Nachwort
Robert Holdstock ist ein junger britischer Autor, der 1948 in Kent geboren wurde, Zoologie und Parasitologie studierte und anschließend in der Immunologieforschung tätig war. Neben Kurzgeschichten schrieb er bislang drei historische Fantasy-Romane für die Serie The Berserker (wobei er das Pseudonym Chris Carlsen benutzte), den Weird Fiction-Roman Necromancer sowie die beiden SF-Romane Eye Among the Blind (Im Tal der Statuen) und Earthwind (Erdwind). Holdstock hat eine Vorliebe für irrationale, mystische und okkulte Dinge – was auch dem vorliegenden Roman anzumerken ist –, wurde ansonsten aber mit der Science Fiction groß und ist auch im Sekundärbereich mit ihr befaßt. So machte er sich als Herausgeber der reich bebilderten Encyclopedia of Science Science Fiction einen Namen. Ein anderes bemerkenswertes Werk ist der Bildband Alien Landscapes, der von Holdstock gemeinsam mit dem Redakteur der angesehenen englischen SF-Fachzeitschrift Foundation erstellt wurde. Hier illustrierten prominente SF-Künstler wie Jim Burns, John Harris, Bob Fowke, Les Edwards u. a. einige bekannte „alien landscapes“, d. h. Handlungsorte von Werken wie Frank Herberts Dune, James Bushs Oakie-Serie, Nivens Ringworld, Aldiss’ Hothouse, Clements Mission of Gravity u. a. (Die deutsche Ausgabe dieses Bildbandes ist unter dem Titel Unter fremden Sonnen im Moewig Verlag erschienen.)
Aber zurück zu Earthwind (Erdwind), einem außergewöhnlichen und eigenwilligen Roman des Engländers, der als Autor gewiß zu den talentiertesten Neuentdeckungen der englischen Science Fiction zu rechnen ist. In Earthwind geht es um geheimnisvolle Zusammenhänge zwischen einer Felszeichnung in Irland und damit identischen anderen Zeichnungen in der Steinzeitkultur eines fernen Planeten, um eine Frau, die unbedingt herausfinden möchte, wie es um diesen Zusammenhang bestellt ist, und bereit ist, für diese Erkenntnis alles zu opfern, und schließlich und vor allem um des Rätsels Lösung, die nichts mit Besuchern aus dem All, sondern mit einem übermächtigen Orakel zu tun hat. Dieses Orakel ist eine Art Knotenpunkt zwischen Raum und Zeit und eigentlich nur erfahrbar, nicht verstehbar.
Es nimmt den mit ihm konfrontierten Menschen alles, ihr Gedächtnis, ihr Blut, ihre Liebe, ihre sozialen Bindungen, ihre Würde, zuletzt ihr nacktes Leben – um schließlich zwei Opfern ein neues Leben und eine neue Identität zurückzugeben.
Diese geschlagene Frau, diese Elspeth Mueller – unterliegt sie nun letztendlich, oder geht sie als Überlegene aus dieser Konfrontation hervor? Diese Frage drängt sich mir auf, und sie scheint mir wichtig. Ich weiß nicht, wie Sie, der Leser, diese Frage beantworten würden, auch nicht, wie der Autor selbst diese Frage vom Leser gern beantwortet haben möchte – wenn ihm die Frage überhaupt wichtig scheint.
Ich sehe in diesem Werk eine Auseinandersetzung mit der Stellung des Menschen im Universum, der belebten und der unbelebten Natur gegenüber, was letztlich auf eine Suche nach der menschlichen Identität hinausläuft. Die Erkenntnis, daß der Mensch heute nicht mehr im Einklang mit seiner Umwelt (der natürlichen, aber auch mit der künstlichen) lebt, bringt in jüngster Zeit immer mehr SF-Autoren dazu, sich diesem Problem zu widmen und nach neuen Wegen zu suchen, um diese Entfremdung aufzuheben. Holdstock spricht es irgendwann zu Beginn des Romans an: Die Erdeais funktionierendes Ökosystem gibt es nicht mehr, die Menschen sind in gewisser Weise Entwurzelte, und genauso handeln sie auch – denn die Aggressivität, die Brutalität und Gewalt, mit der sich nahezu alle Beteiligten – vielleicht mit Ausnahme des „Rationalisten“ Ashka – begegnen, hat gestörte Züge an sich (Züge, die im übrigen auch bei den Aerani auftreten, als sie nicht mehr im Einklang mit ihrem Orakel stehen). Sie benötigen das ching, ein Orakel, Rationalisten, um einen Weg zu finden, der sie mit der Umwelt in Einklang bringt, das natürliche Gespür dafür scheint verlorengegangen zu sein.
Genau dies macht sie so anfällig für dieses Etwas, dieses übergroße Orakel, das ihnen auf dem Planeten Aeran begegnet – es zieht sie magisch an, bewußt oder unbewußt, sie kommen nicht davon los. Aber es erwartet sie nur Tod oder Vergessen, denn die Menschen, so Holdstock, haben sich entfernt von ihren Ursprüngen, die es ihnen noch ermöglichen, die Kräfte des Universums zu spüren.
Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Ja, für mich hat diese Elspeth Mueller verloren, ist die Unterlegene. Aber ich argwöhne, daß der Autor dies anders sieht. Dann allerdings hätte er, meiner Meinung nach, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Denn ich glaube nicht, daß es ein Wert an sich ist, mit der Natur im Einklang zu leben (das tut auch und gerade ein Tier, und das tun, auf barbarischem Niveau, die beiden mit neuer Identität versehenen einstigen Gegenspieler). Vielmehr wird erst durch das Bewußtsein des reflektierenden Menschen der Einklang mit der Natur etwas Wünschenswertes, Nötiges, weil Erlebtes. Oder?
Hans Joachim Alpers