11
Als der Nebel aufstieg, klomm Elspeth aus dem Tal hinauf und sah dem Floß nach, das über dem Unterholz auf den fernen Wald zuschwebte. Sie hatte Ashkas Angebot, sie zum crog zurückzubringen, abgelehnt. Sie hörte Stimmen hinter sich, drehte sich um und sah Darren und Moir, die einen toten Schwarzflügler schleppten. Eilends kam sie ihnen zu Hilfe, auch in der Hoffnung, daß die Geschwister sich wieder vertragen hätten; doch was sie miteinander sprachen, bezog sich nur auf ihre gegenwärtige Tätigkeit.
„Fein gemacht“, sagte sie und faßte mit an. Darren gab keine Antwort.
Gegen Abend, als Elspeth im crog saß, und zwar direkt am inneren Wall, weit weg von der größten Gruppe der Aerani, sah sie ein unblutiges Duell um das Recht, das Fluß-Lied zu singen. Moir war draußen, und Elspeth hatte ihr vor etwa einer Stunde ein paar Bissen zum Essen hinausgeschmuggelt. Das Mädchen war unglücklich, doch es ging ihr nicht allzu, schlecht. Darren hatte ihr eine Decke aus Schwarzflügler-Leder und ein kleines Knochenmesser gegeben. Der junge Mann saß mißmutig nahe der Hauptgruppe am Feuer, doch war sein Gesicht vorwiegend im Dunkeln. Die Fackeln rings an den Erdwällen wurden soeben angezündet.
Das Duell war entschieden, die Gegner wurden getrennt, und der Verlierer hockte sich finster am Außenrand des Feuers hin. Der Sieger kroch den inneren Wall empor, hockte sich oben auf den Rand und sang das unheimliche Fluß-Lied mit seinen rauschenden Kadenzen und knackenden Kehllauten. Der Sänger des Baum-Liedes war stimmlich ebenfalls in Hochform; die beiden Melodien vermischten und verschlangen sich über dem glosenden Feuer. Vor Elspeths innerem Auge tauchten bruchstückhafte Bilder aus ihrer Heimatwelt auf, und aus der stillen ländlichen Einsamkeit, die sie auf dem Planeten Erde erlebt hatte. Sie erinnerte sich noch an vieles, und sie war erleichtert, als sie das feststellte – doch ihr Leben auf dem Neu-Anzar war ihr jetzt fast ganz entfallen. Es kam in Fragmenten wieder hoch, und bei Gelegenheiten wie dieser, wenn die Erd-Sänger sie mit ihrem Lied verzauberten oder die melancholischen Beschwörungen des Wind-Sängers ihr das Gefühl der Stürme zurückbrachten, die den Anzar peitschten und seine ungeschützte Oberfläche so todgefährlich machten. Die Windsängerin sang heute nicht, wie Elspeth bemerkte. Die Frau saß geduckt auf halber Höhe der Brustwehr und starrte ins Feuer hinunter; gelegentlich sang sie ein paar Töne, doch die spürbare Spannung in der Gruppe dort unten beunruhigte sie anscheinend. Was beeindruckte sie so, fragte sich Elspeth. Was spürte sie im Wind? Oder war der Glaube an eine mystische Funktion dieser Sänger einfach Unsinn?
Die Windsängerin war die angesehenste unter allen Erdsängern. Iondai wählte sie aus und konnte sie nach Lust und Laune absetzen, doch seine Lust und Laune gründeten sich vielleicht auf das, was er selber im Winde gelesen hatte. Die anderen Sänger, ‚Fluß’ und ‚Baum’, wechselten von einem Fackel-Zyklus zum anderen, und jeder im crog konnte die Stellung eine Zeitlang innehaben. ‚Felsen-Lied’ aber war das höchste Privilegium für alle, die im crog lebten, und für alle Zeiten. Eine Form des Gebets, um den Erd-Geistern eine Gunst abzuzwingen – zweifellos hatte es in erster Linie Katharsis-Funktion.
