte überhaupt nie ganz aufrecht stehen, und nach ein paar Minuten fand er das ungeheuer anstrengend. Iondai hatte keine Fackel mitgenommen (warum, wollte er nicht sagen); Ashka tastete sich hinter dem Seher durch die pechschwarze Finsternis, und wenn dieser ihn nicht ab und zu gewarnt hätte, wäre er bestimmt ein paarmal gefallen oder hätte sich den Schädel blutig gestoßen. Mit jedem Schritt wurde es kälter und feuchter. Ashka mußte häufig husten, denn die dicke Luft reizte seine Lungen. Seine Hände wurden eisigkalt, da er ständig an der scharfkantigen Steinwand entlangtappen mußte. Seine Leinwandtasche, die er an einer Schnur um den Hals trug, machte ihn ganz nervös, weil sie ihm immer gegen die Beine schlug, und das auf dem Wege zu einem Orakel, von dem er nicht die geringste Vorstellung hatte.

Nach einer Weile, als sie schon viel tiefer in der Erde waren, als ihm lieb war, vernahm Ashka das unverkennbare Brausen des Windes. Unangenehm kalt wehte die Luft des Ganges an seinem Gesicht vorbei und ließ die Feuchtigkeit auf seiner Haut verdunsten, so daß er fror. Er schauerte, blieb kurz stehen und horchte.

Iondai ging weiter durch das Dunkel. Er atmete nicht so mühsam wie Ashka. Seine deutlich hörbaren, schlurfenden Schritte ließen Ashka an das Schleichen einer in absoluter Finsternis lebenden Höhlenkreatur denken. Und über allen menschlichen Lauten das Dröhnen, das tiefe Jaulen eines bösen Windes, irgendwo über ihm.

Iondai forderte ihn zum Weitergehen auf (warum waren alle auf dieser Welt so scharf darauf, irgendwohin zu gehen?); Ashka stolperte ein paar Schritte voran. Er stieß mit dem Kopf gegen die Decke, fluchte und ging in die Knie. Wasser war auf dem Boden, Rinnsale eisiger Flüssigkeit, die er an seine jetzt brennend heiße Stirn spritzte, um die schmerzende Stelle zu kühlen. Beim Hochblicken sah er Licht am Ende des Tunnels, weißes Licht … Tageslicht. Der Wind war nur noch ein monotones Summen, weit weg, aber ziemlich laut.

Bisher hatte er die Frage verdrängt, doch jetzt fragte er sich wieder, was dieses Aeran-Orakel eigentlich war. Eine schattenhafte, erregende Vermutung stieg in ihm auf.

Als sie sich dem Ende des Tunnels näherten, senkte sich die Decke wieder, so daß sie sehr tief gebückt gehen mußten. Der starke Wind, der vorn wehte, war hier noch stärker. Er sauste durch das Tor in diesen Gang hinein, sang durch die Felsen und heulte in dem großen Raum, der dort lag. Er glich dem Dröhnen einer Maschine, ein Geräusch, das Ashka aus seiner Eremitenzeit auf rückständigeren industriellen Welten wohlvertraut war. Er wirbelte heftig bis in den Gang hinein; mit kraftvollen Luftfingern riß er an Ashkas Robe und Nackenhaaren. Mehrmals verklebten sich seine Augen; er verzerrte blinzelnd das Gesicht vor dem Donner des gewaltigen Windkatarakts, als er schließlich hinaustrat und nach oben sah, wo der wolkenbedeckte, morgendlich dämmernde Himmel das einzige Dach war. Er stützte sich an den Wänden des Ganges, um nicht von dem unglaublich starken Anhauch fortgerissen zu werden, und sah zu der Stelle hin, auf die Iondai deutete: An einem Ende der mächtigen, dachlosen Höhle klaffte die weite Mündung eines anderen Ganges wie ein gähnendes Maul, breiter als hoch, ausgezackt an den Kanten, wo Wind und fliegende Felssplitter die Glätte des alten Wasserlaufs aufgerauht hatten.

