12

 

Peter Ashka hatte weder vor dem Leben noch vor der Unvermeidlichkeit des Todes Angst. Das ching eliminierte das Element der Unsicherheit fast vollständig aus seinem Leben, und so stand nur der Tod zwischen ihm und dem friedvollen Sein, das er sich so wünschte. Deswegen hatte er in seinen mittleren Jahren alles aufs Spiel gesetzt und jene lange Woche in Konsultationen mit dem Buch der Wandlungen verbracht, hatte herumgebohrt und auf eine Antwort hingearbeitet, die tief in der Zukunft verborgen lag, in jenem unwahrscheinlichen Universum, wo es immer noch mehr Dunkel als Licht gab. Doch das ching kam tief genug hinunter, und er war dem ching gefolgt, und am Ende der Woche hatte er eine Reihe von Gleichungen in Händen, aus denen er das genaue Datum seines Todes errechnen konnte.

Wenn Ashka einen wesentlichen Charakterfehler hatte, dann den, daß er von Jugend an zur Desorganisation neigte. Planen und Vorbereiten waren ihm so unangenehm, daß er oftmals ins Chaotische geriet, und nur aus diesem Grunde könnte, wie er selbst spürte, sein Leben enden, ehe er es voll ausgeschöpft hatte. Man brauchte so ungeheuer viel Wissen und Erfahrung; nur wenn er seine Zeitgrenze kannte, war er imstande, sein Leben auf das richtige Ziel hin zu organisieren.

Diese Zeit war beinahe um, und wenn er auch bedauerte, daß die sieben Monate nicht sieben Jahre waren, fühlte er sich doch nicht unglücklich, und Angst hatte er ganz bestimmt nicht – so war es, und so war es immer gewesen. Ein friedliches Leben und ein friedlicher Tod waren ihm versprochen, und Friede war sein größter Wunsch. Gorstein war sein Herr und bestimmte sein Leben; das ching war sein bester Freund und leitete sein Schicksal. Leben und Schicksal – was gab es sonst noch? Nur die Vergangenheit. Hier und nur hier tat ihm manches von Herzen leid. Doch das war unwichtig.

Das Leben, das hinter ihm lag, war voller Erinnerungen an alle Freuden, nach denen er sich immer gesehnt hatte: neues Wissen, neue Orte, neue Fragen. Er hatte nie geheiratet, denn das gehörte zu den Freuden, nach denen er sich nicht sehnte. In mancher Hinsicht war er anomal, doch wenn seine Exzentrizität, seine Hingabe an das ching ihn ein wenig von den anderen Menschen entfernten, so war er nichtsdestoweniger ein Mensch wie andere auch, ohne große Kreativität und ohne den starken, reformatorischen Funken. Er beherrschte sein Handwerk, wie so viele in seiner Umgebung, aber er war nicht überragend.

Er maß seinen Erfolg nicht an dem angehäuften Wissen (das war sein privater Stolz), sondern an den Erfolgen Karl Gorsteins. Gorstein war sein Herr und doch in gewissem Sinne sein Untergebener, denn in den letzten Jahren hatte Ashka ihn geführt, hatte ihm geholfen, oben zu bleiben, hatte ihn mit Rat und Hilfe versehen, hatte den Mann zur Macht aufsteigen, ihn Schiffs-Meister werden sehen, hatte beobachtet, wie seine Kraft aufblühte und sich festigte. Gorsteins Erfolg war Ashkas Erfolg; er und Gorstein standen sich näher als Freunde – sie waren fast eins.

Deswegen hatte Ashka die Prophezeiung, daß die Oberen zwischen ihm und dem Erfolg der Aeran-Mission stünden, mit so tiefer Angst erfüllt. Zweifelte er – so hatte er sich gefragt – im Innersten an Gorstein? An seiner Kraft, an seiner Entschlossenheit? Spürte er in einer ruhigeren Ecke seines Geistes, daß Gorstein versagt hatte – versagt, weil er Ashka brauchte und daher kein ganzer Mann war?

Zweifel an Gorstein war Zweifel an sich selbst – ein ganz und gar unerträglicher Gedanke. Ashka und Gorstein gehörten zusammen. So war es immer gewesen. Der Rationalist und der Schiffs-Meister; der Asiat und der ‚Westler’, der Kleine und der Hochgewachsene; der körperlich Schwache und der Starke; der im Schicksal Starke und der Schicksalsschwache – komplementäre Hälften eines einzigen Wesens, yin und yang; der, der in die Zeit hineingriff, und der, der sich an die Gegenwart klammerte. Lauter Seiten eines Ganzen, und das war Vorwärtsdrängen, Fortschritt, Erfolg …

Zweifel an Gorstein war Zweifel an sich selbst. An Gorstein zweifeln hieß, seine Schwäche, Ashkas eigene Schwäche einzugestehen. Hatte er alle diese Jahre lang ein friedliches Leben geführt, um jetzt, weniger als sieben Monate vor seinem Tode, seine ganze Existenz in Frage zu stellen? Nein. Das ging nicht. Gorstein hatte – Gorstein hatte …

Könnte er doch sagen: recht.