Manchmal wurde das Gespräch am Feuer lebhaft, sogar heftig. Elspeth konnte nicht viel davon hören, was sie natürlich ärgerte, doch wagte sie nicht, ihren Platz am Rande des Feuerscheins zu verlassen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, worüber gesprochen wurde – falls die Ungenn sie immer noch als eine Art Dünenläuferin in der Probezeit betrachteten, flog sie bestimmt ohne weiteres hinaus, wenn sie von dem vorgeschriebenen Spiralenweg abwich.
Sie horchte angestrengt; soviel sie verstehen konnte, ging es in der Hauptsache darum, daß die Jenseitler ihre ‚Knochen-Geister’ nicht mehr, wie ursprünglich vorgesehen, einigen Auserwählten verleihen wollten. Die meisten waren davon überzeugt, daß ein solcher Besitz für den crog von großem Wert sein würde; doch waren sie nur deshalb so überzeugt, weil Iondai es ‚vorausgesehen’ hatte. Allerdings gab es Abweichler: Darren zum Beispiel setzte sich heftig dafür ein, daß man die Eingänge zum crog schließen sollte, wie damals, als die nue-Invasoren aus dem Schneeland herabgekommen waren. Darrens Vater war ebenfalls der Ansicht seines Sohnes, die Ungenn der Familien waren es jedoch nicht. Das bedeutete nichts Gutes, dazu brauchte sie kein Orakel.
Der liebliche Geruch gebratenen Fleisches – Schwarzflüglerfleisch – machte ihr den Mund wäßrig, obwohl sie das Zeug nicht ausstehen konnte. Sie hatte vorhin nur eine sehr kleine Portion bekommen, und die Hälfte davon hatte sie Moir gegeben. Sie dachte daran, wie sie zum erstenmal Schwarzflügler gegessen hatte; damals mußte sie jeden Tag gegen die Übelkeit ankämpfen, bis sie das Fleisch schließlich mit Darren zusammen essen konnte, ohne dabei vor Ekel Grimassen zu schneiden. Als sie damals wieder auf ihr Schiff gekommen war, war sie erstaunt gewesen, wie lange sie auf dem medizinischen Tisch hatte liegen müssen, um sich die Fremdsubstanzen aus dem Körper zu spülen. Schließlich hatte sie sich nicht mehr darum gekümmert. In dem, was die Aerani aßen, war nichts Giftiges – weder im Schwarzflüglerfleisch noch in den Felsenfuß-Schwämmen oder jenem ‚Lucinogen’ das in den porösen Steinen wuchs –‚Weißgummi’ nannten sie es wohl. Der menschliche Körper konnte das alles verarbeiten; bestimmt war es nahrhaft, ohne schädliche Nebenwirkungen zu haben.
Die Nacht schritt vor, und die Diskussion ging weiter. Nur zur Hälfte befand sich Elspeth im crog, zur anderen auf irgendwelchen Wolken-Ebenen, wo sie im Geiste Fragmente ihrer Gespräche mit Ashka, mit Gorstein und sogar mit Iondai verarbeitete. Hauptsächlich dachte sie an den Nachmittag zurück, an den erstickenden, stinkenden Nebel und an die sonderbaren, eindringlichen Reden Ashkas, bei denen es ihr kalt den Rücken hinuntergelaufen war.
Viel hatte sie davon nicht begriffen. Die Oszillation der Zeitmauer konnte sie sich zur Not bildmäßig vorstellen. Doch sie hatte sich die Zeit noch nie als Wellenfront vorgestellt, und so konnte sie nicht erfassen, daß sie nichts anderes sei als die Manifestation des Gleichgewichts zwischen diversen kosmischen Kräften. Wie er es beschrieben hatte, schien sich alles so logisch mit dem tao zu verbinden – der Strom der Energie, die Verdichtung der Materie, die Prozesse der Anziehung und Abstoßung, die von den Sternen und Planeten ausstrahlen – und jene ungesehenen, unvorstellbaren Kräfte, die auf den drei Monate alten Fötus einen so dauernden Einfluß hatten, daß sie jeden Mann, jede Frau als eine Funktion seines oder ihres kosmischen Ortes bestimmten. Astrologismus hatte Ashka das genannt, aber diese Bezeichnung war einer jener vagen Rationalisten-Fachausdrücke. Sie hatte es nicht gewußt, und bei der Nachbetrachtung kam es ihr überhaupt nicht mehr logisch vor, sondern nur sinnlos.
