13

 

Sie rannte den steilen Abhang hinauf, packte das dürre Gras und zog sich die scharfe Kante hoch. Was jenseits der Kante war, konnte sie nicht sehen, doch sie wußte, wenn sie es schaffte, über den Hügelkamm zu gelangen, war sie in Sicherheit. Irgendein fremdartiges Wesen war hinter ihr her, verfolgte sie. Sie konnte es hören und hatte Angst. Es atmete eisig. Eine Sekunde lang war ihr, als würde sie ganz starr, und sie versuchte verzweifelt, ihren Leib über die letzten paar Fuß des Grates zu ziehen; doch sie war wie gelähmt, bewegungsunfähig. Das furchtbare Wesen hinter ihr rief ihren Namen, kam heran, um ihr den Rest zu geben. Dann fiel ein Donnerschlag, tief, dröhnend – und sie sah auf. Eine Säule aus eisigem weißem Schnee erhob sich über dem Grat, bereit, sich auf den Hügel zu ergießen und sie zu verschlingen. Sie schrie auf, doch eine Sekunde später schoß die Lawine seitwärts und abwärts hervor, hüllte sie ein, begrub sie, trug sie hinab in ein bitterkaltes Grab. Schnee drang ihr in Nase und Mund, machte sie husten und würgen, riß ihr Arme und Beine auseinander, drang unter die Kleidung, haftete auf der Haut, so daß sie langsam erstarrte.

Vor ihr tanzte etwas in der Luft. Eine Doppelspirale, zu einer Dreiecksform verbunden. Das Ornament schwebte vor ihren Augen, drehte sich erst links-, dann rechtsherum. Sie griff danach, spürte mächtige, freundliche Wärme, doch das Gebilde entzog sich ihr, blieb außer Reichweite. Sie rannte hinterher, rief es an, doch das fremdartige Ding tänzelte hierhin und dorthin, entglitt ihr immer wieder, wenn sie es berührte. Finsternis drohte hinter ihr, der Schatten irgendeines furchtbaren, abseitigen Wesens, einer grauenerregenden Kreatur, die sie verschlingen wollte; sie floh davor, jagte dem Schatten der Spirale nach, streckte flehend die Arme aus, doch das Gebilde glitt wiederum hinweg, verschwand in der Ferne, und der kalte Atem des scheußlichen Wesens hinter ihr berührte ihren Nacken, nagelte sie fest …

 

Ein junger Mann starrte hinunter in ihr Gesicht. Hinter ihm stöhnte ein Ungeheuer, das sie nicht sehen konnte, laut und schreckenerregend auf, als wollte es sie verschlingen. Sie schrie, doch der Jüngling faßte zu und drückte sie zu Boden; ein kühler Stoff berührte ihre Stirn, und sie sah ein lächelndes Mädchen. Wieder stöhnte das Unwesen; sein eisiger Atem jagte ihr einen Schauer durch den Leib. Der Junge nannte sie beim Namen …

„Sie kommt wieder zu sich“, sagte das Mädchen.

„Elspeth – geht es dir besser?“

„Darren?“

Sie fuhr auf aus ihrem Alptraum; Dunkelheit und Eiseskälte entschwanden so schnell wie der Wind. Das Stöhnen war immer noch zu hören, doch es war weit weg. Es war kalt. Sie befanden sich in einer kleinen Felsenhöhle. Eine einzelne Fackel warf ihren unsicheren Schein auf die Kanten und Zacken des Felsens. Ihr Gesicht war heiß. Sie betastete ihre Wangen. Fieber, dachte sie. Und: Wo bin ich?

„Ich dachte, du stirbst“, sagte das Mädchen.

„Moir“, rief Elspeth und umarmte sie. „Irgend etwas hat mich getroffen … als ich wegrannte …“

„Das hier“, sagte Darren und hielt das behauene Quarzmesser hoch. Die winzigen Kristalle des Steins glitzerten im Fackellicht. Das Messer war unvollkommen zugehauen, doch anscheinend war es ihm wertvoll, denn er hielt es vor ihr hoch, ließ es jedoch nicht los, als sie danach griff und es nehmen wollte.

„Vor ein paar Tagen habe ich mein Kristallmesser verloren“, sagte er, „jetzt habe ich Ersatz. Du hast Glück, daß du noch lebst, Elspeth.“

„Das will ich gern glauben“, antwortete sie. Sie berührte die wunde Stelle am Kopf, spürte verkrustetes Blut und eine schmerzhafte Beule unterm Haar. „Wo sind wir übrigens?“

„In einem Tunnel nicht weit vom crog. Wir sind schon zwei Tage hier.“

„Zwei Tage!“

„Es kommt einem länger vor“, sagte Moir lächelnd. „Du hast geschrien und um dich geschlagen. Du bist sehr schwer zu pflegen.“

„Und ich bin fast verhungert“, sagte Elspeth laut, als ihr das auf einmal klar wurde. „Wer erjagt mir was?“

„Ich“, sagte Darren, „aber erwarte nicht zuviel. Eine ganze Menge von meinen Leuten suchen uns – und auch ein paar von deinen. Ich muß mich vorsehen.“

 

„Der crog hat seine Tore geschlossen“, erzählte Moir. (Darren war schon eine Weile weg, und Elspeth wollte unbedingt wissen, wie die Dinge draußen standen.) „Und das Schiff ist weg. Es ist an dem Tage abgeflogen, als wir dich vor den Aerani-Kriegern gerettet haben. Die Aerani haben anscheinend große Angst, aber sie suchen das Land ab, um uns zu töten. Drei von deinen Leuten sind hiergeblieben. Zwei junge Krieger und ein älterer schwarzhaariger. Er ist der Führer. Wir drei sind jetzt wohl Verbannte.

Ich glaube nicht, daß die vom crog noch viel länger nach uns suchen werden, aber wir müssen uns vor den drei anderen vorsehen. Sie streifen jetzt in den Bergen umher, aber ich glaube, sie suchen nach dir. Darren glaubt auch, daß zwei oder drei ältere Krieger den crog verlassen, um ehrenvoll im Schneeland zu sterben; und auch die werden nach uns suchen, wenn sie gehen. Daher meine ich, wir sollten so weit wie möglich von hier weg. Darren will die Marsch erkunden und sehen, was für Land dahinter liegt. In den Bergen dürfen wir uns vorläufig nicht mehr sehen lassen.“

 

„Nein“, sagte Elspeth. Darren hörte auf zu essen und blickte sie scharf an.

„Du wirst tun, was ich sage!“ rief er böse.

„Ich denke nicht daran. Und Moir auch nicht. Nicht wahr, Moir?“

Moir war nicht wohl bei diesem Disput; sie drehte und wand sich, als Darren aufsprang und auf sie hinunterstarrte. Er schien nicht übel Lust zu haben, sie zu schlagen, doch Elspeth forderte ihn auf, sich zu beruhigen. Er sah sie finster an, wurde aber dann wieder friedlicher. „Wir machen es so, wie ich es sage“, wiederholte er jedoch.

„Tut mir leid, Darren“, entgegnete Elspeth gelassen, „aber ich meine, jetzt bin ich nicht mehr eine von euch. Ich bin jetzt wieder ich – Elspeth Mueller, eine Fremde vom Himmel. Und ich nehme von niemandem Befehle an, sei es Mann oder Frau. Und, Darren … ich werde auch nicht versuchen, Befehle zu geben. Ich gehe in die Berge, und wenn du und Moir mitkommen wollt – bitte sehr. Aber als Gleiche unter Gleichen, anders tue ich es nicht. Gleichberechtigung.“

„Ich gehe mit dir“, sagte Moir und starrte Darren an, der von einer zur anderen sah. Dann grinste er etwas verlegen.

„Na schön“, sagte er schließlich, „dann gehe ich voran.“

„Weißt du denn den Weg?“ fragte Elspeth.

„Ja, immer nach oben“, lachte er höhnisch. Elspeth lächelte zurück und erwiderte dann: „Ich will zur Erdwind-Höhle. Weißt du den Weg dorthin?“

Darren war offensichtlich schockiert. Moir starrte Elspeth mit großen Augen an.

„Was willst du denn da?“ fragte sie.

„Du bist verrückt“, fuhr Darren dazwischen, „dort traut sich nur Iondai hin.“

„Ich traue mich auch hin“, versetzte Elspeth und studierte die Schreckensmienen ihrer jungen Freunde mit einem gewissen Gefühl von Distanziertheit.

„Aber da sind Geister. Der Erdwind spukt in der Höhle. Wir sterben da, Elspeth!“ Moir sah ganz verzweifelt aus. Das wunderte Elspeth, denn sie hatte geglaubt, Moir sei viel zu jung, um die kultische Bedeutung der Symbole zu erfassen.