Wild, bitter, verzweifelt sehnte er sich danach, zu sagen, daß Gorstein recht hatte, zu wissen, daß Gorstein wirklich recht hatte. Doch wenn das so war … dann hatte sich das ching geirrt. Wenn Gorstein recht hatte, über alle Zweifel erhaben recht hatte, dann hatte das ching unrecht, und das war unmöglich. Das ching konnte sich nicht irren. Es konnte nicht angezweifelt werden. Also mußte Gorstein sich irren, mußte es falsch sein, daß er, wie er es jetzt tat, das Orakel ignorierte, daß er es ablehnte, daß er Ashka ablehnte, wie er es jetzt offensichtlich tat … Gorstein irrte sich, und Ashkas Leben war eine Lüge, eine bittere Lüge, eine leere Hülle, ein Echo nur der Größe, der Ganzheit, eine nur flüchtig als Ganzheit verkleidete Hülse. Entscheidung macht Vertrauen zu Spott; Entschluß macht Tränen zur Lüge.

Gorstein oder das ching, Schwäche oder Stärke, Wahrheit oder Lüge. Ich oder ich!

Und sekundenlang trieb Ashka auf dem Wege der Verwirrung, der Unsicherheit, des echten Zweifels an den beiden Werten, die ihm am höchsten standen.

Einen Augenblick, eine Sekunde nur schwieg die geistige Auseinandersetzung um die beiden Seiten des Problems, ließ er sich statt dessen treiben, schwamm er auf den Wogen des tao, ungeführt, ohne zu wissen, wohin … Verrat, einen Herzschlag lang.

Nur noch Minuten.

Ein Augenblick des Zweifelns.

Finsternis vor ihm.

Und dann die Lösung: Gorstein irrte. Er irrte, und er mußte gestoppt werden. Es gab keinen Zweifel am ching – es wegzustoßen war dumm, und Dummheit ist das Privileg der Unwissenden. Gorstein war selbstverständlich ein Unwissender. So unwissend, daß er die Natur von Zeit und Wandlung nie begriffen hatte, niemals eine echte Beziehung zum Buch der Wandlungen gehabt und daher immer einen Rationalisten gebraucht hatte. Er war ein Schwächling der schlimmsten Sorte: Er gründete auf der Stärke der Grundsätze eines anderen.

Er mußte gestoppt werden; er mußte seine Entscheidung zurücknehmen!

 

Gorstein hätte sagen können: Gut, hier bin ich, ich nehme sie zurück. Doch das tat er nicht. Er konnte nicht wissen, was Ashka vorhatte; doch eben als Ashka zu einem endgültigen Entschluß gelangt war, glitt die Tür lautlos auf, und Gorstein stand da. Sein Gesicht war bleich und verzerrt – vor Anspannung, vielleicht auch vor Wut.

„Karl …“ Unsicher stand Ashka auf und sah den Schiffs-Meister an. „Karl, warum hast du mich vorhin nicht vorgelassen?“

Gorstein starrte ihn kurz an, sah dann zu Boden und schloß die Tür wieder. Er trat in den Raum hinein, sah aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus (oder auf sein eigenes Spiegelbild?).

„Ich habe keine Lust, mich mit dir zu streiten, Peter. Entschuldige, wenn ich vorhin unhöflich war.“

„Ich frage mich nur, warum du nicht mit mir reden wolltest.“

„Weil ich wußte, was du wolltest“, erwiderte Gorstein, und dabei war deutlich herauszuhören, daß er gereizt war. Er fuhr herum und sah den Rationalisten an, lächelte dann, lockerte den Gürtel seiner bauschigen roten Robe. „Es gab – und gibt – nichts, was ich zu deiner Beschwichtigung sagen könnte, Peter. Es ist zu spät zum Umkehren, und deine sehr echte Besorgnis wäre mir nur lästig gewesen.“

Lästig! Ashka konnte diese so gelassen ausgesprochene Beleidigung kaum fassen. „Lästig“, wiederholte er und setzte sich langsam wieder hin. „Zehn Jahre“, murmelte er trübe.

„Wieso? Zehn Jahre?“

„Die du und ich …“

„Ach so.“ Gorstein verstand jetzt, was Ashka meinte. Er setzte sich auf die Matte und nickte väterlich-überlegen. „Ja. Zehn Jahre – eine lange Zeit, und ich meine es aufrichtig, wenn ich sage, daß ich diese zehn Jahre … nun ja, trotz allem, wozu du mich veranlaßt hast, diese zehn Jahre zu schätzen gewußt habe – und dich auch, Peter. Ich wünschte, ich könnte dir irgendwie dafür danken. Ein Geschenk wäre beleidigend, aber etwas anderes kann ich dir anbieten.“

„Ich brauche nichts. Auch keinen Dank für die zehn Jahre.“

Die Augen brannten ihm, und er blinzelte so diskret wie möglich. Er spürte, daß ihm die Vernunft rasch abhanden kam, irrationale Emotionen stiegen hoch, unerwünschte, schmerzliche Sehnsüchte faßten nach seinem Hirn.