Alle diese Kräfte, hatte er gesagt, stehen in gewissen Wechselbeziehungen, und wo sie sich mit der Materie überschneiden, entsteht unter anderem Zeit. Manchmal können sich Unregelmäßigkeiten in dieses Gleichgewicht einschleichen, und dann verändert sich die Zeit – einst war einmal ein Mensch durch die Zeit gereist; er hatte dazu eine Maschine benutzt, aber auch seine eigene Geisteskraft, indem er Unregelmäßigkeiten innerhalb seines körpereigenen elektrischen Feldes hervorrief. Hier auf dem Aeran bestand auch eine solche Unregelmäßigkeit, vielleicht im Umkreis von Lichtjahren, vielleicht auch nur von ein paar Meilen über der Planetenoberfläche. In gewissem Sinne gehörte der Aeran zu einem anderen Universum, obgleich er physikalisch dem unseren entsprach.
Und wie war es mit dem Irland vor siebentausend Jahren?
Wenn (hatte er gesagt) die gemeinsamen Symbole der beiden Kulturen eine Funktion dieser Unregelmäßigkeit sind – jawohl, dann mußte damals in Irland ein lokalisiertes Ungleichgewicht bestanden haben, mochte es nun ein paar Jahre oder ein paar Jahrhunderte gedauert haben, das mit diesem kleinen Stück des Planeten Erde durch ein besonderes Wesen verbunden war oder – man denke an den laufenden Mann – durch den Geist dieser ganz bestimmten Steinzeit-Bevölkerung selbst. Aber das alles sei nur eine Idee, hatte er gesagt, nur eine Idee – allerdings spürte sie instinktiv, daß er selbst daran glaubte.
Zeit und Symbole. Symbole und Zeit. Gab es da eine Relation? Wie konnte es keine geben? Wie konnte ein komplizierter Satz von Symbolen nach siebentausend Jahren Dunkelheit wieder auftauchen, wenn da nicht eine Beziehung zu der gewaltigen Anomalität des Aeran vorhanden war? Und wenn diese Symbole wieder auftauchten, war das nicht ein Hinweis darauf, daß auch im Irland der Großsteingräber-Kultur eine Zeit-Anomalie bestanden hatte?
Sie durchdachte dieses Problem nach allen Seiten und verfolgte diesen gedanklichen Prozeß fast gleichgültig, fast ohne innere Anteilnahme. Baute sich ihre Logik ebenso ab wie ihr Gedächtnis? Die Antwort auf diese Frage war doch klar: Zeit und Symbolismus des Boyne-Tals waren mit denen des Aeran verkettet, waren aufeinander bezogen – ohne eine Veränderung der lokalen Zeit hätte es diese Symbole nicht gegeben, weder damals in der Morgendämmerung der Erden-Kultur noch jetzt in der neuen Morgendämmerung.
Und warum konnte sie so viele Symbole erklären (oder bildete sich wenigstens ein, daß sie es könnte), aber nicht jenes eine? Warum glaubte sie, alle diese einfacheren Ornamente erklären zu können, die abstrakten Darstellungen des Erdstromes im Stein, Wasser und Wind, die Rhomben, Kreise, Dreiecke, konzentrischen Spiralen, Doppelspiralen … doch nicht jenes eine Muster, die drei Doppelspiralen, die sich in die Mauer ihres Geistes eingruben, wie die Hand eines unbekannten Künstlers sie vor einer Million Lebenszeiten in die Grabwand von Newgrange eingegraben hatte?