„Wenn wir sterben, sterben wir eben“, erwiderte Elspeth. „Ich bin fest entschlossen, hineinzugehen. Mit oder ohne euch. Also nochmals, Darren – weißt du den Weg?“

Darren schüttelte den Kopf, langsam, offenbar immer noch voller Angst vor dem, was sie vorhatte. „Ein paar Meilen weiter ist ein Hochland; von da aus kannst du die Höhle sehen. Es kann nicht so schwierig sein, hinzukommen. Aber ich finde immer noch, das ist keine gute Idee. Wir sollten lieber nach dem Wolken-Tal gehen … die Legende sagt, dahinter ist ein großer See, der um den ganzen Weltball herumreicht, bis seine Wellen auf der anderen Seite des Waldes gegen das Marschland schlagen.“

„Da können wir ja später hingehen“, beharrte Elspeth. „Jetzt will ich erst zu dieser Höhle …“

 

Einen flüchtigen Augenblick lang hatte sie es erfaßt – den Erdwind, den Sinn, der hinter diesem komplexen Felsrelief steckte, ein Verstehen dessen, was es gewesen war und immer noch war. Lebhaft erinnerte sie sich an das knisternde Feuer, die geisterhaft schwebenden Lieder von Erde und Wind – sie glaubte, die Männer wieder streiten zu hören, und sie erinnerte sich auch an die Laute ihres eigenen Körpers: Herzklopfen, Magenknurren und ein geisterhaftes Pfeifen, das ihren Kopf erfüllte, aber nicht die Luft … und an den Augenblick des Verstehens – und dann an einen sterbenden Mann und an Darrens Flucht aus dem crog.

Ein Bruchteil dieser Minuten war ihr verlorengegangen, ein Bruchteil nur, aber der Bruchteil. Sie hatte ihre eigene Einsicht vergessen – diese hatte nicht Zeit gehabt, sich den permanenten chemischen Kommunikationsrezeptoren ihres Hirns einzuprägen. Ein Flirren wie von elektrischen Entladungen, und dann – der Mord, die Flucht, die Panik – das lief ab in den zarten Strukturen, mit denen sie intuitiv jenes Symbol erfaßte, das zum zentralen Anliegen ihres Lebens geworden war.

Brutalität und Einsicht, dachte sie bitter, und suchte verzweifelt nach einem Epigramm, einer kurzen, verbitterten Formel, mit der sie ihre Gefühle von der Beziehung zwischen diesen beiden Dingen auf kristallklare und zugleich reinigende Art ausdrücken konnte. Doch zu ihrer zornigen Beschämung fiel ihr nichts ein; nur etwas, das anfing Wie doch im Leben … und sie zuckte unwillkürlich bei dieser abgedroschenen Phrase zusammen, doch es war nicht die Abgedroschenheit, die sie beunruhigte …

Im Leben? Es gab kein Leben mehr, an das sie sich erinnern könnte, keine Ereignisse, die dem Routineablauf Frische und Substanz verliehen. Das Leben war weg, die Vergangenheit, dunkel und inhaltslos, war ein Gespenst – eine Leere – Stimmen, Szenen, Gesichter, Echo und Widerhall, durcheinander, verrückt, sinnlos. Alles war weg, nur ihr Besuch auf dem Aeran, alles was sie dort erlebt hatte, der Erdwind, Gorstein und seine aggressive Sexualität, ein vages Gewebe aus Tatsachen und Szenerie, das Newgrange hieß, ein Erlebnis auf der Erde (Ich erinnere mich an die Erde!), ein Grab – bedeutungsvoll, aber nur noch schwach in ihrem degenerierenden Hirn bewahrt, nur weil es das Symbol enthielt und daher in ihrem verengten Gesichtsfeld geblieben war.

Geräuschvoll kauten Darren und Moir auf den Fladen aus Felswurzel-Schwämmen herum – Darren hatte sonst nichts Eßbares gefunden. (Darren beobachtete Elspeth mit zornigen Augen; Moir schien für nichts anderes als die Stillung ihres Hungers Interesse zu haben); so konnte sich Elspeth mit der Tatsache vertraut machen, daß der Aeran sie erwischt hatte, daß er alles eliminiert hatte, was ihr teuer war, und daß er nur darauf wartete, in ihre Neuronen hineinzukriechen, alles auszureißen, was er in den vergangenen paar Wochen allenfalls übersehen hatte.

Wie ruhig sie dabei war. Wie allein, wie tot – und doch wie völlig ruhig. Ihr Leben war fast nicht mehr da, und doch ging das Leben weiter, als seien mit dem Leben, das sie verlor, auch alle Gründe zum Angsthaben aus ihrem Organismus ausgeflossen.

Indem sie absichtlich nicht an ihre Kindheit und Jungmädchenzeit dachte, erkannte sie, daß die Jahre ihres Lebens mit verwischten Bildern von Nirgendwos und Niemands vollgestopft waren, und das veranlaßte sie zu der falschen Annahme, daß eigentlich alles in Ordnung sei. Bei jedem Versuch, Details zu sehen, stieß sie ins Leere. Ihre ganze Vergangenheit bestand aus dem gleichen unbestimmten Gewebe, das ihr gegenwärtiges Gesichtsfeld abgrenzte: Farben und Schattierungen, Bewegungen und Formen, die sie auf keine Weise definieren oder identifizieren konnte, die jedoch ein Gefühl der Vollständigkeit, der Wirklichkeit erzeugten.

Diese Illusion bewahrte ihr die Vernunft, half ihr, mit einer Situation fertig zu werden, in der sie eigentlich schreiend zum Ufer des Flusses hätte rennen müssen, dessen tiefe, eisige, dunkle Wasser eine ganz eigenständige Lösung aller Probleme bereithielten.

Sie sank in Schlaf. Das Essen lag ihr schwer im Magen und stieß ihr mit aggressivem Nachgeschmack auf. Bei dem fernen jaulenden Schrei irgendeines gewichtigen Tieres sträubten sich ihr am ganzen Körper die Haare vor Angst, daß es knisterte. Sie bildete sich ein, das Untier krieche durch die unterirdischen Kavernen zu ihr hin, schnüffelnd, witternd, sein unerbittliches Nahen mit dröhnendem Ruf ankündigend. In panischer Angst riß sie die Augen auf und starrte in die beleuchtete Ecke der Höhle. Die zierliche Moir zitterte heftig vor Kälte. Als Elspeth sich aufrichtete und das Gesicht verzog, weil der Schmerz der verletzten Kopfhaut ihr durch den ganzen Körper schoß, grinste Moir sie vergnügt an und sagte: „Darren ist dort unten.“

„Wo?“

Moir blickte in die Richtung, aus der das Tiergebrüll kam, einen engen, niederen Gang hinunter. Elspeth schüttelte die letzten klebenden Reste ihres Schlafes ab und erkannte, daß es sich um ein physikalisches, nicht um ein biologisches Geräusch handelte. Wind?

„Dort unten“, erläuterte Moir, „beim Lied der Erde.“

„Ist das das aeranische Orakel – dieser Ton?“ fragte sie erregt.

„Das Lied der Erde, ja. Es bläst aus einer Höhle nahe beim crog, und Iondai befragt es, wenn er etwas über die Zukunft wissen will. Am Tage nach deiner ersten Jagd hatten wir es dir gezeigt.“ Trauer klang aus ihrer Stimme und das Gedenken an die glücklicheren Stunden vor der Ankunft der Jenseitler.

„Iondai befragt den Wind? Wie macht er das?“

Moir wunderte sich offensichtlich, daß Elspeth ausgerechnet jetzt so interessiert war. „Er stellt sich oben hin und spricht zu ihm“, sagte sie achselzuckend.

„Und Darren tut das jetzt auch?“

„Nein“, sagte Moir, überrascht, daß Elspeth sie nicht verstanden hatte. „Nein, er wartet bloß, daß es schwächer wird, damit wir durch den Gang nach oben gehen können. Er sagt, er hat gehört, daß es weiter oben noch mehrere Gänge gibt, und der Wind kommt nur durch einen. Aber sie führen alle in die Berge hinauf, und wir können sie benutzen, um den Jägern in den Rücken zu kommen.“

Neugierig verließ Elspeth die Höhle und kroch in den Gang, dem sausenden Wind entgegen. Das Brausen wurde immer ohrenbetäubender, je weiter sie kam, und erstarb dann plötzlich. Elspeth zögerte und fragte sich, was da geschehen sein mochte; da sah sie Darren, der ihr entgegenkam. Mißtrauisch musterte er die Gestalt, die da im Halbdunkel vor ihm stand, und erkannte Elspeth. „Hol Moir“, sagte er, „wir haben vielleicht nicht viel Zeit.“

„Hier bin ich schon“, rief das Mädchen, und Elspeth sah, daß Moir ihr in den Tunnel nachgegangen war (vielleicht weil sie Angst gehabt hatte, allein in der Höhle zu bleiben) und daß es das Licht ihrer Fackel gewesen war, das sie hinter sich bemerkt hatte. Moir übergab Darren die Fackel, der mit ihr voranging. Moir schulterte den Lederpacken mit dem übriggebliebenen Essen. Elspeth wollte helfen, doch das lehnte Moir ab. „Wenn er schwerer wird, dann ja“, sagte sie, „jetzt ist es noch nicht nötig.“ Elspeth bemerkte, daß Moir immer noch den kleinen Beutel aus Schwarzflüglerleder um den Hals trug.