Gorstein lachte, als wolle er sich entschuldigen. „Du hast mich mißverstanden. Was ich dir anbieten kann, ist etwas, das mir sehr teuer ist – und dir auch, wie ich hoffe.“

„Was ist das?“

„Weitere Freundschaft“, entgegnete Gorstein, und es klang irgendwie selbstzufrieden.

Ashka schwieg darauf. Der Schock war fast untragbar. Daß Gorstein so etwas auch nur anbieten mußte, daß er sich dessen bewußt war, machte es nur um so mehr zur Lüge! Freundschaft? Freundschaft gab es nicht. Solche Gefühle hatte Gorstein nie für Ashka gehegt. Wie dumm er gewesen war zu glauben, daß eine solche Beziehung jemals bestanden hatte!

„Danke“, sagte er trübe. Hilflos weinte er ein paar Sekunden lang, den Kopf auf der Brust, die Hände ordentlich auf den gekreuzten Beinen gefaltet. Die heißen Tränen befeuchteten den Stoff zwischen seinen Fingern. Gorstein blieb stumm, und als Ashka nach ein, zwei Minuten aufsah, verflüchtigte sich eben der Schatten eines Lächelns vom Gesicht des Schiffsmeisters.

Er denkt, ich weine vor Freude …

Laut sagte Ashka: „Du sagtest – trotz allem, wozu ich dich veranlaßt habe – was meintest du damit? Das ching?“

„Natürlich. Wie ein Priester in alten Zeiten hast du mich mit einer Schamanismen-Diät gefuttert, hast mich geleitet und kontrolliert – o ja, du hast mich geleitet und kontrolliert, Peter –, von einer Prophezeiung zur anderen hast du mir niemals gestattet, selbst zu wählen – immer war mir die Wahl vorgegeben, und allenfalls konnte ich entscheiden, ob die eine oder die andere Alternative die weisere war – und oft genug gab es gar keine Alternative – tu das und das, oder es geht schief.“

„Aber ist es denn nicht gut, wenn man Alternativen bekommt?“

„Nein, Peter! Das ist gar nicht gut.“

„Wenn du dir alles selbst richtig überlegt hättest, Karl, dann wärest du jedesmal zu der gleichen Entscheidung gelangt. Was kann denn überhaupt beim Vergleich eines Ansatzes mit dem anderen richtig oder falsch sein?“

Gorstein beugte sich vor, als wolle er den Rationalisten mit seiner Eindringlichkeit umschließen, und sagte leise: „Wo auch immer unsere Rasse von irgend etwas abhängig wird, wird sie schwach. Abhängigkeit von Maschinen oder von Mensch zu Mensch … das ist Schwäche, und die kann ausgenutzt werden. Orakel zu brauchen ist eine Schwäche, Peter, ein Zeichen, daß wir die Fähigkeit verloren haben, die Dinge zu durchdenken … jedes Orakel im ganzen Imperium sagte, die alte Föderation würde zerfallen, und sie zerfiel. Wieviel hat die Hoffnungslosigkeit auf Grund dieser Voraussage zum Zerfall beigetragen? Ich bin ganz einfach zu dem Schluß gekommen, daß ein Orakel eine Krücke ist – ich sage nicht, daß es nicht funktioniert; aber es ist eben eine Krücke, und wir sind nicht lahm, mein Freund … nicht, wenn wir uns die Mühe machen, richtig hinzusehen!“

„Aber was hat denn das mit Lahmheit zu tun! Der freie Wille wird doch nicht beeinträchtigt! Das ching entscheidet doch nicht für uns!“

„Freier Wille ist mehr als nur Freiheit und Entscheiden, Peter. Viel mehr. Er ist das Wesen unserer Rasse …“

„Das bezweifelt doch niemand!“

„Aber das ching unterdrückt ihn.“

„NEIN!“ rief Ashka aus.

„Doch, Peter, jawohl. Ching hier, ching dort – dabei stagniert der Mensch. Alles ist wunderschön, der Weg ist geebnet, das Leben ist so einfach, paß hier auf, paß da auf, entspanne dich hier, entspanne dich da – laß das Leben nach dem Fahrplan laufen – heute muß ich meinen Ärger im Zaum halten, oder es geht etwas schief, und ich gerate aus dem tao! Es macht die Menschen schwach, Peter! Es macht sie bequem, und Bequemlichkeit ist der Feind des menschlichen Geistes. Ich habe es gesehen – warum kannst du es nicht auch sehen?“

„Ich sehe da keinen Unterschied. Mit oder ohne ching – das ist ganz gleich für die Psyche, die Gesellschaft, für Aussehen oder Hautfarbe. Bequemlichkeit ist ein Symptom der persönlichen Schwäche, kein Argument gegen das ching. Möchtest du ohne Taschenlampe in einer dunklen Stadt herumlaufen? Oder ohne warme Kleidung auf einen hohen Berg steigen? Bist du schwach, weil du solche Dinge brauchst?“