Das Geräusch war ohrenbetäubend, der tiefe Schrei des Windes ergoß sich in diesen Tunnel und ertränkte jeden Laut außer dem seiner Gedanken. Iondai wandte sich lächelnd zu ihm um, die Augen im kalten Wind zusammengekniffen.

„Das ist es?“ schrie Ashka und deutete hin. Iondai nickte eifrig. „Sonst nicht so stark“, schrie er zurück. „Dauert nicht lange … flaut ab … wollen warten.“ Er winkte zu dem engen Gang hin; Ashka wandte sich um, bückte sich und trat wieder in den verhältnismäßig ruhigen Gang zurück. Dieser großartige Naturlaut klang ihm noch in den Ohren. Er zitterte am ganzen Körper vor der schneidenden Kälte. Er hockte sich in dem niedrigen Tunnel hin und starrte ins Tageslicht.

Nach einer Weile bekam die Neugier nach der Herkunft des Windes die Oberhand, und er kroch zum Ausgang dieses Tunnels zurück. Iondai faßte ihn an der Schulter und rief: „Warte!“ oder so etwas ähnliches. Ashka hielt inne, sah ihn an und wandte sich dann wieder dem Tageslicht zu. In diesem Augenblick flaute der Wind ab und erstarb rasch zu einem traurigen Singen, keineswegs mehr donnernd – als hätte die Erde das Ende eines langen, schmerzvollen Ausatmens erreicht, als sei der Gezeitenhub erschöpft; ein Laut sehr ähnlich dem letzten Atemzuge eines Mannes, der friedlich in das tao eingeht, so wie Ashka bald hinübergehen würde – Atem und Leben, die sich zu einem kurzen und sofort erkennbaren Todeslied vereinigten.

Sie traten in die oben offene Höhle hinaus, und Ashka war sofort besessen von dieser Ekstase der Geistseele, die uns überkommt, wenn sich ein Traum, den wir für unrealisierbar hielten, unerwartet erfüllt.

Er stand in einem polarisierten Windstrom, der um seinen Körper spielte, durch seine Robe, durch Haut und Muskeln, Fleisch und Bein fuhr, durch Kapillaren und Poren in seinem Leib, die kein medizinisches Lehrbuch im Krankenrevier seines Schiffes verzeichnete.

Er starrte in den Mutterschoß der Erde.

„Das Orakel! Dies ist das Orakel, die Stimme der Zukunft – ich erkenne es, ohne daß du es mir zu sagen brauchst. Überall würde ich es erkennen!“

„Lied der Erde“, sagte Iondai. „Getragen vom Wind, der aus der Erdhöhle bläst, aus der der Erdwind erstmals zu uns kam. Faß ins Wasser.“ Er bückte sich zu dem kristallklaren Bächlein, das zu ihren Füßen floß. Ashka bückte sich und ließ seine Finger die wirbelnde Wasserfläche berühren, den kleinen Bach, in dem der kraftvolle Wind muntere kleine Wellen aufrührte. Er machte es wie Iondai, benetzte Augen, Ohren und Lippen mit diesem Wasser, und dabei starrte er in den grundlos tiefen Rachen der Orakelhöhle.

Namen erfüllten seinen Kopf, aus der Vergangenheit auftauchende Namen: Lourdes, Wunschbrunnen, das Orakel von Delphi … die Höhlen und Löcher, aus denen die uralten Prophezeiungen vergessener Kulturen aufgestiegen waren, die Spalten und Risse im körnigen Fleisch der Mutter Erde, deren Angst- und Schmerzensschreie sich zu einer klaren und erschreckenden Vision der Zukunft geläutert hatten – Tod, Sieg und Niederlage im Kriege, Gewinnen und Verlieren von Frauen, Söhnen, Töchtern. Hatten auch sie, diese dunklen Orakel und magischen Orte, den Atem der Welt ausgehaucht? Hatten sie laut mit eigenem Mund gesprochen oder durch den Geist derer, die fragten? Hatten sie wirklich funktioniert – oder waren sie nur phantasievolle Erfindungen von Menschen, die vor dem Kommenden so viel Angst hatten, daß sie sich danach sehnten, ihr Schicksal im voraus zu wissen? Und hatten diese Menschen ihr Schicksal, wenn sie es erfahren hatten, auch auf sich genommen?