Sie gingen wieder zum Haupt-Windkanal, und Darren trat vorsichtig in den breiten, niedrigen Gang, blieb einen Moment mit vorgehaltener Fackel stehen und blickte in den Rachen des Tunnels. Elspeth sah auf der anderen Seite einen schwachen Lichtschimmer.

„Das ist das Orakel“, flüsterte Moir. „Wenn Iondai dort unten ist, kann er vielleicht die Fackel sehen.“

„Hast du das gehört, Darren?“ fragte Elspeth.

„Iondai interessiert mich gar nicht“, erwiderte Darren mürrisch, doch er senkte die Fackel so weit, daß sein Körper das Licht zum anderen Ende des Ganges hin abschirmte. „Kommt weiter.“

Er schritt voran über den steinigen Boden. Moir jammerte, weil es so naß war, und wenn sie ärgerliche Schreie ausstieß oder platschend in eine Pfütze trat, wurde ihr Bruder böse.

Elspeth fand es lästig, daß der Gang so niedrig war, doch sie blieb ruhig und gab sich Mühe, immer tiefgebückt zu gehen. Ein kalter Wind, nicht stark, aber unheildrohend, blies ihnen entgegen, kühlte den Schweiß, machte sie aber auch heftig schauern. Das Licht hinter ihnen schwand. Der Tunnel vor ihnen wollte kein Ende nehmen. Der Wind wurde stärker, schwoll an und ab wie das schwere Atmen eines Schläfers in Alpträumen. Wenn der Wind Sturmesstärke erreichte, würde er sie wie Treibgut in den Gang zurückblasen, gegen Wände und Decke schleudern, bis ihre Leiber mit zerbrochenen Knochen ins Freie hinausgespien wurden …

Diese Vorstellung – zerbrochene Leiber im Sturm – kam ihr irgendwie vertraut vor – ein kurzer Stich verzweifelten Schmerzes –, aber es ging rasch vorbei. Nur so eine irrationale Angst, dachte sie.

Ein bitterkalter Windstoß warf sie alle drei zurück. Moir schrie auf, als die Fackel erlosch und sie plötzlich im Stockfinstern standen.

„Es kommt wieder“, kreischte das Mädchen.

„Sei still“, schrie Darren, „und lauf!“

Elspeth, im Moment starr vor Ratlosigkeit, hörte seine Schritte in der Ferne verhallen. Sie stieß sich von der Wand ab und rannte hinterher. Sie stolperte über Moir, die zitternd am Boden hockte, half dem Mädchen auf und zog sie mit sich.

„Komm doch zurück“, flehte Moir, „das hat doch keinen Zweck …“

„Los, kommt doch!“ schrie Darren, schon ziemlich weit weg.

„Wir kommen!“ rief Elspeth. „Such die Abzweigung!“

Der Wind wurde nicht stärker, was Elspeth wunderte. Es war ein mächtiger Wind, sie mußten in ihrem schnellen Lauf gegen ihn ankämpfen; doch sie hatte erwartet, er würde immer stärker werden. Als er jedoch immer gleich blieb, war sie zwar verwirrt, aber ungeheuer erleichtert.

Minuten vergingen. Ihre Beine schmerzten vor Anstrengung, aber langsam wurden Moirs Schritte sicherer, und schließlich konnte sie, obwohl immer noch an Elspeths Arm, aus eigener Kraft laufen.

Plötzlich erscholl vor ihnen ein Dröhnen, wie der Ruf eines wütenden Tieres: die Stimme des wahren Windes. Eine Schockwelle, die sie bis auf die Knochen durchkältete, fuhr Elspeth durch den Leib, so daß ihr vor Angst auf einmal ganz übel wurde. Und doch rannte sie weiter, zerrte Moir mit, ohne auf ihre Schmerzens- und Angstschreie zu achten. Das Heulen, unsichtbar in der totalen Finsternis, kam ihnen immer näher …

Eine Sekunde nur, bevor es war, als würden sie von Gigantenfüßen umgerannt und von dem Entgegenrasenden zu Tode getrampelt, zogen starke Hände Elspeth aus dem Gang in eine Nische. Moir brach zusammen, und Elspeth fühlte, wie der Körper des Mädchens ebenfalls in die Nische gezerrt wurde. Also mußte Darren im letzten Moment die rettende Höhle gefunden haben.

Doch es dauerte noch ein paar Sekunden, bis der Sturm in voller Stärke an ihnen vorbei ins Freie fuhr; das Donnerbrausen wollte nicht aufhören, es tastete mit suchenden Fingern in die Nische hinein, um diese elenden Menschlein aus ihrem sicheren Schlupfloch zu kitzeln …

Unvermittelt war es vorbei und hinterließ eine betäubende Stille. In ihren Ohren läutete es, ihre Leiber schauerten, ihre Schädel waren voller Echo und Widerhall und Geschrei und Keuchen – doch es war alles nur Einbildung …

Moir tastete in der Finsternis nach Elspeth.

„Knappe Sache“, bemerkte die Jenseitlerin mit einem Grinsen, das niemand sehen konnte. „Ich glaube, so etwas Aufregendes habe ich noch nie im Leben mitgemacht … aber so aus dem hohlen Bauch kann ich mich nicht erinnern … das soll ein Scherz sein. Doch den wird wohl niemand verstehen … und wenn … komisch ist er sowieso nicht.“

Dann starrte sie eine Zeitlang in die Finsternis und fragte schließlich: „Na, Darren – wohin jetzt?“

Aber aus der Gegend, wo sie den jungen Mann vermutete, kam kein Laut.

„Darren?“

„Da kommt jemand aus dem Tunnel – horch mal!“ keuchte Moir.

Schritte auf dem nassen Stein, schmerzvolles Atmen drangen an ihr Ohr; sie trat hinaus in den Gang und starrte in die Schwärze. „Wer ist da?“

„Ich bin’s.“ Darrens Stimme. Es klang, als sei er erheblich verletzt.

„Wo warst du denn? Warum bist du hinausgegangen?“

„Wo hinaus?“

„Hier aus der Höhle. Was ist los mit dir, Junge?“

„Ich habe mich an einem Felsvorsprung festgeklammert, das ist los mit mir“, schrie er wütend. Dann fiel er schwer gegen Elspeth; sie stolperte, als sie ihn halten wollte. Sie zerrte seinen plötzlich schlaff gewordenen Körper und legte ihn hin, tastete nach seinem Gesicht und fühlte dickes Blut fast überall in seiner Körperbehaarung. „Heiliges tao – was hast du denn angestellt, Darren?“

„Ich konnte nirgends unterkriechen“, keuchte er. „Als der Wind kam, wurde ich rückwärts gegen einen Felsvorsprung geblasen, und da … da hielt ich mich eben fest. Ich bin müde. Wirklich.“

„Was denn, du hast die Nische nicht gefunden?“ fragte sie das unsichtbare Gesicht. Ihre Miene (wenn sie jemand gesehen hätte) war völlig ausdruckslos.

„Ich muß sie verfehlt haben. Ich bin um die … Ich muß jetzt ein bißchen schlafen.“

„Ja – leg dich lang und mach die Augen zu.“

Elspeth hockte sich wieder hin und starrte ins Nichts. Wenn nicht Darren – wer war es gewesen? Wer hatte in dieser Nische gekauert und sie keuchend, schreiend, in panischer Angst heranrennen hören und Mitleid mit ihnen gehabt?

„Moir?“

„Hier bin ich. Elspeth, an der Hinterwand ist ein Gang.“

Sie kroch in die Richtung von Moirs Stimme. Ja, gewiß, das war nicht nur eine flache Nische in der Wand, das war der Anfang eines Tunnels, der im Winkel vom Hauptgang abzweigte.

Wer immer sie gerettet haben mochte, hatte sich bestimmt durch diesen Gang entfernt; er mußte hier Bescheid wissen. Es kam Elspeth gar nicht in den Sinn, daran zu zweifeln. Instinktiv wußte sie, daß sie diesen Weg nehmen mußten.

Darrens Wunden waren zahlreich, aber nicht tief, und obwohl er beinahe am ganzen Oberkörper zerschunden war, wollte er sich seine offensichtlich großen Schmerzen nicht anmerken lassen, als sei es ein Zeichen von Schwäche, zuzugeben, daß man Schmerzen hatte. Nach ein bis zwei Stunden, in denen sie ihre spärlichen Nahrungsmittel aufaßen und sich in dem tröpfelnden Rinnsal des Orakeltunnels wuschen und erfrischten, krochen sie den sargähnlichen Gang entlang, der sie von der Gefahr wegführte.

Elspeth hatte das Zeitgefühl verloren. Sie krochen und krochen, stundenlang, wie es ihr vorkam. Endlich gelangten sie unter Schreien der Freude und Erleichterung ans Tageslicht, doch da sah sie ein, daß sie gar nicht so sehr lange in dem engen Felsentunnel gewesen sein konnten.