„Ja“, erwiderte Gorstein, „weil ich umkommen würde ohne sie. Aber das ist Evolution, Peter. Gegen die Evolution können wir nicht an. Die Technologie hilft uns, mit den evolutionsbedingten Schwächen zu leben. Dieses verdammte Buch ist ganz etwas anderes. Das evolutioniert uns nach hinten! Kleidung evolutioniert den Menschen nicht. Sie schützt ihn. Das ching sitzt in ihm drin, Peter. Es ist überall, faßt überall hin, kontrolliert, schwächt. Das sehe ich jetzt. Wir sind nicht vom ching abhängig, sondern von dem, was es darstellt: den leichten Weg! Du hast dich angesteckt, und deine Krankheit heißt Unsicherheit. Elspeth Mueller hat mir vorgeworfen, daß ich an dieser Krankheit leide. Ich wäre ein Mann ohne Wissen und Zukunft, hat sie gesagt und hat mir unterstellt, daß ich deswegen Angst hätte und deswegen schwach sei. Aber da hat sie sich geirrt.“

Eine kurze Stille trat ein. Ashka brach sie, indem er leise sagte: „Vielleicht haben wir uns beide geirrt. Vielleicht ist die Furcht überall, welchen Weg du auch einschlägst. Furcht plus Wissen gegen Furcht plus Nichtwissen.“

„Vielleicht“, stimmte Gorstein zu.

Doch Ashka wurde wieder böse. „Aber du kannst nicht leugnen, daß du arrogant bist, Karl. Schrecklich arrogant.“

„Wieso?“

„Deine Haltung, dein ganzes Betragen – alles reine Arroganz. Ich weiß ja, daß ein Mann von Autorität arrogant sein muß; aber zehn Jahre lang habe ich diese Arroganz für eine Maske gehalten, die fällt, sobald wir privat, als Freunde zusammen sind. Doch jetzt bist du selbst diese Maske, Karl. Sie ist dir eingewachsen oder du in sie. Sie verbirgt deine Angst, die Elspeth ganz richtig in dir gesehen hat – oder deine Unsicherheit!“

„Falsch“, entgegnete Gorstein verächtlich. „Sie verbirgt gar nichts, Peter – da ist nichts zu verbergen …“ Sekundenlang wurde er ernst und zog die Brauen zusammen; das Echo eines früheren Gesprächs mußte ihm wieder eingefallen sein.

„Arrogant“, wiederholte der Rationalist. „Diese Arroganz steckt tief drinnen in allen Menschen. Sie ist Mangel an Demut, eine Idee von Größe, von Mittelpunkt-Sein, von Ursächlichkeit – tief drinnen wollen die Menschen nicht wahrhaben, daß sie eine Niederlage erleiden könnten oder daß es einen Menschen gibt, der ihnen überlegen ist. Meistens bleiben diese primitiven Züge in der Tiefe. Bei dir sind sie an die Oberfläche gekommen. Dir kann nichts schiefgehen, nicht wahr, weil du mittels irgendwelcher undefinierbarer Kräfte alle Schwierigkeiten überwindest …“

„Jawohl – eine undefinierbare Kraft, die in uns allen steckt, kann hervortreten und uns befähigen, Fehler zu vermeiden …“

„Oder welche zu machen“, fiel Ashka scharf und böse ein. „Nur Kraft – das gibt es gar nicht. Kraft wird immer durch Schwäche beeinträchtigt. Deswegen ist das ching ja gerade so ungeheuer wertvoll. Es zieht alle Überlegungen in Betracht, Karl. Du Narr lehnst das ching ja gerade aus den falschen Gründen ab!“

Seine Stimme hallte durch den kleinen Raum. Die Blicke, die sie wechselten, waren zutiefst feindlich, doch bald lockerte ein beiderseitiges Einlenken die Spannung.

Gorstein lachte bitter auf. „Wenn die Menschheit jemals bestraft wurde, so war es dann, als ihr Schicksal in die Hände unsichtbarer Götter gelegt wurde.“

Ashka lächelte; sein Nicken war mehr ein Reflex als eine bewußte Bewegung. „Karl …“ Und für einen Augenblick war ihm, als schliche sich die alte Wärme wieder ein.

„Ach Peter, Peter …“ Gorstein war anscheinend ebenso durcheinander wie Ashka.

„Karl, mein Freund, mein lieber Freund. Warum kämpfen wir? Was ist los mit uns?“

„Ich weiß nicht, Peter. Irgendwas …“

Der Aeran, dachte Ashka bitter. Diese verdammte Welt, sie trennt den Freund vom Freund, den Menschen von seiner Vergangenheit, an ihr würden sie alle zugrunde gehen, wenn sie nicht machten, daß sie wegkämen, und zwar bald.

„Peter – ich bin aus einem ganz besonderen Grunde hier.“

Die Worte hingen zwischen ihnen in der Luft, kalte Worte, gesprochen mit aller falschen Wärme, wie sie Ashka seit einiger Zeit vom Schiffs-Meister nicht anders erwartete. Aus einem besonderen Grund. Nicht bloß, um dich zu besuchen oder mit dir zu reden, dir etwas zu erklären oder dich um Verständnis zu bitten – nein, aus einem ganz besonderen Grund. Dieser Mann machte einen Spott aus allem, was Ashka teuer war. Er hatte kein Mitgefühl, nicht einmal die Idee von Mitgefühl!

