Oktober 2007

 

„Wie geht es Ihnen heute, Frau Senn? Sie sehen besser aus als vor vier Tagen, Sie haben mehr Farbe im Gesicht“, sagte Doktor Viktoria Fischer, als ihre Patientin im Stuhl gegenüber Platz genommen hatte.

„Ach wissen Sie, ich schaue schon lange nicht mehr in den Spiegel. Es ist mir egal, wie ich aussehe, es interessiert sowieso niemanden“, seufzte Sybille mit weinerlicher Stimme.

„War das früher anders?“

„Blöde Frage – natürlich war das früher anders!“ brach es unvermittelt aus Sybille heraus. „Eine Direktionssekretärin muss gepflegt sein, sich angemessen kleiden und überhaupt gut aussehen. Kostüm, Seidenbluse, Strümpfe, Makeup – ohne ging ich nie aus dem Haus. So unmöglich angezogen wie Sie, in Jeans und Pullover, hätte ich nie einen Kunden empfangen. Sind Sie überhaupt qualifiziert für diese Therapie? Haben Sie einen Doktortitel?“

Sybille richtete sich auf und ihre Stimme wurde lauter.

Gut so, dachte Viktoria und machte sich eine Notiz. Nach Wochen des Selbstmitleids und allgemeinen Elends kommt sie aus ihrem Schneckenhaus und beginnt Aggressionen zu entwickeln: ein Zeichen dafür, dass die Medikamente wirken. Geduldig antwortete sie auf die herausfordernden Fragen. „Ja, Frau Senn, ich habe doktoriert. Nach meinem Medizinstudium habe ich mich auf die Behandlung von Patientinnen und Patienten in seelischer Notlage spezialisiert.“

„Es gibt nämlich in der Psychiatrie hauptsächlich Scharlatane, das weiss jeder“, fuhr Sybille fort, als ob sie Viktoria gar nicht gehört hätte. „Diese Typen reden viel, verdienen einen Haufen Geld und helfen tun sie niemandem, im Gegenteil. Sie sind so wie die meisten Manager auch. Nur heisse Luft und hohle Theorie, und von Menschen haben sie keine Ahnung.“

„Sie scheinen schlechte Erfahrungen gemacht zu haben mit dieser Art von Leuten, Frau Senn.“

„Ja natürlich, was glauben Sie denn, Sie Ahnungslose? Truninger war auch so einer. Jahrelang war ich gut genug für die Firma, und dann plötzlich schmeisst er mich raus, wegen Indiskretion und mangelnder Leistung, einfach so!“ Sybille war erregt, sie stand auf und begann, zwischen dem Fenster und der Türe auf und ab zu gehen.

Truninger? Viktoria blieb angespannt aber ruhig in ihrem Sessel sitzen und bat Sybille, weiter zu erzählen.

„Bis Truninger kam, hatte man mich gebraucht in der Firma, ich wurde überall dort eingesetzt wo jemand ausfiel, zum Beispiel in der Buchhaltung, oder in der Rechtsabteilung, am Empfang oder bei wichtigen Sitzungen. Ich kannte alle Mitarbeiter, wusste über alles Bescheid und konnte dem Direktor immer wieder wichtige Hinweise geben. Alle mochten mich, erzählten mir ihre Sorgen und freuten sich, wenn ich ihnen zuhörte. Ich war jemand, bis dieser, dieser ...“ Sie zitterte am ganzen Leib. „Umbringen könnte ich ihn, und vorher foltern!“

„Ruhig, Frau Senn, ganz ruhig. Was hat er Ihnen denn getan?“

Aber Sybille liess sich nicht beruhigen. Sie schrie, dass er ihr von Anfang an nicht vertraut, sie nicht wahrgenommen habe, dass er sie der Indiskretion beschuldigt und ihr ständig kleinste Fehler vorgeworfen habe. Plötzlich packte sie die Blumenvase auf Viktorias Schreibtisch und schmiss sie auf den Boden. Sie hätte noch weiteren Schaden angerichtet, wenn Viktoria nicht nach einem Pfleger geklingelt hätte, der Sybille packte und auf einem Sessel festhielt. Viktoria gab ihr eine Beruhigungsspritze, und schlagartig entwich die Energie; Sybille war ein Häufchen Elend, als der Pfleger sie schliesslich auf ihr Zimmer führte.

Viktoria öffnete das Fenster und holte tief Atem. Der Geruch von nassem Laub strömte vom Park in ihr Arbeitszimmer, und die Kälte tat ihr gut. Sie trank ein grosses Glas Wasser in einem Zug aus – ein Whisky wäre besser gewesen, aber sie hatte noch zu tun. Sie wählte die interne Nummer des Oberarztes und sagte: „Stephan, ich hatte gerade eine ziemlich aufwühlende Sitzung mit Sybille Senn. Ich musste ihr eine Spritze geben, sonst hätte sie in ihrer Wut mein Büro völlig zertrümmert. Kannst du sie in den nächsten achtundvierzig Stunden gut überwachen, bitte? – Ja, ich habe zwei Tage frei. – Nein, suizidgefährdet ist sie im Moment eher nicht, ihre Aggression richtet sich gegen aussen. Ach, übrigens, weisst du zufällig, wo sie zuletzt gearbeitet hat? – Im Grand Casino in Aarau. Danke, ciao.“

Also doch.