Sie waren am Fuße einer steilen Klippe herausgekommen, einer moosigen Felswand, die etwa fünfzig Fuß hoch über ihre Köpfe anstieg. Sie befanden sich auf einem Hang, der, uneben und voller Gestrüpp, hinab in einen dichten Bewuchs verlief, welcher einen großen Teil des Gesichtsfeldes füllte. Doch in der Ferne wurde es lichter, und dort erhob sich der crog wie ein braungrünes Kastell und beherrschte durch seine klaren Linien das sonst ungeordnete Land. Das Schiff war nicht mehr da, was Elspeth ruhig und heiter stimmte.

Darrens Wunden sahen viel schlimmer aus als sie waren; er war über und über blutverschmiert und -verkrustet, so daß Elspeth jedesmal zusammenfuhr, wenn sie ihn ansah. Jetzt untersuchten sie seine Verletzungen gründlicher und verbanden einen besonders tiefen Riß am linken Arm mit einem Streifen Stoff, den sie von Elspeths Hose schnitten. Sie selbst war scheußlich verdreckt, und ihr thermostatischer Overall, vom Messer und von den Steinen gleichermaßen zerfetzt, war nicht viel mehr als funktionslose Lumpen. Sie versuchten, die losen Stücke zusammenzuheften, damit sie etwas Schutz hätte, doch die Wärme war weg – nur eine gewisse Intimbedeckung gewährte er allenfalls –, es war eigentlich sinnlos, diesen Fetzen am Leibe zu behalten.

„Vorwärts, weiter“, rief sie schließlich und wartete, daß Darren die Spitze nähme. Er sah kurz an der steilen Klippe hoch, doch Elspeth schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, Darren. Wir nehmen den langen Weg.“

Verächtlich zuckte er die Achseln, doch Elspeth wußte, daß er in seinem gegenwärtigen Zustand gar nicht klettern konnte. Sie ging hinter ihm her, am Fuß der Klippe entlang und den steilen Hang empor, der sie, langsam zwar und unter Schmerzen, zum Hochland hinführte. Moir stolperte als letzte hinterher, stöhnend und klagend, doch sie hielt sich gut. Stets blieb sie hinten, ohne sich an der Diskussion über Weg und Ziel zu beteiligen. Immer starrte sie ihren Bruder an, als sähe sie ihn auf ganz besondere Weise. Sie sprach ihn nie an, und er sprach auch nie mit ihr. Sie sprachen voneinander, doch die direkte Anrede war ein Luxus, den sie sich beide versagten. Das hing wohl noch mit dem Zweikampf zusammen. Manchmal machte diese Feindseligkeit Elspeth traurig, dann ärgerte sie sich auch darüber, weil sie sie so albern fand. Doch solange sie dabei war, waren die beiden Aerani zu einer gewissen Gemeinsamkeit in praktischen Dingen bereit. Über den crog wurde niemals gesprochen, auch nicht über den Tod ihres Vaters oder ihre Ausstoßung. Sie schienen nicht sonderlich traurig zu sein, doch spürte Elspeth, daß die Erinnerung an das lustige Leben, das sie bis vor kurzem geführt hatten, dicht unter der Oberfläche lag. Vielleicht waren sie zur Zeit nur stumpf und betäubt, und dieses taube Gefühl würde vergehen.

Sie ließen die Klippe hinter sich und marschierten Meile um Meile immer noch über ansteigendes Gelände; doch bald kamen die Hänge der ersten wirklich hohen Berge in Sicht. Diese erhoben sich ein paar Meilen weiter. Ihre unteren Hänge waren ein Durcheinander von Farben, hauptsächlich Grüntöne, die oberen schimmerten silbrig. Dort vermischte sich die Schwärze des Steins mit der Weiße des Schnees zu einem metallischen Glitzern. Elspeth blickte erwartungsvoll und höchst gespannt auf die verstreuten Schneehalden. Sie hatte das Gefühl, die Höhle, die Quelle des Erdwindes, läge unter diesem Schnee. Zu fragen wagte sie im Augenblick nicht. Ihr irrationales Verhalten vertrug sich schlecht mit ihrem gewohnten, sturen Pragmatismus, doch sie verschluckte die drängende Frage, vertrieb sie aus ihrem Hirn. Jede dunkle Vertiefung in diesen weißen Halden rief ihr etwas zu, winkte ihr. Höhlen und Felssäume … aus dieser Entfernung wurden sie alle zu Löchern in der Erde … mysteriöse Poren einer mysteriösen Welt.

Eine Nacht schliefen sie im Windschutz der Felsen und erwachten steif vor Kälte, aber in bester Stimmung. Sie marschierten ein Stück weiter; Darren fiel das Gehen jetzt leichter, und Moir blieb auch nicht allzuweit zurück. Sie hatte Felswurzeln gesammelt, auch ein paar Stückchen Weißgummi, der, wie sie erläuterte, keine eigentliche Nahrung war; doch wenn man die gelbe, gummiartige Masse kaute, die auf den kalkweißen Felsen wuchs, dann wurde man vergnügt und sehr vital. Spare ihn dir auf, sagte sich Elspeth, für Gelegenheiten, wenn du vergnügte Vitalität benötigst.

Nach einiger Zeit hielt Darren an und hockte sich hin. Sie hatten einen langen Weg hinter sich, und die Berge schienen noch so weit entfernt wie beim Aufbruch. „Ich finde immer noch, wir gehen am besten über den Fuß des Gebirges auf das Tal zu“, sagte er und deutete auf die tiefe Kluft zwischen zwei schneebedeckten Bergketten. „Sie sagen, da sei gutes Land.“

Elspeth ärgerte sich über diese Dickköpfigkeit, mit der er darauf bestand, daß sie etwas tun sollten, was sie nicht wollte. „Wer sind ‚sie’, Darren?“ fragte sie scharf. „Du hast schon einmal ‚sie’ gesagt.“

„Freunde“, erwiderte der Jüngling, „… eben Freunde.“ Was verbarg er? Sie wollte Einzelheiten wissen.

„Und woher wußtest du von dem Nebengang im Orakeltunnel? Was machst du eigentlich, Darren? Bist du nur so am Herumraten?“

Er schüttelte den Kopf. Moir sagte leise: „Er wird wohl das Orakel gefragt haben“, und lachte sanft und etwas höhnisch dazu.

Wütend fuhr Darren herum, schlug sie zu Boden. Sie schrie vor Schmerz und Schrecken auf, und als sie aufstehen wollte, trat er nach ihr. „Ich bring’ dich um!“ brüllte er und hob sein Steinmesser. Moir trat ihm die Beine unterm Leib weg, und als er hinfiel, warf sie sich über ihn und versuchte, ihm die Augen auszustoßen. Sein Messer traf sie und schnitt ihr die Wange auf. Sie rollte sich herum. „Du Luder!“ brüllte er wütend. „Du feiges Aas! Ich hätte dich gleich damals totschlagen sollen, aber jetzt tue ich es!“

Völlig passiv blickte Moir zu ihm auf und erwartete den Todesstoß. Doch Elspeth riß ihm das Messer aus der Hand und ritzte ihm dabei das Ohr an, so daß er Moir vergaß und wütend zu ihr herumfuhr. „Misch dich gefälligst nicht ein!“

„Laß den Blödsinn“, befahl Elspeth. „Hilf ihr lieber auf!“ Darren kämpfte mit sich. Wut, dann Unsicherheit, dann Mitleid drückten sich auf seinem Gesicht aus. Endlich stand er auf und streckte die Hand nach seinem Messer aus. Elspeth gab ihm die Waffe zurück.

„Iondai hat es mir gesagt. Er wollte nicht, daß sie mich töteten, deshalb verriet er mir, dort sei es am günstigsten für mich“, sagte er bitter.

Elspeth begriff nicht, warum Darren anscheinend plötzlich etwas daran lag, daß sie diese Tatsachen erfuhr. Sie schwieg jedoch und sah dem Jungen nur lächelnd nach, als er davonstürmte, sich auf einen Steinbrocken setzte und zum crog hinuntersah. Moir duldete stumm, fast feindselig, daß Elspeth sich um ihre Wunde kümmerte.

„Sollte ich vielleicht zulassen, daß er dich umbringt, Moir? Hätte ich lieber nicht dazwischengehen sollen?“

„Vielleicht.“

„Also, was soll werden? Reden wir offen darüber. Wir haben einen langen Marsch vor uns und vielleicht ein langes Leben miteinander. Ich will nicht, daß irgendwelche Mißgefühle im Hintergrund schweben und unsere Beziehung im ungeeigneten Moment gefährden.“

„Er wird mich töten“, sagte sie finster und faßte an den Beutel, den sie am Halse trug. Etwas Hartes war darin. „Wenn ich ihn nicht vorher umbringe!“

„Hier bringt niemand irgendwen um, Moir. Verstehst du? Ich will, daß ihr zwei Kinder …“ – sie betonte dieses Wort – „… miteinander auskommt. Wenn ihr’s schon nicht übers Herz bringt, euch zu lieben, dann hört wenigstens um unser aller willen mit euren ewigen Streitereien auf!“

Darren rief etwas, und sie wandte sich um. Er hockte auf einem Felsbrocken und spähte den Hang hinauf in das Gewirr von Bäumen und Steinen, das ihnen für die nächsten paar Meilen den Weg erschwerte.