Gorstein hätte das ungemütliche Schweigen brechen können, doch ein nur allzu vertrauter Ton durchdrang das dünne Glas des Sichtfensters und drang an ihre Ohren.

„Da hat jemand geschrien“, sagte Gorstein mit einem Blick zum Fenster.

„Das hörte sich sehr nach … Elspeth Mueller an.“

Beide standen auf, dämpften die Beleuchtung ab, und unvermittelt wurde sie im Scheinwerferlicht sichtbar. Sie lag auf dem weichen Boden, das kurze schwarze Haar blutverklebt, die Arme ausgestreckt, die Finger schmerzvoll ins Gras gekrallt. Da sie mit dem Gesicht nach unten lag, war schwer zu sagen, ob sie noch lebte. Ein Stein lag neben ihrem Kopf, zugehauen und geschärft, ganz offensichtlich ein Wurfmesser, das von ihrem Schädel abgeprallt war, statt ihn zu durchbohren. Ashka glaubte, an ihrem Rücken zu sehen, daß sie atmete.

„Laß sie hereinholen“, sagte er; und als Gorstein keine Bewegung machte: „Karl …?“

„Warum willst du ihr helfen? Wenn die Mueller tot ist, haben wir ein Hindernis weniger auf unserem Weg – oder nicht?“

„Das ist mir nie in den Sinn gekommen“, flüsterte Ashka und sah zu dem lächelnden Gesicht des Schiffs-Meisters auf. „Willst du sie da draußen sterben lassen?“

„Sie ist schon tot.“

„Sie atmet.“

„Dann wird sie gut daran tun, damit aufzuhören“, versetzte Gorstein drohend und starrte immer noch auf den ausgestreckten Körper. Er schien zu überlegen, was zu tun war, zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen, doch sich nicht entscheiden zu können. Er sah Ashka an und blickte dann wieder weg, zurück auf die reglose Elspeth. „Was ist da zu machen?“ fragte er lächelnd. „Soll ich das ching konsultieren?“ Sarkasmus – aber nur eine Maske für die Verwirrung, derer er sich wohl bewußt war. „Jawohl, Peter. Ich würde die liebend gern ins Schiff zerren und ihr den Hals abschneiden. Aber lieber nicht. Noch nicht. Vielleicht niemals.“ Er warf Ashka einen raschen Blick zu.

Was will er bloß, fragte sich der Rationalist, und intuitiv traten Zukunftssituationen vor sein Auge, die ihn tief beunruhigten. „Du willst sie also draußen sterben lassen“, sagte er laut, ohne den Zorn in seiner Stimme zu verhehlen. „Nun, ich nicht.“

Gorstein packte ihn am Arm, daß es schmerzte, und zog ihn zum Fenster zurück. „Du wirst gar nichts tun. Sieh hin!“

Ein junger Aerani und das Mädchen, das er heute bei der Jagd gesehen hatte, zerrten Elspeth ins Dunkel.

Gorstein lächelte. „Sie meint, jetzt sei sie in Sicherheit.“ In tiefem Nachdenken, wie es schien, starrte er Ashka an. „Ob sie es ist oder nicht, das hängt weitgehend von dir ab, alter Freund.“ Doch das sagte er ohne eine Spur von Wärme.

Ashka trat in die Kabine zurück. Er fühlte sich alt, sehr alt, und angesichts der aggressiven Jugendlichkeit Gorsteins kam er sich sehr dünnhäutig und sehr zerschlagen vor.

Hol der Teufel diesen Planeten! Wenn wir nicht hergekommen wären, dann wäre nichts von alledem passiert. Ich wäre noch so lebendig und vital wie vor einer Woche. Jetzt komme ich mir mehr tot als lebendig vor. War es das, was Iondais Orakel meinte? Daß mir nur noch Sekunden übrigbleiben, weil mein Geist stirbt? Und wenn der Geist tot ist, was hat das Leben dann noch für einen Sinn?

„Was willst du von mir, Karl?“ fragte er müde.

„Eine Lesung“, erwiderte Gorstein langsam. „Eine Lesung, eine Konsultation des ching.“

Ist das alles? Habe ich zu stark reagiert? Hat mein Selbstmitleid mich veranlaßt, diesen Mann zu hart zu beurteilen?

Etwas unbehaglich sagte er: „Das ist schließlich meine Funktion hier an Bord. Was also soll ich es fragen?“

„Zweierlei“, erwiderte Gorstein. „Es soll uns sagen, was geschehen wird, wenn wir uns weigern, dem Wunsch der Kolonisten, unter Überwachung gestellt zu werden, nachzukommen; oder was geschehen wird, wenn wir ihnen diesen Wunsch erfüllen.“

Gorstein hatte noch nicht richtig zu sprechen begonnen, da sah Ashka schon, daß der Schiffs-Meister ihn täuschen wollte. Unglaublich, daß jemand so deutlich zeigen konnte, wie wenig Diplomatie er besaß. Seine Unwilligkeit, Elspeth zu retten, die Monitoren als Konfliktquelle, das ching als Werkzeug, als kraftvolles Werkzeug zur Manipulation von Menschen … alles das floß zu einem einzigen Gedanken zusammen, und Ashka erlaubte sich, ihn auszusprechen, ohne Rücksicht auf Diskretion.