Ashka hatte noch nie ein Erdorakel gesehen; er kannte dergleichen nur aus Büchern und hatte sie immer für ein Stück jener glanzvollen Phantasien von Göttern, Hsien, Drachen, Mittelerde und allen jenen mythischen Wesen gehalten, deren üble Launen das Rumpeln und Feuer- oder Wasserspucken aus der verborgenen Welt unter der Haut des Landes verursachten. Während er auf den Mund des Aeran starrte, fühlte er in seinem Innern den Anhauch der Aeran-Kälte, ein sich Regen des Bewußtseins, das er noch nie gefühlt hatte; ein ungesehenes, ungewußtes Wissen sammelte sich in ihm wie in einem Brennpunkt, reichte bis in den Kern seiner Seele, und er begann sich zu fragen, ob ‚Phantasie’ nicht bloß ein grobes, durch nichts gerechtfertigtes Etikett sei.

Er hatte sein Leben in Einheit mit dem tao gelebt, hatte nach oben geblickt, hinaus in das gigantische Universum; jetzt begriff er, wieviel er versäumt hatte, weil er nicht nach innen, nach unten geblickt hatte, zur Erde, auf den freundlichen, weiblichen Schutz von Stein und Blut, Erde und Gebein …

So nahe, so bewußt der Welt unter ihm – und doch so oberflächlich! Wie schnell der vergängliche Erdboden vergessen war in dem Streben, die Leere auszumessen!

„Es ist gefährlich, hier zu stehen und nicht zu fragen“, sagte Iondai, und seine Stimme war wie ein Traum aus irgendeiner Unwirklichkeit, der erst Bedeutung gewann, als die Worte klangen, widerhallten und schließlich Ashkas Ohr erreichten.

„Gefährlich?“

„Die Frage!“ sagte Iondai. „Du wirst das Orakel auch befragen müssen.“

Ashka tauchte aus seiner Verzauberung auf und sah sich um. Er sah, was diese Kraft tatsächlich war, und zum erstenmal nahm er auch deren unmittelbare Umgebung sowohl mit dem Verstand als auch mit den Sinnesorganen auf.

Eine weite Höhle, deren hohe Decke längst eingestürzt war und jetzt in Stücken lag, ein Skelett aus glatten Steinplatten und scharfgezackten Streben. Das Wasser aus dem Gang floß zwischen den Steinen dahin, schliff die unteren Kanten ab, rann durch das Labyrinth der zahlreichen Bruchstücke, rann darüber und darunter, verband den toten Stein mit dem lebendigen Blut und Atem des Orakels. Auf vielen der glatten Steine waren Symbole grob und primitiv eingehauen, rauh, ohne Nachpolieren – schlängelnde, verwobene Linien, Spiralen, die in ihrer unfachmännischen Ausführung so häßlich waren, wie die drei Doppelspiralen des Erdwind-Symbols in der Feuer-Halle in ihrer Konzentration und Selbstbewußtheit schön waren.

Da Intuition Ashkas größte Begabung war, brauchte er über die Grobschlächtigkeit der Symbole nicht einmal nachzudenken: Sie waren in der Frühzeit der neuen Gesellschaft entstanden, die sich auf dem Aeran gebildet hatte. Die Künstler der ersten und vielleicht auch der zweiten Generation hatten sich eifrigst bemüht, ihre Kunst Steinen einzuimpfen, die nicht mehr vom lebendigen tao durchströmt waren. Die toten Felsbrocken hatten etwas Melancholisches; sie waren Steine, die nicht mehr in den Boden bissen, nicht mehr diesen bizarren, schwingenden Widerhall der Energie in sich trugen, die über ihre Außenflächen strömte. Es war vielleicht als Auferstehung eines schreckenserfüllten Respekts für diesen Teil der Welt gedacht, wo die Steine so anders waren, wo das magische Gefühl der Einheit und des Strömens nicht mehr vorhanden war.