„Was ist?“ rief sie.

Erregt winkte er ihr, still zu sein. Offenbar hatte er etwas gehört, höchstwahrscheinlich einen Menschen. Sie suchte die zerrissene Landschaft ab und entdeckte schließlich schwache Bewegungen hinter einem Haufen Felsbrocken. Sofort versteifte sie sich; ihr Mund wurde trocken, sie stellte sich vor, daß Gorstein auf einmal vor ihr stünde, bösartig grinsend, ein blitzendes Metallschwert schwang und schrie: „Jetzt findest du’s nie mehr!“

Sie rannte zu Darren hinüber und hockte sich neben ihn. Sie betete, flehte die unsichtbaren Kräfte an, die das Schicksal formen, es möge nicht Gorstein sein. Sie war noch nicht bereit, ihm entgegenzutreten – noch nicht bereit, mit ihm zu kämpfen und den Tod zu riskieren …

Moir stieß einen warnenden Schrei aus, ganz unvermittelt, und Darren fuhr in der Hocke herum, verlor beinahe das Gleichgewicht und sprang dann auf die Füße. Hinter einem großen Felsbrocken erschien Iondai mit erhobenen Händen. Er mußte um die Windung eines natürlichen Pfades gekommen sein, der einen der nächsten Hänge schnitt. Darren entspannte sich, doch seine Erleichterung war nicht halb so groß wie Elspeths.

„Ich bin allein“, rief der Seher, doch gerade diese Beteuerung machte Darren mißtrauisch. Er sprang auf einen Block und suchte die Umgebung ab. Nach einer Weile winkte er und kletterte wieder herunter.

„Was machst du hier oben?“ fragte er.

Der Alte lächelte nervös. „Ich klettere.“

„Wohin? Zum Tal hinunter?“

Iondai schüttelte den Kopf und sah Elspeth an. „Wo du vermutlich auch hinwillst“, sagte er.

„Zur Erdwind-Höhle? Ich dachte, die Aerani hätten so große Angst davor? Die beiden hier bestimmt.“

Iondai setzte sich auf den Stein und rieb sich die Augen. „Ich bin müde. Sehr müde. Ich habe nicht halt gemacht, seit ich den crog verlassen habe. Außer als ich hörte, daß ihr hinter mir herkamt“, schloß er mit einem bedeutsamen Blick auf Elspeth. „Und ich habe mich gerade lange genug aufgehalten, um euch dienlich zu sein.“

Sie hatte sich halb und halb gedacht, daß es Iondai gewesen sei, dort im Tunnel. „Wofür wir dir sehr danken“, entgegnete sie. „Aber warum gehst du zur Höhle?“

Iondai starrte über das Tiefland. Er hatte die Augen halb geschlossen, als wolle er mehr in sich aufnehmen als nur den Wind und die Schönheit der Hunderte von Meilen Grünland, das vor ihm lag. Wolken von Schwarzflüglern, die an der Grenze der Marsch aufstiegen, sahen vor dem grauen Himmel aus wie Rauch. In der Ferne waren plötzlich schwarze Flecken aufgetaucht; sie spähten angestrengt hinüber und fragten sich, was diese Panik verursacht haben könnte. Dann sagte Iondai beinahe traurig: „Ich bin verwirrt und bestürzt. So etwas kommt manchmal vor. Seit vielen Zyklen befrage ich das Orakel, doch jetzt, zum erstenmal, seit ich in die Höhle gehe, seit ich, noch als ganz junger Mann, die Quelle des Erdwindes gehört habe, fühle ich mich dem Orakel entfremdet. Irgendwann habe ich irgend etwas falsch gemacht und habe nicht einmal gemerkt, daß da eine Störung war. So muß ich also zurückgehen und noch einmal dem Lied des Erdwindes lauschen. Vielleicht kann ich entdecken, was geschehen ist, vielleicht kann ich es mit diesem seltsamen Orakel deines Freundes Ashka abstimmen und zu einem neuen Verständnis gelangen.“

Die Erwähnung Ashkas erregte Elspeth, doch ihr fiel auf, daß seine Stimme noch trauriger klang, als er den Namen aussprach. Darren ging, um irgendein kleines eßbares Tier zu erjagen, und Moir suchte in einer anderen Richtung nach eßbaren Wurzeln. Elspeth setzte sich neben Iondai und genoß mit ihm den Blick auf die Landschaft dieser Welt.

„Ist Ashka mit dem Schiff abgefahren? Oder ist er mit Gorstein hiergeblieben?“

„Er ist geblieben“, erwiderte der Seher still, „aber für sich allein.“

Trauer umfing sie. „Ist er tot?“

„Ja.“

Wind trocknete ihre Augen, zerstrubbelte ihr Haar und blies ihr alle Wärme aus dem Leib. Sie starrte auf ihre Hände und auf den Erdboden und dachte an den alten Mann – wie verzweifelt unfair irgend etwas, das Schicksal oder das Orakel, zu ihm gewesen sei. „Hat Gorstein ihn getötet?“ fragte sie.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Iondai.

„Wahrscheinlich war er’s.“

„Er wurde von einer Feuerwaffe getroffen. Sein Körper war schwarz verbrannt, als wir ihn fanden.“

„Gorstein muß es gewesen sein. So ein miserabler Schweinehund.“

Und jetzt war er hinter ihr her und würde nach dem, was sie getan hatte, ebensowenig – wenn nicht noch weniger – Bedenken haben, sie umzubringen. Sie dachte an seinen Blick, gestern bei der Unterredung, an die Aggressivität, an die Oberflächlichkeit dieses Mannes – eines Mannes, dessen Antriebskräfte so dicht unter der Oberfläche seiner Persönlichkeit lagen, daß die Juwelen in ihrer Brust ebensogut ein Grund sein konnten, sie zu jagen, wie ihr Mordanschlag auf seine Monitoren. Sie wurden alle vom Druck der Wünsche getrieben – dem Wunsch zu verstehen und zu bewerten, dem Wunsch zu töten und zu überleben; doch Gorstein und Elspeth strebten vielleicht nach greifbareren Zielen, reagierten auf symbolischere, innerlichere Antriebe – Erde und Stein. Ja, Erde und Stein, dachte sie. Die Stimme der Erde und der Glanz des Steines – in dem Erdsymbol in jener Höhle finde ich das Verstehen von etwas im Grunde sehr Einfachem; aber das Eigentliche wird der Prozeß der Entdeckung sein, das Angehen gegen die Kräfte der Natur. Gorstein wird, wenn er mich jemals bezwingt, nur die Diamanten nehmen und wird damit – in seinen Augen – mich genommen haben. Mein Motiv ist Verzweiflung – was ist seins? Wenn der innere Drang, meine Seele zu besitzen, ihn hinter mir hertreibt … wenn er wirklich hinter mir her ist … dann habe ich kaum eine Chance. Ich fühle nicht die Notwendigkeit, mich gegen das, was er will, zu wehren. Doch wenn er mir auch noch das Leben nimmt? Wenn ich erst alle seine Gedanken weiß, die hinter seinem Tun stehen, dann könnte es zu spät sein.

Ihre Grübeleien verschwammen zu einem grauen Chaos.

Vorübergehend war sie wütend auf sich selbst. Warum kann ich gerade dann nie klar und übersichtlich denken, wenn es am notwendigsten ist?

Darren kam zurück; er hatte nur eine einzige Beute: ein schlangenartiges Tier ohne klar erkennbaren Kopf oder Schwanz mit einer Reihe pickelähnlicher Saugnäpfe an der Unterseite. Er häutete es ab und schlug mit seinem Messer Feuer aus einem Stein. Im Schutze des Felsens schnitt er das Beutetier in Stücke und röstete das Fleisch. Etwas später kam Moir mit einigen Wurzeln, die sie im Wasser eines nahen Tümpels säuberte. Während der Zubereitung des Mahles ging Elspeth zum Rande der Klippe, setzte sich dort hin und durchmusterte die Landschaft nach einem Zeichen von Gorstein.

Was konnte man wissen – vielleicht war er dicht hinter ihr oder lauerte etwas weiter oben in den Bergen.

 

Als sie gegessen hatten, bis sie nicht mehr konnten, stieg auch schon die Nacht am grauen Himmel auf, und sie entschlossen sich, im Schutz der Felsen zu schlafen; früh am nächsten Morgen wollten sie dann über die schwierigere Route, die sie von unten sehen konnten, rasch und entschlossen in die Berge steigen; denn, so überlegten sie, wenn Gorstein tatsächlich vor ihnen war und auf sie wartete, dann würde er bei den leichteren Pfaden warten.