„Sie hat die Monitoren vernichtet!“

Gorsteins Augen erweiterten sich kurz, dann rührte ein Lächeln echter Bewunderung an seine Lippen. „Mein Gott, Peter, manchmal grenzt deine Intuition an schieren Genius.“

Ashka war erschüttert. „Sie muß verrückt gewesen sein.“

„Hingabe an ihre mißverstandene Beschützeridee. Wer für Gerechtigkeit ist, den soll man nicht verrückt nennen, Peter.

Ich bewundere ihren Mut und ihre Entschlossenheit. Selbst eine Närrin kann man bewundern, wenn sie ihr Spiel mit kompromißloser Integrität spielt.“

„Aber sie hat uns alles kaputtgemacht“, schrie Ashka. „Die Aerani, das Schiff, alles …“

„Nicht alles“, erwiderte Gorstein ruhig. „Um die Kolonie kümmere ich mich nicht mehr. Das ist nicht mehr nötig. Aber um uns mache ich mir Sorgen, um dich, um mich, um die Besatzung, um das Schiff … und hier wirst du gebraucht.“

„Weiter!“

„Bis jetzt wissen nur ich – und du – was passiert ist – ein glücklicher Umstand, der nur darauf zurückzuführen ist, daß ich gesehen habe, wie die Mueller von Bord ging. Aber wenn es die Besatzung merkt, dann wird’s mir sehr heiß unterm Hintern. Und noch schlimmer wird es natürlich, wenn sie herausbekommen, daß die Kolonisten bereit waren, sich implantieren zu lassen. Und das werden sie wahrscheinlich bald herausbekommen, denn die Kolonisten werden hier bewaffnet aufkreuzen, um die ‚Knochen-Geister’ zu fordern, die wir ihnen versprochen haben.“

„Glaubst du, sie haben Elspeth Mueller umgebracht, weil sie einmal zu oft gegen die Implantation geredet hat?“

Gorstein zuckte die Achseln. „Das ist durchaus möglich. Entweder das, oder sie hat ihnen gesagt, was sie mit ihren geliebten Geistern angestellt hat.“

„Und was sollen ich und das ching dazu tun?“

„Es sind zu viele Leute an Bord, als daß ich einfach sagen könnte: Kommando zurück; wir verlassen den Aeran und nehmen die Monitoren mit. Ich werde beweisen müssen, daß dieses Vorgehen das beste für alle Beteiligten ist. Daher möchte ich, daß du dem ching diese Fragen in Gegenwart einiger Besatzungsmitglieder stellst.“

„Nichts einfacher als das“, stimmte Ashka zu. „Doch erstens, da die Monitoren tot sind, wird die Antwort sinnlos sein, und das wird man auch merken. Zweitens: wie gedenkst du den Verlust der Monitoren zu erklären?“

„Dieser Verlust braucht nicht so bald entdeckt zu werden. Mir kommt es jetzt in erster Linie darauf an, eine Meuterei zu vermeiden – nicht so sehr die Folgen der fehlgeschlagenen Mission.“

„Das heißt …“

„Das heißt, daß dieses Schiff den Aeran nie verlassen wird. Wie könnten wir starten und uns den Konsequenzen stellen?“

„Sondern?“

„Wir siedeln uns hier friedlich an“, entgegnete Gorstein und deutete in die Dunkelheit hinaus. „Aber dazu muß ich die Besatzung auf meiner Seite haben, und ich brauche dich, um sie auf meine Seite zu bringen. Sobald das geklärt ist, kann ein Unfall arrangiert werden, der den Lagerraum und das Hauptantriebsaggregat zerstört. Ich habe mich damit abgefunden. Du solltest das auch tun.“

„Obwohl wir wissen, daß die Antworten, die wir bekommen, nicht die sein werden, die du brauchst?“

Gorstein lachte ärgerlich auf. Er ging zur Tür und blieb dort stehen, mit dem Rücken zu Ashka. „Ich glaube, du hast einen sehr wichtigen Punkt übersehen, Peter. Die Antwort wird lauten, daß wir die Mission abbrechen sollen, zum Besten von uns allen. Es ist deine Sache, daß wir die richtigen Antworten kriegen. Verstehst du jetzt?“

Da Ashka schwieg, wandte Gorstein sich um. Ashka blickte von seinem Gesicht (das bleich vor Wut war) zu der winzigen Nadelpistole, die der Mann in der Hand hatte – und dann hob Gorstein den Arm und visierte über den kurzen Lauf direkt auf Ashkas Magen. „Hast du verstanden?“ wiederholte er.

„Ich habe verstanden, was du gesagt hast“, erwiderte der Rationalist so gelassen, wie es ihm möglich war, „aber ich kann natürlich nicht tun, was du sagst.“

Der Raum verschwamm vor seinen Augen, alles verwackelte, alles verzerrte sich. Unerträglich juckend rann ihm Schweiß – Angstschweiß – den Rücken hinab.