Wie magisch war dieses Sgraffitto, wie erregend das Symbol, wie tief hatte es die berührt, die es anschauten, geduckt in dunkler Felsenkammer, umschlossen von Steinplatten und dem schweren Erdgeruch? Fiel der Schein der Fackeln darauf, so verstummten alle. Damals, als man die Erde noch als seine Heimat liebte, hatten vielleicht tausend Generationen den Erdwind staunend betrachtet und sich gefragt: Was mag das bedeuten? Wer hat das eingemeißelt? Was hat er sich dabei gedacht, als er am Felsen hämmerte und ein Kunstwerk hinterließ, das einem ins Hirn geht und den Sinn für prähistorische Zeiten weckt wie kein anderes Symbol, kein anderes Gebilde aus Fels und Himmel?
Etwas, das Ashka am Nachmittag gesagt hatte, fiel ihr wieder ein: Sie hatten (nur kurz) über die Symbole gesprochen. In Elspeths Kopf saßen sie fest, doch was Ashka von ihnen wußte, reichte gerade aus, um ihn zu verunsichern. Aber den Erdwind hatte er gesehen, und auch er hatte eine seltsame, aufrührende Unruhe verspürt – ein psycho-parasitäres Symptom? – ein ungemütliches Gefühl von Vertrautheit und unwillkommener Verzückung, als seine Augen den komplizierten Spiralen folgten. Vielleicht, hatte er lächelnd gesagt, vielleicht war jener riesige Tumulus nicht errichtet worden, um Menschen zu bestatten, sondern um den Erdwind zu bestatten. Ein Denkmal vielleicht oder ein Gefängnis … ein Symbol, das sie jahrelang gebraucht hatten, war vielleicht hier, einmal nur, für die Ewigkeit eingemeißelt und dann weggeschlossen worden.
Damals in Newgrange, als die Symbole eingemeißelt wurden, fiel am Tage der Wintersonnenwende das Licht der aufgehenden Sonne in die Kammer mit dem Erdwind-Symbol: Sonnenstrahlen griffen über hundert Fuß tief in die Erde und berührten das Grab der Spirale an diesem einen Tag im Jahr.
So verehrt? Oder so gefürchtet?
Der Gedanke gefiel ihr. Der zerfallende Tumulus im Urwald, in den Moir sie hineingeführt hatte, um Zugang zur Feuer-Halle zu gewinnen … dort war auch eine Doppelspirale eingemeißelt. Dieselbe? Der Erdwind? Bei der Menschenasche, die sie gefunden hatte, mochte es sich hier und in Newgrange um eine zweite Bestattung handeln … oder um eine Opfergabe.
In den Tumulus auf dem Aeran drang niemals Licht; aber die Wintersonnenwende spielte bei allen megalithischen Kulturen der Erde eine besondere Rolle, die sich nicht auf eine bestimmte Gegend beschränkte.
Und bei den Aerani stand der Erdwind, wie sie entdeckt hatte, zu etwas anderem in Beziehung – zu ihrem Orakel, zu den brausenden Winden aus den Bergen, zu dem ‚Lied der Erde’, das die Schau der Zukunft in den Geist derer hineintrug, die geschult waren, das Orakel zu befragen.
Welche Tatsache – so fragte sie sich, als die mit halbem Ohr auf die Diskussion der Aerani hörte und dabei in Gedanken durch das Steinlabyrinth der Begräbnisstätte auf dem Planeten Erde wanderte –, welche Tatsache verbindet alles, was ich über die Aerani und den Erdwind weiß? Über ein Symbol, von dem sie anscheinend nicht gern sprechen, ein Symbol, das über der Feuergrube eingemeißelt ist und das sie verehren, aber gleichzeitig auch in gewissem Sinne fürchten …?
Worauf wies das alles hin? Auf eines: daß die Aerani, genau wie Elspeth, keine Ahnung hatten, was der Erdwind war, obwohl er tief in ihr Leben eingriff und sie recht gut wußten, daß er etwas darstellte, das von allerhöchster Bedeutung war oder einst gewesen war!