Elspeth rollte sich unter einem leicht überhängenden Fels zusammen und schloß die Augen. Sie wartete auf das Kommen des Schlafes und genoß den Frieden der völligen Dunkelheit. Ein paar Minuten lag sie im Halbschlummer und horchte auf die Geräusche der Nacht, die dumpfen Schritte von Tieren und die schrillen Schreie, die in schnellem Wechsel über den Bergen hin und wider klangen und dann für längere Zeit verstummten. Iondai schnarchte laut, Moir schlummerte friedlich. Aber Darren?

Sie fuhr auf und sah, daß Darren neben ihr kniete und sie anstarrte.

„Hallo“, sagte sie, und ehe sie fragen konnte, was er wollte, fühlte sie seine warmen feuchten Lippen auf ihrem Mund. Sie rückte sich zurecht, so daß sie auf dem Rücken lag, und er kam neben sie; der lange Kuß war nun nicht mehr ein bloßer Spaß. Sie fühlte, daß er ihren Gürtel zu öffnen versuchte.

Elspeth hatte eigentlich überhaupt keine Lust (es war viel zu kalt) und fragte sich innerlich ganz unbeteiligt, warum sie sich seine Verführungsversuche gefallen ließ. Sie schlug die Augen auf, sah, daß Darrens Augen geschlossen waren, hörte seine erstickten Laute und roch den süßlichen Duft seiner Behaarung. Sie umfaßte seinen Hals und berührte die empfindliche Haut seiner Schultern, und er antwortete mit Zärtlichkeiten, die ihr weh taten, so daß sie seine Hand wegschob. Wo war die Sinnlichkeit, die Zartheit vom ersten Mal?

Er versuchte, sich auf sie zu legen, doch sie hinderte ihn daran, löste ihre Lippen von seinem Mund, flüsterte: „Nein – nicht doch so schnell!“ Sie drückte ihn zurück, so daß er auf dem Rücken lag, und glitt etwas tiefer, so daß ihr Kopf auf seinem Bauche lag. Sein moschusartiger, animalischer Duft erfüllte ihre Sinne, und sie spürte erste Anzeichen einer Begierde.

Sein plötzlicher Aufschrei (Schmerz? Überraschung? Oder war es Lust?) weckte Moir auf. Sie setzte sich hoch und erkannte, was vorging. Elspeth rückte hastig weg. In der Dunkelheit konnte sie nicht ausmachen, ob das Mädchen vor Bitterkeit oder vor Enttäuschung zu weinen begann, doch es war unverkennbar, daß Tränen auf ihren Wangen glitzerten.

Wie vorauszusehen war, ignorierte sie Elspeth am nächsten Morgen völlig und machte nicht den geringsten Versuch, ihre unterschwellige Feindseligkeit und Verachtung gegenüber der älteren zu verbergen. Elspeth fand, daß Vernunftgründe aufzuzeigen nutzlos sein würde und daß es am besten sei, das Mädchen allein mit der Tatsache der veränderten Beziehungen fertig werden zu lassen, denn zweifellos glaubte Moir, daß ein solcher Wechsel stattgefunden habe.

Auf einen dringlichen Ruf Iondais eilte Elspeth zu ihm an die Felskante. Der alte Seher hatte sich flach auf den Bauch gelegt, und Darren tat desgleichen. Geduckt spähte Elspeth nach der Stelle, auf die Iondai deutete. Sie sah graue Felsen und vielfältiges Grün, aber vor diesem wirren Hintergrund hob sich etwas ab – ein Mann!

Langsam bewegte er sich durch das Unterholz, blieb manchmal stehen und starrte an der Felswand hoch, die von seinem Standpunkt aus steil und unzugänglich aussehen mußte.

Elspeth erkannte den Schiffs-Meister. Große Freude durchfuhr sie: Er stand unter ihr. Er hatte sie noch nicht entdeckt. Sie war im Vorteil.

„Vernichtet alle Spuren des Feuers!“ rief sie hastig, und Moir, die sofort begriff, streute Erde auf die Asche. Elspeth und Darren bemühten sich, die Stelle, wo sie geschlafen hatten, so gut es ging unkenntlich zu machen. Wenn sie Glück hatten, würde Gorstein, der wahrscheinlich in den Techniken der Jagd nicht besonders geübt war, übersehen, daß die Pflanzen unter dem Felsen niedergedrückt waren.

Vorsichtig gingen sie den Hang hinauf und hielten sich möglichst in den tiefen Rinnen oder schlichen geduckt durch das niedere Buschwerk, wenn sie über offene Flächen mußten. Sie kamen überraschend schnell voran; manchmal mußten sie klettern, dann wieder konnten sie lange Strecken über moosigen Grasboden und schütteren ‚Wald’ marschieren. Die Luft war ziemlich kühl, was aber wohl nicht auf die Höhenlage, sondern darauf zurückzuführen war, daß man in die kältere Zone kam.

In regelmäßigen Abständen hielten sie inne und suchten nach Gorstein. Nur einmal sahen sie ihn – er stand unter ihnen und blickte herauf. Er machte keine Bewegung, um sich zu verbergen; anscheinend suchte er nicht den ganzen Berg ab, sondern hatte eine bestimmte Stelle im Auge. Es sah aus, als blicke er direkt auf sie.

„Ich glaube, er hat uns gesehen“, sagte Elspeth beiläufig.

„Kann sein, daß du recht hast“, sagte Darren. „Was meinst du, daß wir jetzt tun sollen?“

Moir kicherte, und Elspeth warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. „Entweder gehen wir noch schneller – oder wir greifen ihn an.“

„Er scheint allein zu sein“, sagte Iondai. „Ich beobachte ihn schon eine ganze Weile und habe kein Zeichen von den beiden anderen Kriegern entdecken können.“

„Zu dreien müßten wir ihn leicht töten können“, sagte Darren und tastete nach dem Messer, das er an einer Lederschnur um den Hals trug.

„Wenn er bewaffnet ist, wird er schnell mit uns fertig.“

„Du meinst, wenn er eine Feuerwaffe hat“, sagte Moir nachdenklich. „Wir müßten ihn von hinten angreifen. Einer von uns könnte ihn ablenken, und ein anderer könnte ihn von hinten töten. Dann würde ihm seine Feuerwaffe nichts nützen.“

„Kein Dolchstoß von hinten!“ sagte Elspeth laut und bestimmt.

„Der Meinung bin ich auch“, sagte Darren. „Er muß auf ehrenhafte Weise getötet werden. Aber es wundert mich gar nicht, daß sie so einen Vorschlag macht.“

Moir rannte weg und verschwand hinter Büschen. Darren lachte höhnisch, doch Elspeth wies ihn zurecht: „Laß sie in Ruhe, Darren. Wir werden in den nächsten Jahren ihre Kräfte und ihr Können brauchen. Also bitte – treibe sie nicht mit deinen Gehässigkeiten weg!“

„Sie wird nie eine Kriegerin werden, ganz gleich, was ihr das Orakel gesagt hat.“

„Vielleicht doch“, sagte Elspeth nachdenklich, „wenn sie nämlich Gorstein tötet.“

„Wahr“, sagte Iondai, und auch Darren nickte zustimmend. Gespannt beobachteten sie die ferne Gestalt. Er stand immer noch still (vermutlich ruhte er sich aus) und starrte zu ihnen hoch. Iondai fuhr fort: „… gewiß, das ist wahr, aber …“

Er sprach seinen Gedanken nicht aus, und Elspeth sah ihn auffordernd an. Iondai schüttelte lächelnd den Kopf. „Nichts. Nichts Wichtiges. Nichts, was sich ändern ließe.“

„Seht, er geht weiter“, sagte Darren. Ehe Elspeth die Stelle wiederfinden konnte, wo er gestanden hatte, war er verschwunden. „Los, weiter! Das ist kein guter Platz für einen Hinterhalt.“

Sie gingen so rasch wie möglich höher, auf die Schneegrenze zu. Dabei mußten sie einen niedrigen Kamm überqueren, von dem aus sie in ein flaches Tal blicken konnten, hinter dem die nächste Bergkette aufstieg. Das Gefühl, bald auf dem Gipfel zu sein, das sie vorher gehabt hatten, war so täuschend gewesen, daß sich nicht einmal Iondai – der in früheren Zeiten bereits hiergewesen war – daran erinnerte, wie leicht man sich in diesen Bergen irren konnte.

Sie liefen einen Geröllpfad hinunter, der im Laufe der Zeit durch die Erosion des rasiermesserscharfen Grats entstanden war. Rutschend und schlitternd kamen sie vorwärts, meilenweit, wie es ihnen schien, zerkratzt und zerschunden, aber lachend und vergnügt. Besonders Iondai machte der schnelle Abstieg zu schaffen, und am Ende des halbmeilenlangen Hanges rutschte er das letzte Stück auf dem Rücken hinab und schrie um Hilfe; Darren und Moir rannten trotz der Gefahr, sich den Hals zu brechen, herzu, um ihn zu halten. Sie kugelten erschöpft und lachend auf dem Boden, rutschten in niedriges, stachliges Gebüsch, ohne sich um die Kratzer und Risse auf ihrer Haut zu kümmern. Keuchend und schwer atmend setzte Darren sich auf und blinzelte nach oben, wo Elspeth soeben die letzten paar Yards herunterrutschte.