Gorstein schüttelte den Kopf und lachte. „Gestatte, daß ich anderer Ansicht bin. Das ching, wie krückenhaft es auch sein mag, ist immer noch ein kraftvolles Werkzeug auf diesem Schiff. Die Mannschaft wird, wenn du sie überzeugst, seine Aussagen akzeptieren.“

„Ich kann es nicht, Karl. Wenn ich dem ching diese Fragen stelle, wirst du die Antworten erhalten, die es gibt, und keine anderen. Dagegen kann ich nichts tun.“

„Du kannst etwas tun, und das heißt Fälschung. Fälschung“, bekräftigte er, offensichtlich wütend, weil der Rationalist sich weigerte, seine Ideale für ein paar Minuten beiseite zu schieben. „Das ist ein elegantes Wort und ein wirkungsvolles Konzept. Du kannst die Antworten fälschen. Du wirst die Antworten fälschen.“

Langsam schüttelte Ashka den Kopf. „Tut mir leid, du verlangst zuviel von mir. Setze auf deinen Irrtum nicht noch obendrein eine Dummheit, Karl. Bitte, tu es nicht.“ Auf einmal war er sehr gelassen, und sehr traurig über den Schiffs-Meister. Wenn er doch in Gorsteins Kopf sehen könnte, um die Angst, die dort lauerte, mit den Wurzeln herauszureißen und zu verjagen! Hatte auch bei Gorstein schon der Zerfall eingesetzt, wie bei ihm, Ashka, und bei ein paar Mann von der Besatzung? Oder war der Schiffs-Meister einfach zu gefühlsstumpf, zu sehr an das bewegende Jetzt der Gegenwart gekettet, um von der Erosion seiner Vergangenheit etwas zu merken? Es war schade um ihn, schade, daß die Umstände sie so auseinandertrieben. Er wußte, daß er Gorstein helfen könnte, wenn dieser sich nur helfen lassen wollte. Gorstein würde ihn nicht töten. Soweit war der Zerfall ihrer Freundschaft noch nicht vorangeschritten, dessen war Ashka sicher. Und außerdem – was hätte der Schiffs-Meister davon? Und weiterhin: Das ching hatte ihm zwar gesagt, daß sein Tod nahe sei – aber nicht so nahe.

Also blickte er Gorstein gelassen ins Auge. Sein Kopf war jetzt ganz klar; das verzerrte Gefühl von Panik war so plötzlich verschwunden, wie es gekommen war.

„Ich bedaure deine Entscheidung, Peter“, sagte Gorstein traurig. „Ich bedaure sie sehr.“

Ashka lächelte. „Das brauchst du nicht. Komm, setz dich hin, wir wollen es durchsprechen. Bitte, Karl.“

Gorstein schüttelte den Kopf. Eine Sekunde lang schimmerten seine Augen feucht, aber das ging vorbei, und sie wurden wieder hart. „Zum Reden ist keine Zeit mehr, Peter. Du bist mir zu gefährlich, als daß ich dich am Leben lassen könnte, wenn du nicht mitmachst. Das verstehst du doch …?“

„Es besteht kein Grund, unseren gegenseitigen Respekt so sinnlos zu mißbrauchen, Karl.“

„Eine letzte Chance, Peter, eine letzte Chance. Bitte tu, was ich will.“

„Ich kann nicht, Karl. Bitte setz dich hin und bedenke, was …“

Der ganze Raum bebte. Ein donnernder Schlag. Finsternis. Etwas preßte gegen seinen Rücken, wollte ihn zerquetschen, doch er stand anscheinend noch. Der Druck ließ nach. Der Donner verklang.

Stille.

Hatte es eine Explosion gegeben? Hatten die Aerani angegriffen? Wo war Gorstein? War er tot? Bewußtlos?

Ashka versuchte, im Halbdunkel etwas zu sehen. Langsam hörten seine Sinne auf zu wirbeln, er konnte wieder klar sehen (es war auch gar nicht dunkel in der Kabine), und er wußte wieder, wo er war.

Was gegen seinen Rücken gedrückt hatte, war die Wand gewesen. Das Donnern war die Detonation des Nadelrevolvers. Er saß an der Wand, die Beine vor sich ausgestreckt. Es roch … nach verbranntem Protein … wie ein gebratenes synthetisches Steak … ein voller, blutiger, mundwässernder Geruch …

Er wollte aufstehen.

Nichts.

Er senkte den Kopf und starrte auf seinen Leib.

Aus dem Loch in seinem Leibe rauchte es. Eine glitzernde grünblaue Schlange schlängelte sich langsam aus diesem Loch und rollte sich in seinem Schoß auf.

Das ist der Tod, dachte er. Der Augenblick der Finsternis, das Erlöschen des Geistes.

Er war ganz ruhig. Blut floß, das Herz schlug. Sein Hirn schloß sich zu, die Jalousie fiel, und sein Denken bereitete sich auf das Ende seiner Existenz vor.

Ein einzelner Gedanke drängte sich vor: sieben Monate!