Die steilen Wände der Höhle lebten noch, doch war zweifellos die Angst der Grund gewesen, daß sie unberührt geblieben waren, denn keine Spur menschlicher Arbeit war an ihnen zu entdecken. Hoch oben blickte das runde Loch zum grauen Himmel auf. Schlaffer Pflanzenwuchs überhing seinen Rand, stach hinauf (oder hinab?) in die Wolken, zu dem Dach, auf dem Ashka stand und mit allen seinen Sinnen diese seltsame Umgekehrtheit des Ganzen in sich aufnahm.

Hinter ihm, dem Mund des Orakels zugewandt, befand sich ein enger Tunnel, durch den zweifellos ständig der Wind fuhr, doch mußte der aufwärts gerichtete Luftstrom stark genug sein, um einen Menschen aus der Kluft und hoch in den Himmel zu tragen.

Es kam Ashka vor, als frische der kalte, starke Wind noch weiter auf. Wenn das mit der gleichen Plötzlichkeit der Fall war, mit der er abgeflaut hatte, dann war es sehr unklug, sich hier aufzuhalten. Er konnte sich nicht vorstellen, was hier, so hoch in den Bergen, für ein geophysikalischer Prozeß ablief, der dieses Phänomen hervorbrachte, doch er war durchaus geneigt, einen rationalen Grund dafür anzunehmen. Er akzeptierte auch leichthin die ‚Magie’ der Natur, die Unwahrscheinlichkeit des Atoms und die chemischen Reaktionen der Landschaft, in die er kam. Es kam ihm nie in den Sinn, an blutrotem Regen zu zweifeln oder an den Steinsplittern, die ihm vor die Füße flogen, als hätten sie sein Kommen geahnt – es waren so viele elektromagnetische und chemische Kräfte am Werk, daß ihn gar nichts mehr überraschte. Ihn interessierten lediglich die Wechselwirkungen und der Strom des Lebens – mochten sie auf Schwerkraft, Elektromagnetismus oder irrationalen Ursachen beruhen –, die das große tao bildeten: die kosmischen Kräfte des gesamten Universums. Lebendig und eisig wehte der Wind. Ashka blickte in den schwarzen Mund der tiefen Höhle, ließ sich vom Klang seiner dröhnenden Stimme erregen, der sogar seine Gedanken ertränkte – wie in einer der Meereshöhlen, wo das sanfte Rauschen des Ozeans hohl und schwingend wird, wenn es an die Wände eines Felsenloches trifft, den Stein küßt und ihn gleichzeitig erodiert, sich dröhnend in die Risse und Spalten drängt.

Seine Gedanken weilten für einen Augenblick beim Tode – wie traurig, daß dieses Leben fast vorbei war, wo es doch noch so viel zu lernen gab.

Ich bin ein verhallendes Echo im Universum …

Körperlich reagierte er so, daß er sich überrascht hochreckte. Es war ihm anzusehen, wie verwirrt er war; er ließ das Orakel nicht aus den Augen. Das Brausen des Windes, der ihn anwehte, beanspruchte seine volle geistige und körperliche Konzentration. Er hätte gegen die Bezauberung ankämpfen können, doch vielleicht wäre es ihm nicht gelungen; so bewahrte er lieber seine Ruhe und ließ die fremdartigen Gedanken in sich aufsteigen.

Ich bin ein verhallendes Echo im Universum.

(Schwärze – sein Geist schien abzurutschen, ein merkwürdiges Gefühl, als löse er sich sekundenlang von seiner Hirnrinde … Formen und Gesichter wirbelten aus dem finsteren Abgrund herauf … Symbole und Klänge … irgend etwas drehte sich dazwischen, blitzte für den Bruchteil einer Sekunde vor seinem geistigen Auge auf, gerade so lange, daß er jene drei Doppelspiralen erkennen konnte … dann waren sie wieder weg … irgend etwas spukte in seinem Kopf …)

Ich bin ein Kind der Zeit, aber es ist keine Zeit mehr da.