„Bist du verletzt?“ fragte sie den Seher. Der Alte grunzte etwas unbestimmt Obszönes und stand auf. Er war blutig, und Steinsplitter hingen in den Strähnen seines weißen Haares.

„Nein“, knurrte er, als er den Umfang des Schadens festgestellt hatte; doch beim Weitergehen hinkte er ein bißchen.

Sie erreichten den schmalen, flachen Bach in der Talsohle. Die Zeit verging rasend schnell; es kam ihnen vor, als sei kaum eine Stunde verflossen, seit sie am Morgen aufgebrochen waren. Alle Knochen taten ihnen weh, und Elspeth sehnte sich nach einem warmen Bad. Wie die Dinge lagen, mußte sie sich jedoch gleich den drei anderen damit begnügen, ein paar Sekunden lang in dem eisigen Bach zu plantschen. Kreischend kam sie wieder heraus und machte einen kleinen Dauerlauf auf der Stelle, um sich zu trocknen und zu wärmen. Für die bepelzten Aerani war das schwieriger; doch Darren und Moir rollten sich in dem trockenen Bodenbewuchs herum und waren nur noch ein bißchen feucht, als sie aufstanden. Darren lächelte Moir sogar an und berührte sie leicht am Arm, doch sie starrte ihm nur leer und ausdruckslos ins Gesicht.

Während sich die Dämmerung über das Land senkte, verließen sie den Bach und schlugen in der Mitte einer kleinen Senke ihr Nachtlager auf. Es gab dort Wedelpflanzen, jede etwa von Baumgröße, doch sie bestanden aus Hunderten von dünnen weißen Stengeln, die raschelnd im Dunkeln wehten, als suchten sie nach einem unbekannten Manna. Iondai versicherte Elspeth, diese Pflanzen seien ganz harmlos. Darren glaubte das ebenfalls, rollte sich eng zusammen und schlief ein. Moir, die Arme um die Knie geschlungen, beobachtete ihn gleichgültig, dann wandte sie sich nach Elspeth um. Elspeth rief, sie solle sich zu ihr setzen, doch Moir schüttelte nur kurz den Kopf und legte sich auf die Seite. Iondai gab Elspeth wieder seine Lederdecke und scharrte etwas dürres Gestrüpp zusammen, mit dem er sich zudeckte. Sie froren alle sehr, doch Elspeth war fast gelähmt vor Kälte.

Schlafen konnte sie nicht, und sie war dankbar, daß Darrens Erschöpfung seinen sexuellen Appetit dämpfte. So stand sie von ihrem Erd-Bett auf, wandelte ein Stückchen über den kahlen Hang, hockte sich dann hin und starrte auf den Kamm über dem nächsten Tal. Wann, so fragte sie sich, würde Gorstein diesen Geröllpfad heruntergerutscht kommen? Erst nachdem sie die Höhle erreicht hatten? Bestimmt schon früher. Die Höhle und damit die letzte Chance, dieses flüchtige Verstehen zurückzuerobern, das sie vor ein paar Tagen erlebt hatte, lag noch mehrere Tagesmärsche höher … über kahle Felsen, schmale Saumpfade … und durch Schnee, tiefen, eisigen Schnee.

Eine Vision riesiger Flächen gleitenden Eises jagte ihr unbeherrschbare Schauer durch den Leib. Warum fürchtete sie sich so vor dieser harmlosen Substanz? Warum empfand sie so heftige, gerade noch unterdrückbare Übelkeit bei dem bloßen Gedanken, daß eine Schneeflocke ihre Haut berühren würde? Die Antwort lag irgendwo in jener Leere, die ihre Vergangenheit war. Sie empfand weder Bedauern noch Bitterkeit über den Verlust dieser Jahre ihres Lebens – wie könnte sie auch, wenn sie nicht mehr wußte, was sie verloren hatte?

Gesichter … Bilder … ein Gefühl der Isoliertheit … Stunde um Stunde sog das Vakuum auf dem Aeran mehr und mehr von diesen Überresten auf. Sie merkte, daß sie Ausdrücke gebrauchte, bei denen sie mitten im Satz innehielt, weil sie nicht mehr wußte, was sie sagte, was sie meinte. Sie konnte immer noch dahinterkommen – gewöhnlich ergab es sich ohne weiteres aus dem Zusammenhang. Aber immer öfter passierte es ihr, daß sie zum Sprechen ansetzte und dann im letzten Moment innehielt, weil ihr irgendeine Metapher, ein Ausdruck entfallen war, so daß sie nicht mehr wußte, was sie sagen sollte.

Wo saß die Sprache? Wo im Gehirn? Irgendwo vorn, ein größeres Gebiet einer Hirnhälfte und ein kleiner Fleck irgendwo im Hinterhirn; so ähnlich hatte Ashka es ihr erklärt. Das war’s – die linke Hirnhälfte für die Sprache; das entsprechende Gebiet der rechten für geometrische Perspektive – will sagen: Symbole. Es kam aufs gleiche hinaus: ein Verstehen der Bedeutungen diverser Symbole; und an diesen Gebieten war der aeranische Psychoparasit, der mit so großem Appetit die anderen Teile des Hirns auffraß, offenbar nicht interessiert.

Und das stimmte in Wirklichkeit gar nicht. Nur die intellektuellen Gedächtniszellen waren angegriffen. Sie hatte nicht vergessen, wie man geht oder assoziiert oder schreibt … es war das abstrakte Wissen, das abgesaugt wurde … Erfahrungen, Erinnerungen, die Gesichts- und Gehörsaufzeichnungen ihrer dreißig Lebensjahre, die Gebiete der Lust, der Sehnsüchte, der Erfahrungen, die im Notfall wieder herausgezogen werden konnten, die aber zum Überleben nicht unbedingt nötig waren, wie anderes im Leben Erworbene, einschließlich der Kommunikation.

War es so einfach? Überleben auf dem Aeran? Sprache nur zu Funktionszwecken, weil Tun jetzt wichtiger war als Introspektion, als Denken? Die alte Weise, die primitive Ethik.

Der Aeran warf aus jedem Hirn alles heraus, was überflüssig war, so daß … ja, so daß …? So daß das Hirn hübsch leer sein würde, um neue Erfahrungen aufnehmen zu können? So daß die lästigen Erinnerungen an ein anderes Universum nicht mehr da sein und das neue Tier verwirren, seine Überlebenschancen negativ beeinflussen konnten?

Wenn das so war, dann war es nicht der Aeran, der zerstörte, sondern ihr eigenes Denken! Ashka hatte darüber etwas gesagt … aber was?

(Panik! Sekundenlang blieb alles weiß, als sie versuchte, den Dialog zu rekapitulieren; doch dann fiel ihr der Nebel ein. Durch den Nebel erinnerte sie sich an das lange, ruhige Gespräch mit dem Rationalisten.)

Ashka hatte vom Wandel in den Beziehungen zum ching gesprochen … ihrer und seiner eigenen. Nicht diese Welt ist es, hatte er gesagt, sondern unser Denken. Wir müssen – unbewußt – uns darauf einstellen, daß das Zeitsystem auf dem Aeran anders ist; doch wie bei dem Computer auf dem Schiff war diese Erkenntnis – aus irgendeinem Grunde – mit einem Zentrum liiert, das nicht mit der höheren Cortex kommunizieren konnte. Es war ein sehr primitives Zentrum, in dem die Reaktion auf die fluktuierende Zeit stattfand …

Zentrum? hatte sie gefragt. Ein Zellhaufen, hatte er erklärt, der für eine bestimmte Aufgabe verantwortlich ist – wie etwa das Konstanthalten der Körpertemperatur oder die Überwachung des chemischen Gleichgewichts im Körper.

Dieses spezielle Zentrum, eine Zellgruppe, die als Gehirncomputer fungierte und Veränderungen im Zeitablauf entdeckte, war vielleicht durch Evolution in primitiven Tieren entstanden, als solche Veränderungen etwas ganz Gewöhnliches waren. Doch zu der Zeit, als sich der Mensch entwickelt hatte, mochten diese Fluktuationen aufgehört haben, wenn auch nur vorübergehend, denn in Irland hatte es im Steinzeitalter eine örtlich begrenzte Veränderung gegeben. Doch während der größten Spanne seiner Existenz hatte der Mensch immer nur in einem stabilen Raum-Zeit-System gelebt. Das winzige Zentrum war durch den Nichtgebrauch untergegangen, überflüssig geworden und ins Dunkel gestoßen worden. Wer wußte, wohin? Wer konnte wissen, wie viele solcher winzigen Zentren unentdeckt und unverwertet im menschlichen Hirn verborgen lagen? Doch dieses eine, dieses Zeitsinn-Zentrum besaß jeder Aerani, und er hatte die Veränderung wahrgenommen.

