Dienstag, 15. April

Stimmung: schokoladig

Sound: mein Mantra im Kopf

Thema des Tages: «27 Dresses»

 

 

Es ist an der Zeit, etwas für mich zu tun. Heute werde ich mich darum kümmern, was ich auf Lenas Hochzeit tragen werde. Neulich habe ich diesen Film mit Katherine Heigl gesehen, 27 Dresses. Heigl spielt darin die perfekte, aber einsame Brautjungfer. Eine |186|typische Hollywood-Story und bis auf eine Szene eher belanglos. Die Szene, in der ich mich sehr an mein eigenes Leben erinnert fühlte, dreht sich um Heigls Kleider, die sie im Lauf ihrer Brautjungfernzeit zusammengesammelt hat. In den USA ist es üblich, dass die Braut die Kleider ihrer Brautjungfern bestimmt. Im Film ist Heigls Einbauschrank zu sehen, der vor lauter Kleidern, die sie nur einmal tragen konnte, überquillt. Passend vorhanden sind natürlich jeweils Taschen und Schuhe. Die Kleider bewegen sich häufig am Rande des Zumutbaren: Von der mintfarbenen langen Robe über das geschnürte Farmerinnen-Kleid bis hin zum Mini hat sie viele Scheußlichkeiten im Schrank hängen.

Geht mir ähnlich – ich habe diverse Kleider, Röcke und Oberteile gesammelt, die ich auf den einzelnen Hochzeiten getragen habe. Aber anzuziehen habe ich dennoch nichts. Irgendetwas ist ja immer: Das eine zu schwarz, das andere zu groß, ein weiteres total grauenvoll. O Gott, DAS soll ich ernsthaft mal getragen haben? Und jedes Mal wieder überrascht es mich, in wie großen Schritten das Ereignis sich auf mich zu bewegt.

Lena nicht ganz unähnlich verfalle ich etwa sechs Wochen vor der Hochzeit, nachdem ich eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Kleider gemacht habe, in eine Art Schockstarre. Wie eine Geisteskranke rede ich mir ein, dass ich noch total viel Zeit habe und mir sicher etwas einfällt. Abgelöst wird diese von der nächsten Phase, die in der Regel vier Wochen vorher einsetzt: Ignoranz.

Per Verdrängung und Beschäftigung mit allerlei anderen Dinge schaffe ich es hervorragend, keinen einzigen Gedanken an mein Problem zu verschwenden. Leider mehren sich in dieser Zeit die Fragen à la: «Was ziehst du denn an?» Auch die werden ignoriert – je nach Gesprächspartner einfach überhört, freundlich weg gelächelt oder durch einen geschickten Themenwechsel abgeschnitten.

Zwei Wochen später beginnt Phase drei: Panik. Wo bekomme ich jetzt ein anständiges, mir gefallendes, dem Wetter angemessenes |187|Ensemble her? Es folgt die obligatorische Google-Bildersuche und die Erkenntnis: Das geht alles gar nicht.

Unterwegs durch die diversen Läden Hamburgs fällt mir zum wiederholten Mal auf, dass ich weder der mauvefarbene Plüschtyp bin noch auf mintfarbenes Satin stehe und Schleifen überm Po unmöglich finde. Meist steigert sich die Panik dann zu hysterischen Anfällen bezüglich meiner Figur: zu groß, zu dick, zu unproportioniert. Das schwarze Kleid wäre gut, wenn es lang genug wäre, das rote finde ich o. k., aber dazu finde ich in der Kürze der Zeit ganz sicher keine Schuhe mehr. Pink ist total angesagt und steht mir, aber der Schnitt des Kleides ist einfach zu sportlich. Schwarzer Rock? Langweilig. Das Abendkleid? Ich kann den Stoff nicht ausstehen. Die Korsage? Schick, lässt aber meinen Hüftspeck unschön hervorquellen. Grauenvoll, teuer und langweilig.

Retter in der Not war bisher sehr oft meine Mutter. Sie schneidert auch in kürzester Zeit nochmal ganz schnell das eine oder andere Teil. Stoff besorgt sie auch, ebenso hält sie Ausschau nach passenden Schuhen, denn wenn man so wie ich auf großem Fuß (Größe 42) lebt, ist das mit der Auswahl so eine Sache.

Lena hat mir nie geglaubt, dass ich keine Schuhe finde. Sie dachte immer, mir erginge es wie ihr: jede Menge Auswahl, aber nichts, was gefällt. Das kann man mit Größe 39 auch leicht annehmen. Neulich habe ich sie mitgenommen und ihr das Regal meiner Schuhgröße einer großen Kette gezeigt. Vorhanden war sogar eine vergleichsweise große Auswahl von etwa 25 Paaren. Lena lief das Regal entlang und schüttelte unentwegt den Kopf. «Das ist wirklich alles? Die haben nicht noch andere Modelle in der Größe vorrätig?», fragte sie erstaunt.

Nein, Lena, das haben sie nicht. Und bei genauerem Hinsehen stellte sie fest, dass etwa 24 Paare nicht in Frage kamen, weil sie vom Aussehen her entweder in den Garten, ins Haus oder an die Füße einer betagten Seniorin gehörten. Beige, komfortable Weite und praktische Gummisohle. Mit uns standen weitere Frauen zwischen |188|30 und 50 Jahren vor dem Regal und schüttelten genauso wie wir ihre Köpfe.

