Freitag, 28. März

Stimmung: wolkig bis heiter

Sound: das Rauschen des Bluts in meinem Kopf

Thema des Tages: Die Lena, die ich kenne

 

 

Heute hat Lena etwas gemacht, was aus meiner Sicht nicht besonders klug war und das mir wirklich sehr viel Beherrschung bei meiner Reaktion auf ihre Erzählung abverlangt hat: Lena hat die neulich erworbenen Schuhe und das Kleid für das Standesamt zurückgegeben.

Ich atme. Ich atme ein, und ich atme aus. Und wieder ein und wieder aus. Während ich atme, versuche ich, nicht daran zu denken, wie viele Stunden wir nach den Sachen gesucht haben, wie sehr meine Füße danach schmerzten und dass das jetzt heißt, dass Lena wieder nichts anzuziehen hat. Ich atme weiter, um meine beste Freundin, die in wenigen Wochen heiratet und deren Trauzeugin ich bin, nicht auf der Stelle zu erwürgen. Ich atme, um sie nicht anzuschreien und ihr womöglich Unrecht zu tun. Denn, wer weiß, vielleicht hatte sie sogar einen plausiblen Grund, um die Teile in den Laden zurückzubringen, das Geld zu nehmen und einzustecken?

Ich werde es nie erfahren, wenn ich sie nicht danach frage, denn sie sitzt schweigend vor mir. Sie kennt mich gut genug, um zu wissen, |169|was ich gerade denke und dass es jetzt besser ist, mich nicht anzusprechen und mir einige Minuten Zeit zu lassen, die Neuigkeiten zu verdauen.

Das ist nicht die Lena, die ich kenne. Die Lena, die ich kenne, bringt keine Klamotten zurück, weil diese Lena nicht einmal den Kassenzettel aufhebt, und die Lena, die ich kenne, entscheidet sich schon mal gar nicht um. Diese Lena nämlich, die vergisst sofort nach einem Kauf, was ein Teil gekostet hat und wird nie von einem schlechten Gewissen geplagt, wenn es mal etwas teurer war. Zwischen zwei Atemzügen frage ich sie: «Warum?» Es klingt nicht ganz so aggressiv, wie ich erwartet habe, obwohl ich immer noch befürchte zu explodieren.

«Die Schuhe haben nicht den gleichen Ton wie mein Brautkleid. Ich habe es einmal tagsüber und einmal abends aneinandergehalten, aber es ist wirklich ein ganz anderer Ton, und es sah scheußlich aus», erklärt sie.

Anderer Ton? Wir hatten eine Stoffprobe dabei, als wir die Schuhe gekauft haben, und nie im Leben hat der Ton nicht gepasst. Diese Schuhe haben wir gekauft, weil sie als einzige in der gesamten Hamburger Innenstadt den Ton des Kleides exakt getroffen haben.

«Lena, wir haben vier Stunden nach diesen blöden Schuhen gesucht, die Verkäuferin, zwei anwesende Kundinnen, später dann Maja, Anna und Henrike, du selbst und ich waren uns einig: Das war der Ton des Kleides. Was genau ist also mit dem Ton seit der letzten Woche passiert, das er jetzt nicht mehr passt?», presse ich, nur noch mühsam beherrscht, hervor. Erwähnte ich schon, dass die Lena, die ich kenne, niemals so einen Eiertanz um eine eventuell abweichende Farbnuance anstellen würde? Mich würde jetzt wirklich interessieren, was genau in den letzten Tagen passiert ist.

Meine Frage ignorierend, erklärt sie mir: «Und das Kleid für das Standesamt war zu kurz.»

|170|Zu kurz? Ich höre wohl nicht richtig! Das Teil ging ihr bis knapp unter das Knie, die einzig akzeptable Länge, bevor ein Kleid bis zum Boden reichen muss, um nicht nach Senioren-Uniform auszusehen.

«Zu kurz? Der Ton weicht ab? Sag mal, Lena, hast du irgendetwas geraucht? Oder Pilze gegessen? Was ist eigentlich los mit dir?», frage ich sie, und kurz bevor ich die Beherrschung verliere, mache ich mir nochmal bewusst, dass sie bald heiratet. Ist das eventuell ihre Art, kalte Füße zu bekommen? Hat sie sich mit Karl gestritten? Will sie nicht mehr heiraten? Nein, ganz sicher nicht. Die Lena, die ich kenne, weiß, worauf sie sich eingelassen hat und wird sich nicht drücken. Wobei sich mir so langsam die Frage stellt, wo die Lena, dich ich kenne, sich wohl gerade versteckt hält.

«Der Ton der Schuhe hat sich wirklich mit dem Kleid gebissen, und das Teil für das Standesamt war echt zu kurz. Ich mochte beides nicht», klärt Lena mich auf.

Mir fehlen einfach die Worte, und plötzlich begreife ich: Ich muss loslassen. Mir wird klar, dass nicht ich dafür verantwortlich bin, dass sie passend eingekleidet ist. Auch bin nicht ich diejenige, die sich für oder gegen Schuhe oder Kleider entschließen muss, das muss Lena, und zwar trotz aller Freundschaft allein, ohne mich. Wenn sie der Meinung ist, dass der Ton nicht passt und das Kleid zu kurz ist, dann ist das ihre Wahrheit, und ihre Wahrheit gilt, denn sie ist die Braut und muss sich im Mai wohlfühlen.

Ich atme noch einmal ein und noch einmal aus und beruhige mich. «O. k., alles klar. Der Ton passte nicht, und das Kleid war zu kurz. Gut. Du hast die Sachen zurückgebracht. Haben sie dir das Geld zurückgezahlt?», frage ich meine beste Freundin in mittlerweile wieder normalem Ton.

Lena sieht mich an. Sie schätzt gerade ab, inwiefern ich das Gesagte ernst meine oder ob sie noch mit einer Standpauke, einem |171|Wutanfall oder anderweitigen emotional extremen Reaktionen meinerseits rechnen muss. «Ja, ich habe das Geld zurückbekommen. Und ich habe heute ein anderes Kleid und andere Schuhe online bestellt. Die Sachen waren süß, und ich habe keine Lust mehr, durch irgendwelche Läden zu laufen», erzählt Lena mir.

Sie zeigt mir die Kleidungsstücke am Rechner, in der Tat sehen sie toll aus und sollen bereits in dieser Woche geliefert werden. Gemeinsam überlegen wir, was passiert, wenn die bestellten Kleider nicht passen. Überlegen, in welchen Läden wir noch nicht waren, und wo sie noch suchen kann. Lena sieht mich an und fragt: «Kommst du mit, wenn es nötig wird, und berätst mich?»

«Ja, Lena, natürlich komme ich mit!» Meine Wut ist vergessen – ich bin ihre Trauzeugin, und wenn es nötig ist, kaufe ich bis zur letzten Minute Kleider mit ihr ein.