Wie der Erdstrom im Fels, so flossen Zeit und Energie präzise und systematisch durch die menschliche Hirnrinde, und dieses System war ein Teil der evolutionären Erbschaft, vielleicht etwas der Hirnoberfläche für immer Eingedrucktes. Als sich dieses System, dieses Zeitmuster geändert hatte, war der Hirnrinde – vielleicht mittels des Zeitsinnes – bewußt geworden, daß sich die Zeit verändert hatte. Vielleicht hatte dieses winzige Zentrum in einem primitiven Hirngebiet das neue Muster erkannt und hatte dann alle notwendigen Adaptierungsmaßnahmen in Gang gesetzt, damit der Verstand dem Körper folgen und einen glatten Übergang in die neue Umwelt vollziehen konnte – es hatte unter anderem das ching abgestoßen, weil es in einem prädestinierten Universum nutzlos war …

Hatte es auch die Erinnerung an das alte Universum abgestoßen? Lag der Grund für den Zerfall ihrer Persönlichkeit in ihr selbst? Lauerte irgendwo zwischen den stummen Zellen ihres Gehirns ein längst verlorengegangener Mechanismus, der dort vor Äonen installiert worden war, damals, als die Schwankungen des tao, die, wie Ashka meinte, solche Unordnung in den Zeitablauf brachten, etwas ganz Gewöhnliches waren, so daß immer wieder ein Adaptionsprozeß stattfinden mußte?

Der Schatten in dem Traum, den sie vor ein paar Tagen geträumt hatte, erschien in neuer Gestalt, nicht mehr so unheimlich, aber beinahe noch furchterregender, denn das Gesicht der Bestie war ihr eigenes Gesicht, und sie konnte gar nichts dagegen machen.

Ashka hatte nur einen Aspekt erwähnt, einen vagen Gedanken … wenn das Zeit-Zentrum so tief vergraben war, konnte es sein, daß es jetzt nicht ganz richtig funktionierte; es war von grundlegender Bedeutung zu wissen, ob die Veränderungen, die die Menschen erlitten, auch die richtigen durch das Zeitzentrum ausgelösten Veränderungen waren und nicht die Auswirkungen eines Zeitzentrums, das sich mehr oder weniger erfolgreich bemühte, Veränderungen bei durchtrennter Leitung in die höheren Hirngebiete zu kommunizieren.

Das letzte, das Ashka zu ihr gesagt hatte, bevor ihr Verständnis völlig aussetzte, fiel ihr wieder ein und wollte jetzt, da sie so tief in ihre Überlegungen verstrickt war, gar nicht mehr weichen: Bilder, Klänge, Buchstaben und Formen gleichermaßen sind Symbole (hatte er gesagt) und können sämtlich dazu verwandt werden, kodifizierte Gedanken oder Veränderungen zu kommunizieren … und einige der Symbole auf dieser Welt, vielleicht auch auf unserer eigenen Welt in fernster Vergangenheit, veranlassen uns zu Handlungen, ohne daß wir wissen, warum wir so handeln … oder sogar, daß wir überhaupt so handeln …

Es war natürlich eine Binsenwahrheit, aber wie so manches durchaus Vernünftige war es Elspeth nie in den Sinn gekommen, bis sie es gehört hatte. Das waren die Worte, an die sie im crog gedacht hatte, in jener Nacht, als sie einen Augenblick lang das Erdwind-Symbol begriffen hatte … aber eine plötzliche Panikwelle hatte dieses Verstehen hinweggeschwemmt.

Als sie sich jetzt an seine Worte erinnerte, erschien vor ihrem geistigen Auge das Bild der drei Doppelspiralen in seiner ganzen komplexen Schönheit … sie sehnte sich danach, es selbst zu zeichnen, es in Stein zu ritzen oder in Blut zu malen; doch die Dunkelheit verweigerte ihr diesen Wunsch …

Immer noch hockte sie am Hang und beobachtete den Hügelkamm jenseits des Tales, der sich dunkel vor dem grauen Himmel abhob; doch nach den Anstrengungen des Tages übermannte sie der Schlaf. Ein Schatten bewegte sich auf dem Kamm – fließend … vielleicht war es nur Einbildung.

In jenem Halbschlaf, in dem die Träume am lebendigsten sind, träumte sie, daß sie gebückt durch den engen Gang eines feuchten, dunklen Grabes kroch. Flackerndes Laternenlicht warf ihren Schatten auf den unebenen Boden und erhellte die Zeichnungen und Ornamente auf den Wänden des Ganges.

Stimmen, vertraut und doch unbekannt, trieben sie weiter.

„Wer seid ihr?“ fragte sie angstvoll und berührte die kalten Steine des Grabes.

„Geh weiter!“ befahl eine Stimme; und sie kroch weiter, unter schiefen Stützpfeilern hindurch, die von dem ursprünglichen Zugang nur eine dünne Röhre übrigließen.

Sie gelangte in das hohe Grabgewölbe und schauerte vor Kälte. Mehrere Männer und Frauen kamen hinter ihr aus dem Gang.

„Wer seid ihr?“ Sie erkannte die Gesichter, doch sie wußte nichts von ihnen.

Alle waren sie tief beeindruckt von dem Gewölbe; Scheinwerfer erfüllten die Höhle mit ihren gelblichen Strahlen. „Seht!“ sagte eine Stimme. „Seht euch das an! Seht’s euch an …“

Die Erregung erreichte den Höhepunkt.

„Wer seid ihr denn nur?“ fragte sie wieder und schaute hoch zur verkleideten Decke … Steinplatten überlagerten sich und bildeten einen umgekehrten Bienenkorb, der ihr so bekannt vorkam …

Steinwannen auf dem Boden, drei kleine Seitenkammern, alles reich geschmückt mit einer Fülle von Spiralen und Kreisen …

„Da! Seht euch das doch bloß mal an!“

Zusammen mit all diesen Fremden schaute sie auf die komplizierten Reliefs der mittleren Kammer, gegenüber den Doppelspiralen in Dreiecksanordnung … sie spürte die Erregung und die Fremdartigkeit; die Gesichter grinsten sie an.

„Wer seid ihr alle?“ fragte sie wieder, doch sie lachten nur und betasteten die Steine. Arme umschlangen sie, Finger zupften an ihrer Kleidung …

„Laßt das!“ schrie sie und starrte in das lächelnde Gesicht eines der fremden Männer und auf die überlappenden Deckenplatten hinter ihm …

„Du willst doch“, sagte er, „du bist doch die, die ständig von der Sexualität dieser Gräber redet und was es für Spaß machen müßte, hier …“

„Laß das!“ schrie sie; die Spiralen tanzten vor ihren Augen, das Licht der Traglampen blendete sie, das Gewicht des Mannes, der in sie hineinstieß, erstickte ihren Atem, ihre Sinne … Gelächter, Erregung umwirbelten sie, der kalte Stein preßte ihren nackten Rücken …

„Wer bist du?“

Sie erwachte von ihrem eigenen Schrei, und sie lächelte, als der Traum verblaßte. Die Gesichter schwanden, der ganze Traum wurde zu einem verschwommenen Fleck seltsamer Bilder, einem unbedeutenden Stück Phantasie.

Der Morgen dämmerte bereits – es war sogar schon so hell in der kalten Landschaft, daß sie zu der Ansicht kam, die Morgendämmerung müsse schon vor einiger Zeit eingetreten sein. Dicke Wolken verhüllten die gelbe Sonne. Raschelnd bewegten sich die Pflanzen in der Morgenbrise; Kälte und Schnee lagen in der Luft und zeigten, daß sie nicht nur zum Winter hinaufstiegen, sondern daß er ihnen auch noch von oben entgegenkam.

Am Schlafplatz war noch alles ruhig. Die Erschöpfung des gestrigen Gewaltmarsches mußte wohl den inneren Wecker abgestellt haben, der sie sonst um diese Zeit aus dem Schlaf holte. Auch sie war müde, doch mehr körperlich als geistig. Sie war noch ganz verkrampft von ihrem zusammengerollten Schlafen, doch ein schmerzhaft-kaltes Tauchbad im eisigen Bach würde wohl rasch ihre Lebensgeister wecken.

Sie stand auf, reckte sich, suchte die Dämmerung nach Anzeichen von Gefahr ab, sah nichts – bis sie hinunter zum Bach blickte.

Ein Mann hockte am anderen Ufer, bespritzte sich das Gesicht und trank aus der hohlen Hand.

Der Schatten in der Nacht, der über den Kamm gekommen war! Das war keine Wolke, kein Schwarzflügler gewesen, sondern der Verfolger! Er war bis auf ein paar hundert Yards herangekommen und hatte dann halt gemacht. Wäre nicht der Fluß gewesen, hätte er in der Nacht über sie kommen können, und bei Morgenlicht wären sie alle nur noch kaltes Fleisch gewesen.