Nach dem, was Ashka sagte (sie selbst hatte davon noch nie gehört), lag die Erdwind-Höhle am hinteren Ende des rätselhaften Windkanals, der das Orakel war. Also konnte sie dort vielleicht einen Begriff vom Sinn jenes einzigartigen Symbols bekommen, der ihr bestimmt für immer verborgen bleiben würde, wenn sie lediglich auf die Beobachtung der Aerani und ihres Rituals angewiesen blieb.
Also zwei Symbolreihen, nicht nur eine? Das war jetzt mehr, mehr als eine bloße Möglichkeit. Die Symbole, die sie benutzten und verstanden, vielleicht bloß bedeutungslose Zeichen, ohne anderen Gebrauchswert als den der psychologischen Manifestation einer Ahnung von etwas Größerem (jedoch als Wiederholung!) … und ein zweiter Symboltyp, nur durch dieses eine Zeichen manifestiert, etwas so tief in jedem einzelnen Wurzelndes, daß es in einem Augenblick ganz selbstverständlich und im nächsten völlig vergessen sein konnte?
Die Flammen griffen mit knisternden Lichtfingern hoch in die rauchgeschwängerte Luft. Das Gespräch beim wärmenden Feuer wurde unnatürlich laut, aber alle sprachen durcheinander, so daß kaum etwas zu verstehen war. Es war wie ein Geräusch-Brennpunkt inmitten totaler Lautlosigkeit. Fluß-Sänger und Baum-Sänger summten ihr magisches Lied; die Töne und was sie an Bildern anklingen ließen, schwebten zart und zauberisch über dem Feuerschein; irgendwo ahmte ein Kind den Balzruf eines Schwarzflüglers nach. Ein Gefühl völliger Losgelöstheit überkam Elspeth, während sie dort am Erdwall saß, mit den Händen die Knie umfaßte, in die Flammen schaute, den Duft verbrannten Fleisches roch, dem sanften Lied lauschte, den durcheinanderrufenden Stimmen …
Aber nach und nach … erst war es nur eine ganz verschwommene Idee, doch mit jedem Herzschlag wurde sie deutlicher, mit jedem verfließenden Ton der Lieder, die sich in ihrem Kopf mit Fluß, Baum, Wind und Schwarzflüglern vermischten … begann sie zu verstehen – sie erinnerte sich an etwas, das Ashka heute nachmittag gesagt hatte: Der Mensch sei entstanden aus Struktur und Wesen. Und zum erstenmal begann sie zu begreifen, was ihr – wie ihr vorkam, ihr ganzes Leben lang – entgangen war … es fing an, einen Sinn zu bekommen …
Ein gräßlicher Schrei riß sie aus ihrer Meditation. Sekundenlang starrte sie verwirrt auf das Bild vor ihr und konnte kaum ausmachen, was da nicht stimmte. Doch langsam erkannte sie die Veränderung. Alle Aerani waren aufgestanden, Darrens Vater war in die Knie gesunken und starrte über das Feuer hinweg direkt auf Elspeth, streckte die Arme nach ihr aus, wie um Hilfe bittend …
Brust und Leib waren dunkel befleckt mit einem Doppelkreuz aus schwarzen Strichen, die, während er langsam zu Boden sank, als vier tiefe Wunden auseinanderklafften. Elspeth empfand Brechreiz und verschluckte den Schrei, den sie lieber ausgestoßen hätte.
Gestank erhob sich, ein säuerlicher, vertrauter und doch fremdartiger Geruch, wie er ihr noch gestern Übelkeit verursacht hatte. Es roch nach Blut und Tod.
Darren kam auf sie zugerannt; sie wollte sich hocharbeiten, doch ein steinernes Wurfmesser flog so dicht an ihrem Kopf vorbei, daß sie erstarrte. Darren blickte zurück, dann wieder auf sie (Entscheidung im Bruchteil einer Sekunde!) und stürzte dann in rasendem Lauf zum Ausgang in der inneren Düne – Elspeth sah noch, daß ein älterer Mann einen schwerbewaffneten Krieger daran hinderte, ihm zu folgen. Sie starrte auf den zuckenden Körper von Darrens Vater und hatte dabei das Gefühl völliger Taubheit am ganzen Leibe. Unter ihren Augen wurde dem noch Lebenden der Kopf abgehackt und ohne Umstände ins Feuer geworfen. Der Henker kam drohend mit erhobenem blutigem Beinmesser auf sie zu. Sie blieb regungslos sitzen und sah glasklar, daß sie nicht die geringste Fluchtmöglichkeit hatte.