«Gefällt Ihnen das, was Sie hier sehen?», fragte mich eine ältere Dame. Ich verneinte, in der Annahme, dass sie eigentlich Zielgruppe der ausgestellten Modelle sei. «Grauenvoll. Dabei sind die Hanseatinnen schon immer große Frauen mit entsprechenden Füßen gewesen», kommentierte sie unser aller Entsetzen.

Ich mag gar nicht an den Fall denken, dass ich mir auch noch Schuhe kaufen muss. Das wäre undenkbar, zumal ich mir für Lenas Hochzeit auch noch zwei Kleider kaufen muss – morgens auf dem Standesamt kann ich kaum im Abendkleid erscheinen.

Aber in diesem Jahr wird alles anders: Ich werde die drei Phasen und alle Selbstzweifel erst gar nicht aufkommen lassen, weil ich mich ja schon heute um das Thema kümmere. Gut, es sind nur noch fünf Wochen und ein paar Tage, aber das ignoriere ich. Ich habe einen Urlaubstag geopfert und werde ganz entspannt und ohne Vorurteile durch die Läden streifen. Und ich werde etwas finden, da bin ich mir sicher. Geld wird keine Rolle spielen, und Schuhe finde ich ganz sicher auch.

Das positive Mantra «Ich schaff das schon» vor mich hin murmelnd, breche ich auf. Nein, nicht direkt in die City, ich will keine Standardware, sondern etwas Besonderes. Daher führt mein Weg mich in die Marktstraße, an der viele kleine Läden mit besonderen Stücken angesiedelt sind. Entspannt sehe ich mir die ersten Läden an. Leider sind die Kollektionen alle viel zu sportlich ausgerichtet. Keine Panik, ich werde etwas finden.

Anderthalb Stunden später habe ich alle vorhandenen Läden abgeklappert und nicht ein passendes Stück gefunden. Den aufsteigenden Frust kämpfe ich tapfer nieder und fahre dann eben doch in die Innenstadt, ich muss ja nicht in diese schreckliche Abendmodeabteilung im Kaufhaus gehen. Dann treffe ich auch nicht wieder auf die äußerst freundliche Verkäuferin, die mir letztes Jahr unbedingt gegen meinen Willen ein Kleid Größe 44 verkaufen |189|wollte, weil es «Ihren Hüften so schmeichelt». Von wegen schmeicheln, das saß wie ein Kartoffelsack und wenn Designer so klein entwerfen, dass ich nur noch in Kartoffelsäcke passe, kaufe ich sie eben nicht, auch wenn ich das Größen-Etikett heraustrennen könnte. Und nein, es handelte sich um die deutsche und nicht, wie zu vermuten wäre, die kleinere südeuropäische Größe.

An dieses Ereignis darf ich nicht denken, das macht meine positive Stimmung zunichte, und die brauche ich dringend, um erfolgreich zu sein. Ich werde auch kein Eis, Kuchen oder süßes Brötchen zum Trost essen, ich werde einfach in den nächsten Laden gehen, mich umsehen, Dinge anprobieren, die es sonst nie in meine Umkleide geschafft hätten, und mich gut fühlen.

Drei Stunden später habe ich kapituliert: vor mir, der Mode, dem Angebot und meinem Vorsatz. Ich sitze in meinem Lieblings-Coffeeshop vor zwei doppelt schokoladigen Muffins mit der größten verfügbaren Portion Vanilla-Latte, ja, extra viel Sahne bitte, und beginne mich auf Phase eins, die Schockstarre, vorzubereiten.

Bevor ich als Nächstes von der Brücke springe, weil ich mal wieder versagt habe, nehme ich das Handy und wähle ohne größeren Widerstand die Nummer meiner Eltern. Auch wenn es demütigend ist, mit 30 Jahren nach einer Niederlage nach Mutti zu rufen, sie ist die Einzige, die jetzt trösten und helfen kann: «Mami, es ist schon wieder passiert.» Meine Mutter hört sich den Bericht meiner verzweifelten Suche an.

Wie viele Déjà-vus erträgt so eine Mutterseele eigentlich? Meine hört sich das jetzt jedenfalls das fünfte Jahr in Folge an. An ihrer Stelle würde ich entnervt auflegen und mein Kind seine Probleme allein lösen lassen. Zum Glück unterscheiden wir uns diesbezüglich. Sie hört geduldig zu, fragt nach, versteht und tröstet mich besser, als jeder Schokokuchen der Welt das könnte. (Was mich nicht davon abhält, einen weiteren Muffin zu ordern.)

«Mäuschen, isst du Schoko-Muffin?», fragt sie prompt nach. Mist, sie hat das Kauen gehört.

|190|«Äähm, ja also, so ein winziges Stück», schummele ich die zwei Portionen klein. Sie seufzt, denn der Grad meiner Verzweiflung lässt sich seit Kindertagen an der Menge verzehrter Schokoladenkuchen ablesen. «Es waren zwei», gebe ich zerknirscht zu, nützt ja nichts, sie durchschaut mich ja sowieso.

Kurz bevor ich ihr die Kapitulation verkünde, macht sie mir einen Vorschlag: «Was hältst du davon, wenn du am Wochenende nach Hause kommst und wir zusammen hier noch einmal gucken, was es im Angebot gibt?»

Sehr gute Idee, Mami. Ich lasse den zweiten angegessenen Muffin stehen, um mir umgehend eine Fahrkarte zu kaufen und anschließend eine Extra-Runde auf dem Laufband einzulegen. So schnell lasse ich mich nicht unterkriegen.