Der Spielplatz liegt hinter mir. Die Schaukeln sind noch da. Ich laufe weg vom Spielplatz. Ich kann nicht mehr umkehren und wieder zurücklaufen. Vor mir ist Finsternis.

Ich bin der letzte schwache Ton einer Flöte. Ich bin das letzte Flackern einer Kerze. Ich bin ein Toter, der nicht zu seinem Begräbnis will. Ich bin die Träne des Zornes, die auf einem zornigen Antlitz trocknet.

Nur noch Sekunden.

Nur Sekunden …

Sekunden …

Wind. Kälte. Schauern. Es schmerzt im Schädel, wenn die Zähne klappern. Iondai sagt: „Ashka …?“ Eine starke Hand packte seinen Arm und zerrte. Er sah sich um. Der Aerani, selbst vor Kälte zitternd, zog ihn in den Schutz des kleinen Ganges. Stumm ließ Ashka es geschehen, ließ die Kälte hinter sich und duckte sich neben Iondai in den Gang, starrte auf die leblosen Felsen mit Augen, die nur Finsternis sahen.

Nur noch Sekunden … vor mir das Dunkel.

„Ich hatte eine Vorahnung, ein Gefühl, als ob ich gleich sterben müßte. Seltsame Gedanken – und nicht meine Gedanken.“

„Du hättest die Frage stellen sollen, als ich es dir sagte“, entgegnete Iondai gelassen. „So macht es das Orakel nämlich – es spricht direkt zu dir.“ Stumm blickte er Ashka an; sein lebhaftes Gesicht mit der schütteren Behaarung verriet deutlich seine Unsicherheit. Endlich fuhr er fort: „Ich dachte, du hättest keine Angst vor dem Tode. Ich dachte, dein Übertritt sei dir bereits angekündigt.“

„Das stimmt.“

Nur noch Sekunden. Waren sieben Monate für die treibende Kraft des Aeran-Orakels nur ebenso viele Sekunden? Sekunden. Er war verstört, verwirrt, irritiert. Etwas hatte in seinen Geist geblickt und hatte vielleicht seine wachsende Todesahnung gespürt, hatte sie als unausgesprochene Frage aufgefaßt – wann werde ich sterben? Und es hatte geantwortet. Und sieben Monate waren auch nicht viel, ganz gleich, ob er sich etwas anderes einzureden versuchte. Das Leben war eine Ansammlung von Momenten, aufgereiht am Faden der Zeit. Hier ein glückliches Geschehen, dort ein trauriges; hier Abenteuer – und Lernen; immer ein paar Augenblicke des Lernens, des Einsammelns. Er hatte für die vielen Augenblicke gelebt; und jetzt waren nur noch Augenblicke übrig.

Das Lied der Erde war nur das Echo dessen, was ihm das ching gesagt hatte. Seine Ausdrucksweise war eben anders, direkter. Weiter nichts.

Ashka entspannte sich also und beschäftigte sich kurz damit, den lockeren Gürtel seiner Robe fester zu binden. Der Saum des Stoffes war zerrissen und feucht, ein unangenehmes Gefühl auf der Haut. Plötzlich fiel ihm wieder ein, warum er eigentlich hier war. „Was hat es gesagt? Über die Mission, meine ich.“

Iondai blickte ihn an. „Es hat gesagt, wir sollten es tun. Es hat das gleiche gesagt wie dein ching. Ich habe jetzt großes Vertrauen zu deinem Buch. Ich hätte nie gedacht, daß Prophetenkraft anderswo wohnen könnte als in unserem Orakel. Wir beide zusammen haben etwas begriffen, was wir meinem Volke mitteilen müssen.“