Im nächsten Moment aber war der Mann weg und ging mit raschen Schritten auf die Feuergrube zu. Einige der älteren Aerani beobachteten sie aus der Entfernung, und dann lächelte ihr der Ungenn aus Darrens Familie zu. Ein wunderbar ruhiges Lächeln, dachte sie. Sein Sohn eines plötzlichen Todes gestorben, sein Enkel aus dem crog vertrieben – und da sitzt er, als sei nichts geschehen. Können familiäre Bindungen, kann Familienliebe so wenig Bedeutung haben, wenn es um ideologische Abweichungen geht?
Man kümmerte sich jetzt nicht weiter um sie und ließ sie ruhig im Schatten sitzen – eine kleine geduckte Gestalt, die zum Feuer hinunterspähte.
Die Entscheidung mußte gefallen sein, und das mußte der Grund sein für die Aktion gegen Darren und seinen Vater. Das war ihr völlig klar. Diejenigen, die gegen den Spruch des Orakels gestimmt hatten, waren auf unterschiedliche Art eliminiert worden – diejenigen, die laut gegen die ‚Knochen-Geister’ opponiert hatten, waren mit der geschlossenen Mehrheit der Aerani konfrontiert worden, die sich eindeutig zugunsten der Stimme der Zeit, wie sie durch Iondais Mund erklang, ausgesprochen hatten.
Und da saß Iondai selbst; gelassen und befriedigt hockte er dicht beim Feuer, im inneren Kreis, wo es am wärmsten war, starrte hinauf zum Wind-Sänger, der jetzt ein melancholisches Lied voller Kälte und Verzweiflung ertönen ließ. Niemand protestierte. Vielleicht prasselte das grüne Holz auch so laut, daß die traurige Stimme oben auf der Brustwehr nicht zu hören war.
Wie richtig es gewesen war, daß die kurze Erleichterung, die sie nach der Unterredung mit Gorstein empfand, nicht vorgehalten hatte! Sie hätte so dumm sein können, sich für ein paar Tage heimlich aus dem crog zu entfernen, damit die Aerani zu ihrem normalen Leben zurückfänden – dann wäre sie zurückgekommen und hätte feststellen müssen, daß das Schlimmste geschehen war. Und jetzt wußte sie ganz genau: Sollte das Schlimmste vermieden werden, so mußte sofort, radikal und drastisch gehandelt werden. Denn da die Aerani bereit und gewillt waren, sich die Monitoren implantieren zu lassen, blieb nur noch Gorsteins Unsicherheit, um sie vor den Folgen ihrer Ignoranz zu schützen. Und wie lange würde sich Gorsteins Unsicherheit gegen Ashkas Forderung nach unverzüglicher Erfüllung der Mission halten? Diese Geschichte mit dem Fluß der Zeit mochte unreal klingen, doch der Schiffscomputer wußte Bescheid und würde Gorstein überzeugen, wenn sein eigener Verstand nicht ausreichte. Er würde sich nicht gegen die kalten Fakten auflehnen. Er würde zu einer unmittelbaren Entscheidung gezwungen sein – nicht ob er hierbleiben sollte oder nicht, sondern ob er vor dem Start erst die Monitoren implantieren sollte oder nicht.
Und zu denen zurückzukommen, die er so fürchtete, und ihnen zu sagen: „Wir haben es nicht für richtig gehalten, mit den Aerani zu experimentieren, weil hier die Zeit oszilliert …?“ Sie würden ihn vermutlich auslachen. Das würde Gorstein nicht riskieren. Er würde den Aerani geben, was sie nunmehr glaubten, haben zu müssen. Das wäre für alle Beteiligten die einfachste Lösung.