Und sofort zog er sich aus dem Wirbel des Todes heraus, schärfte seinen Blick, belebte den schon gestorbenen Teil seines Bewußtseins. Es war noch nicht so weit, daß er sterben mußte! Sein Tod war erst in sieben Monaten fällig, und daher konnte er jetzt nicht sterben!

Er fühlte den Schmerz und mußte schreien, doch er verschluckte den Schrei und konzentrierte sich wieder, diesmal auf die verzweifelt schwere Aufgabe, am Leben zu bleiben. Er schloß seine Gedanken von der Umgebung ab (Dunkelheit, Kälte, das Zurücktreten vertrauter Gegenstände); er regelte seinen Herzschlag. Er war langsam, doch nicht langsam genug. Er zwang sein Herz zu schleppenden, aber starken Schlägen. Er tauchte tiefer in sein Denken, betrieb Tief-Konzentration nach der Methode, die er gelernt hatte, brachte seine vegetativen Funktionen unter Kontrolle, soweit es seine schwache Kraft erlaubte. Er ließ die Blutgefäße um die klaffende Wunde sich zusammenziehen; das Blut strömte nicht mehr, sondern tröpfelte und versiegte dann gänzlich. Er aktivierte das Mark in seinen Knochen; Hormone flossen durch seinen Leib, beruhigten hier, regten dort an …

Er begab sich in seinen Leib und inspizierte den Schaden.

Eine zerrissene Magenwand, eine zerfetzte Niere, die Lunge beschädigt, die Leber angekratzt, irreparabel zerrissene Nerven am linken Bein und an der linken Seite … und noch viel, viel mehr – aber das war alles nicht so schlimm wie die Organschäden. Er kniff die zerfetzte Niere ab, spannte die Muskeln längs des Magenrisses an; mehr konnte er nicht tun, doch er fühlte, daß es genug war. Der Prozeß des Sterbens war aufgehalten, bestimmt – lange genug, daß jemand ihn finden und ihm erste Hilfe leisten würde, bis er ins Lazarett geschafft werden konnte.

Jetzt entspannte er sich, immer noch in tiefer Konzentration, aber unbesorgt.

Er hatte sich das Leben gerettet, und nur durch das ching. Hätte er nicht gewußt, daß die Zeit seines Sterbens noch nicht da war, wenn er sich nur Mühe gab, dagegen anzukämpfen, dann hätte er sein Leben verrinnen lassen; oder wenn er sich gegen Gorstein gewehrt hätte, dann besäße er vielleicht nicht mehr die Fähigkeit oder die Entschlußkraft, die Reserven seines Geistes voll einzusetzen …

Er wünschte, er könnte Gorstein sagen, was bei seiner Tat herausgekommen war: daß der Mordversuch gerade die absolute Gültigkeit des ching bewiesen hatte …

Er wünschte, er könnte Gorsteins Gesicht sehen, wenn dieser feststellen mußte, wie sich dieser schmächtige Asiat ans Leben klammerte. Gorstein würde seine Ansicht ändern, nicht wahr? Er würde zugeben müssen, daß er sich geirrt hatte …

Daß er sich geirrt hatte!

Daß er unrecht gehabt hatte!

Daß …

Ashkas Herz fing an zu rasen, gegen seinen Willen.

Schwärze verschlang ihn. Er bildete sich ein, Gorstein lachen zu hören; das zerrte an seinem Gehörnerv. Ein machtvoller Wind summte in seinem Kopf. „Nur noch Sekunden …“

Nicht die Sekunden von sieben Monaten, sondern Sekunden … ein paar Minuten, ein paar Stunden … ein Orakel, das ins Absolute schauen konnte, hatte seinen absoluten Tod innerhalb von Minuten nach der Voraussage vorausgesagt.

Und alles nur, weil er gezweifelt hatte.

Er hatte nur ein paar Sekunden lang am ching gezweifelt, es war wirklich nur ein vorübergehendes Gedankenflimmern gewesen. Aber er hatte gezweifelt. Im Zweifel lag Veränderung; Fragen bedeutete, Alternativen zu setzen; Alternativen konnte man folgen oder gegen sie ankämpfen; er hatte gewußt, daß sein Tod fällig war, und hatte es akzeptiert. Doch dieser Augenblick des Zweifelns hatte seine Beziehung zum ching verändert, sein eigenes Leben hatte sich gegabelt … er hatte einen Weg eingeschlagen, den das ching von vornherein abgelehnt hatte; ein alternatives Leben, in dem er unmittelbar vom Tode bedroht war, wenn er Gorstein nicht gehorchte.

Hätte er einen Schrei zustande gebracht, so hätte er geschrien. Wie die Dinge lagen, blieb er still und stieg wieder in seinen Körper hinunter. Er war deprimiert, doch vielleicht zum erstenmal in seinem Leben erfaßte er, wie wahrhaft subtil das Orakel der Wandlungen war und wie verhängnisvoll dieser Augenblick des Interessenkonflikts vor ein paar kurzen Minuten gewesen war. Er lockerte die angespannte Todeskontrolle und ließ das Leben mit dem dunkelroten Blut, das sein Wille bis jetzt abgedämmt hatte, aus seinem Körper rinnen.