„Ja“, antwortete Ashka, ohne recht zu wissen, was er sagte. „Sie müssen natürlich auf die Orakel hören. Der Weg, den sie weisen, ist der beste. Es wäre ein schwerer Fehler, von dieser Richtung abzuweichen.“

Iondai lachte; Ashka konnte nicht ergründen, warum. „Meine vollständige Frage betraf nicht nur die Durchführung der Mission, sondern auch, was dabei herauskommen wird, wenn wir ihnen tatsächlich sagen, was die Orakel prophezeit haben.“

„Und?“

„Die Oberen werden zwischen uns stehen.“

„Hat es gesagt, daß es eine friedliche Lösung gibt?“

„Kein Hinweis.“

„Dann frage es.“

Iondai schüttelte den Kopf. „Das wage ich nicht. Zuviel fragen ist respektlos.“

„Unsinn!“ rief Ashka aus. „Ein Orakel ist dein Diener, nicht dein Herr.“

„Das kann ich nicht gelten lassen“, erwiderte Iondai bedrückt. „Wir alle sind Diener der Erde unter unseren Füßen. Sie schützt uns, gibt uns Wohnung, wärmt uns, nährt uns … und sie gestattet uns, das Schicksal zu erkennen. Ihr gegenüber sind wir demütig.“

Ashka konnte dagegen nichts einwenden. So mußten alle Erd-Kulturen fühlen. Es war nur vernünftig, und er war nicht hier, um ihre Lebensphilosophie zu ändern. Und das ching war, wenn auch nicht sein Herr, so doch eigentlich auch nicht sein Diener. Es war sein gleichberechtigter Partner, und zwar der temperamentvollere von ihnen beiden. Ashka hatte Respekt vor diesem Temperament, und Iondai hatte Respekt vor der machtvollen Erde. In seiner Primitivität sah er sie vielleicht als einen Gott, als ein übergroßes Wesen, an dessen Busen die Aerani sich kuschelten. Das war rational.

,Die Oberen werden zwischen ihnen stehen.’ Was konnte das bedeuten?

„Ich glaube, es meint eine der drei ältesten Familien. Deren Männer sind wild und angriffslustig von Natur; sie glauben nicht recht an das Orakel und verhöhnen es. Sie sind vielleicht …“ – er lächelte dünn – „… ein wenig wie du und meinen, das Orakel sei etwas für die niederen Klassen. Leicht möglich, daß es Schwierigkeiten gibt, wenn sie den Spruch des Orakels ablehnen. Schon bei der Versammlung in der Feuer-Halle waren sie dagegen.“

„Ja“, bestätigte Ashka und blickte auf den Mund des Orakels. Er glaubte, am Rand des Loches eine Bewegung zu hören, und blickte hinauf, doch er sah nur schwankende Pflanzen und wirbelnde Wolken. „Ja, ich erinnere mich an die Männer, von denen du sprichst.“

Er dachte jedoch an etwas anderes; an eine Konsultation mit Schiffs-Meister Karl Gorstein; an eine Voraussage, die er erst vor ein paar Stunden gemacht hatte und die sowohl den Schiffs-Meister als auch den Rationalisten erschreckt hatte, obwohl Ashka sich nichts hatte anmerken lassen.

Er verbirgt seine Schande, hatte das ching gesagt, und Gorstein hatte gesagt: persönliche Katastrophe, die von einem Fehlschlagen dieser Mission herrührt. Und Gorstein ging niemals gegen schlechte Trends an, leitete niemals den Strom der Wandlungen und der Zeit um, damit er ihn näher an die sichere Küste trüge, weg von den todesträchtigen, tieferen Gewässern. Seine Untätigkeit oder sein gedankenloses Handeln beim Versuch, persönliches Unheil zu vermeiden, könnte durchaus zum Fehlschlagen der Mission führen.

Die Oberen.