Wahnsinn war jetzt Herr und Meister; nur Elspeth konnte das Unheil verhindern. Und sie sah für die Aerani eine unheilvolle Zukunft voraus, wenn Gorstein so entschied. Wäre ihr in den Sinn gekommen, es sei nur unangebrachte Bevormundung, wenn sie sich einbildete, die Aerani vor sich selbst schützen zu müssen, so hätte sie diesen Gedanken weit von sich gewiesen. Selbstkritik war jetzt nicht angebracht.
Unbemerkt (oder so glaubte sie wenigstens) schlüpfte sie aus der erleuchteten Zone und dann aus dem crog hinaus. Dort drüben, eine knappe Viertelmeile entfernt, lag das hellerleuchtete Schiff; und als sich ihre Augen an die plötzliche Finsternis gewöhnt hatten, machte sie sich auf den Weg durch das dazwischen liegende Gelände.
Darren war nirgends zu sehen. Um Moir, die am Erdwall kauerte und ihr nachschaute, kümmerte sie sich nicht. Moir rief sie an, doch Elspeth, wenn sie überhaupt gehört hatte, reagierte nicht darauf.
Dem Wachtposten an der Rampe, die ins hellerleuchtete Schiffsinnere führte, sagte sie, sie werde erwartet. Der Posten kannte sie, er hatte sie mit Gorstein zusammen gesehen, und er kam offenbar nicht auf den Gedanken, beim Schiffs-Meister um Bestätigung nachzufragen. „Gehen Sie nur rein“, sagte er lächelnd.
„Ich soll ihn bei den Monitoren treffen“, erläuterte sie. „Ich muß sie den Aerani vorher beschreiben, sonst lassen sie sich die Dinger nicht implantieren.“
„Wird auch Zeit“, sagte der Posten, „aber da gibt’s gar nichts zu sehen. Auch nicht zu beschreiben. Nicht viel, jedenfalls.“
„Das kann man denen nicht sagen“, erwiderte sie und deutete flüchtig mit dem Daumen über die Schulter. Der Posten nickte verständnisvoll.
„Dahinten ist eine Frachtlukentür, wo draufsteht: ‚Sensitiv’. Da gehen Sie durch. Immer der Nase nach.“
Sie schritt die Rampe hinauf, und mit einem Blick auf Gorsteins Fenster, die alle in gelbem Licht erstrahlten, ging sie an Bord.
Fast ehe sie merkte, wie rasend ihr Herz schlug und wie ihr der Kopf schwirrte, war sie durch die Tür des Lagerraumes getreten. Wenn Gorstein sie jetzt erwischte, war es ihr sicherer Tod. Es mußte ganz schnell gehen. Kam Gorstein aus dem Schiff heraus, dann war ihr Spiel zu Ende; wenn der Posten es sich anders überlegte und doch noch beim Schiffs-Meister nachfragte, ob sie wirklich erwartet wurde, dann würde Gorstein sofort wissen, welchen verzweifelten Schritt sie vorhatte – und dann wäre ihre Chance gleich Null.
Der Gang fiel etwas ab. Schiffsgeräusche füllten ihre Ohren: ein tiefes Summen, vielleicht vom Belüftungssystem oder vom Arnes-Antrieb, den man nie ganz abstellen konnte, selbst wenn man es gewollt hätte.
Während sie durch den weißgestrichenen Korridor ging, zog sie ihr winziges Nadelgewehr aus dem Gürtel. Vorhin im crog war es ihr gar nicht in den Sinn gekommen, die Waffe zu ihrer eigenen Verteidigung zu benutzen … seltsam, wie man im crog den Sinn für Zivilisationsprodukte verlor. Sie hatte sich nicht etwa gegen die Benutzung der Waffe entschieden, sondern hatte einfach nicht mehr daran gedacht, daß sie sie überhaupt besaß.
Jetzt hielt sie sie schußbereit vor sich. Das Gewehr hatte nur ein einziges Geschoß, doch das war von sehr starker Wirkung. Aber wenn sie jetzt schießen mußte, dann hatte sie keinen Schuß mehr für die Monitoren.
Und wie sahen die nun wirklich aus?
Am Ende des Ganges, der kürzer war, als sie gedacht hatte, war die Tür mit dem Schild ‚Sensitiv’. Sie öffnete die Tür und trat in einen kleinen, spärlich erleuchteten Raum, warm, fast stickig. Allerlei Gerät stand an den Wänden, schwache Lichter spielten über den Fußboden, ein zu Kopf steigender Geruch, Ozon vielleicht, verursachte ihr ein unangenehmes Gefühl im ganzen Körper.
In der Mitte des Raumes stand ein länglicher, viereckiger Kristallblock, fast so hoch wie sie selbst; bläuliche, sich kreuzende Strahlen teilten das Innere in zwanzig gleich große Fächer. Zweifellos – das mußten sie sein.
Sie hob das Gewehr und zielte mitten in den Kristall. Einen Moment zögerte sie … ein flüchtiger Gedanke zuckte auf … das sind die Hirne menschlicher Astralleiber … menschliche Bewußtseinsstrukturen. Dann wurde ihr klar, daß sie kein Bewußtsein hatten, obwohl sie das Echo des menschlichen Geistes beherbergten. Doch die Menschen, die diese un-berührbaren Energie-Pulsationen gespendet hatten, waren noch am Leben und gesund, denn bei diesem Prozeß handelte es sich nicht um ein Opfer. Es war, als ob man Blut oder Liebe gab – der Spender büßte de facto nichts dabei ein.
Sorgfältig zielte sie (– ein V-Geschoß wäre noch wirkungsvoller, aber dazu war es jetzt zu spät –) und öffnete die Tür hinter sich, so daß sie vor der Explosion flüchten konnte. Sie drückte ab.
Eine Zeitlang hielt sie sich noch im Walde versteckt, noch halb erstickt von dem Rauch, der in ihre Bronchien eingedrungen war. Wie sie es geschafft hatte, körperlich und geistig Ruhe zu bewahren und keinen Verdacht zu erregen, bis sie von Bord war, wußte sie selbst nicht. Jetzt lag sie auf dem kalten Erdboden einer winzigen Lichtung und ließ die ganze Spannung aus sich heraus, die sie zwanzig Minuten lang so tapfer ausgehalten hatte.
An Bord war alles ruhig. Nach einer Stunde, ausgeruht und – zum mindesten – sehr zufrieden mit sich selbst (obwohl sie genau wußte, daß ihr Leben nicht mehr lebenswert sein würde, wenn sie Gorstein in die Hände fiel), schlich sie durch die Dunkelheit in den crog zurück. Moir rief sie wieder an, als sie vorbeikam – ein flüchtiger Schatten in der Nacht –, doch wiederum reagierte Elspeth nicht.
Wenn Gorsteins Wut auf den Höhepunkt kam – und das würde sie –, dann entschloß er sich vielleicht zu irgendwelchen aggressiven Aktionen gegen die Aerani; und Elspeth hielt es für fair, sie zu warnen. Gewiß war es ein großes Risiko, ihnen zu sagen, daß sie die Monitoren getötet hatte; doch die Aerani besaßen ein wunderbares Talent zum Fatalismus und würden sich wohl mit dem Geschehenen abfinden – vielleicht würden sie sogar einsehen, daß es so am besten war. So oder so – sie wußten es möglicherweise schon, denn ihr Orakel wußte es bestimmt.
Am inneren Eingang des crog lief sie Iondai in die Arme. Er versperrte ihr den Weg, ein schmächtiger, aber aggressiver Mann. Er starrte sie an, und etwas in seinen Augen, etwas in seiner Miene bestätigte ihre Befürchtungen.
Er wußte, was geschehen war!
Trotzdem sagte sie: „Die Knochen-Geister sind tot.“
Iondai antwortete nicht, sondern starrte sie nur an. Dann trat er zur Seite, und ihr wurde klar, was nun geschehen würde.