Ja, Gorstein war ein Oberer – die Autorität an Bord –, er führte das Schiff, bestimmte das Leben derer an Bord, und er bestimmte über Ashka, so wie Ashka über seine korrelativen Programme bestimmte. Ashka stand zu diesem Manne in einem totalen Dienstverhältnis, wie das auch bei der gesamten Besatzung der Gilbert Ryle der Fall war. Und doch war das irgendwie richtig; es verbitterte den Asiaten keineswegs, er hatte überhaupt nicht das Gefühl, daß dabei etwas nicht stimmte.

Alle Menschen waren Schachfiguren, Partikel, auftauchend, hin und her geschoben auf der Oberfläche des tao. Äußere Ordnung kam aus innerer Ordnung, und Gorstein war ein Mann, der Ordnung schuf. Mit der Art, wie er das Schiff führte, wie er sich der Autorität bediente, Aufsicht über Leib und Seele der Menschen seiner Umgebung führte, schuf er Ordnung und Ruhe. Gorstein war kein Symbol der Autorität – er war die konkrete, personifizierte Autorität, und für Ashka war er die Verkörperung der Größe, war er alles, was Ashka an Führung auf dem irdischen Plan brauchte – Gorstein und das ching, das vollkommene Duett der gleichgewichtigen Kräfte.

Die Oberen werden zwischen uns stehen. Schiffs-Meister Gorstein! Das mußte es sein.

Jemand rief Iondais Namen; die beiden Seher traten in den Windstrom hinaus und starrten auf die einsame Gestalt eines nackten Mädchens, das reglos auf dem Grat stand und zu ihnen heruntersah.

„Das ist Moir, von der Familie, die ich erwähnte. Die netteste von ihnen. In ein paar Jahren wird sie eine große Jägerin und eine große Kriegerin sein.“

Ashka sah das Mädchen an und fragte sich, ob Iondai das aus einer Prophezeiung hatte oder ob er es nur aus Wohlgefallen an ihrer kraftvollen Körperlichkeit sagte: Sie war muskulös, fast maskulin – aber maskulin nur nach dem in Ashkas Kultur geltenden Kanon.

„Laß uns allein“, sagte Iondai, und Ashka, wenn auch enttäuscht, gehorchte. Er trat gebückt in den Gang hinein und tastete sich zurück in Iondais Wohnkammer.

Ein paar Minuten später kam Iondai selbst, traurig und erregt. „Es hat ein Duell gegeben, einen Ehrenhandel“, sagte er hastig. „Wir müssen zum Feuer.“

Ohne weiter zu fragen, doch neugierig, worum es bei diesem Duell gegangen sein mochte, folgte Ashka dem Seher den dritten Gang hinauf zu dem niedrigen Altar am Rande der Feuer-Halle.

Als sie in das trübe Licht hinaustraten, war das erste, was Ashka sah, eine große Blutlache auf dem Boden. Erregung lag in der Luft.

Was war dort geschehen? Wer war gefallen – und warum? Er suchte in dem düsteren Feuerschein nach irgend etwas, das ihm Antwort auf seine unausgesprochene Frage geben konnte.

Dann hörte er eine bekannte Stimme, einen zornigen Ausruf, unmißverständlich genauso einen, wie er ihn gestern am Fluß gehört hatte, als dieser junge Steinzeitler Elspeth Mueller verprügelt hatte.

Er ging hinter Iondai her zu der Gruppe der Jünglinge. „So etwas würde kein gutes Orakel verlangen!“ sagte die Stimme erregt.

Hatten sie es bereits erfahren?

„Es hat es aber verlangt“, sagte Iondai gelassen, und die Menge wich zurück.

Erschrocken fuhr Ashka zusammen, als er Elspeth Mueller dort sitzen sah, angstvoll und verstört. „Und das ching verlangt es auch“, sagte er zu ihr, „ich habe es befragt.“

Ihre Augen blieben ausdruckslos. Irgendwo wimmerte eine Frau. Ashka wandte sich um; er wollte wissen, was da vorging, doch er konnte nichts sehen.

Als er sich wieder umwandte, war Elspeth weg; er sah eben noch ihre geschmeidige Gestalt durch den Eingang des äußeren Erdwalls verschwinden.

Er wußte, wohin sie ging.