*

„Ihre Haut ist etwas blass und an verschiedenen Stellen entzündet, Frau Fuchs. Ich werde nur ein ganz sanftes Peeling machen und Ihnen danach eine revitalisierende Maske auftragen, ist das für Sie in Ordnung?“

„Gerne, Marina, Sie wissen am besten, was zu tun ist. Ich freue mich vor allem auf die Entspannung, wie immer. Der Stress im Büro wirkt sich offensichtlich nicht nur auf den Schlaf, sondern auch auf die Haut aus.“

Und schon klingelte ihr Handy in der Handtasche; instinktiv wollte sie danach greifen, aber Marina hielt sie auf dem Stuhl fest.

„Entspannen Sie sich. Lassen Sie die Welt draussen und geniessen Sie meine Behandlung.“

„Sie haben recht, ich bin total nervös. Geben Sie mir das Handy, ich schalte es aus.“

Nach und nach gelang es ihr, sich gedanklich vom Casino zu lösen, und sie überliess sich den kompetenten Händen ihrer Kosmetikerin. Der angenehm heisse Dampf, der ihre Haut aufweichen sollte, reinigte auch ihre Atemwege und liess sie tief atmen. Als die sanften Finger mit der Gesichtsmassage begannen, schnarchte Elena bereits leise, und Marina konnte ohne Ablenkung konzentriert arbeiten. Ihre Gedanken kreisten um Diana, ihre Lehrtochter. Eine Kundin hatte sich über ihr Verhalten beschwert und verlangt, in Zukunft von einer anderen Kosmetikerin behandelt zu werden. Marina wollte heute noch mit Diana reden und ihre Seite der Geschichte anhören, obwohl sie wusste, dass das Gespräch kaum viel nützen würde. Diana war achtzehn, wunderschön und ziemlich überzeugt von sich selbst; sie liess nichts auf sich kommen und tat ihre Meinung jederzeit kund. Sie hatte noch nicht begriffen, dass Kundinnen und Kunden sich während und nach dem Besuch des Instituts schön fühlen sollten, egal ob alt oder jung, gut oder weniger gut aussehend.

„In der giftgrünen Bluse sehen Sie ziemlich krank aus, Frau Schwerzmann, da kann ich sogar mit Makeup nichts mehr machen“, war eine typische Diana-Feststellung – denken durfte sie solche Dinge, aber sie sollte den Mund halten. Nur, wie konnte man ihr das beibringen?

„Geht es besser mit Ihrer Lehrtochter?“ Elena Fuchs war erwacht und hatte den leisen Seufzer von Marina wohl gehört.

„Sie hört mir zu, aber sie hält Schonungslosigkeit, oder wie sie es nennt, Ehrlichkeit für wichtiger als Schmeichelei. Ich habe Ihren professionellen Rat befolgt und an Dianas Intelligenz appelliert, ihre guten Leistungen gelobt und ihr gleichzeitig klar gemacht, dass ich gewisse Verhaltensweisen nicht tolerieren werde. Genützt hat es wenig.“

„Dann müssen Sie ihr die Konsequenzen in aller Transparenz aufzeigen. Wenn sie ihr Verhalten nicht ändert, verliert sie die Lehrstelle. Sie kriegt eine letzte Verwarnung bei der nächsten Kundin, die sich beschwert, und die übernächste Beschwerde bedeutet das Ende der Zusammenarbeit. Ich würde das übrigens schriftlich festhalten und von Diana unterschreiben lassen.“ Aus ihren Worten sprach langjährige Erfahrung.

„Danke, Frau Fuchs, das werde ich tun. Vielleicht bringt diese Vereinbarung Diana dazu, ihr loses Maul zu zügeln. Ihre Haut hat sich übrigens tadellos erholt. Darf ich Sie für den Abend ein bisschen schminken?“

„Aber nur ganz dezent, ich muss noch zurück ins Büro.“

Du solltest ausgehen statt arbeiten, dachte Marina, deine Rolle als Personalchefin frisst dich auf, und das Leben geht an dir vorbei. Sie hielt selbstverständlich den Mund.

*

„Wissen wir eigentlich, wie es Sybille Senn geht?“ fragte Tom Truninger am Schluss der Besprechung mit seiner Personalchefin. Er sass zurückgelehnt in seinem Stuhl, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Jacke seines Boss-Anzugs hing an der Garderobe. Das weisse Hemd spannte leicht über der Taille wenn er sass, aber für seine fünfzig Jahre sah er ganz gut aus: muskulöse, etwas untersetzte Statur, volles schwarzes Haar mit einzelnen grauen Fäden, kantiges Gesicht, gepflegte Hände.

Elena wusste, dass er sich im Grunde nicht für die Person Sybille Senn interessierte. Es war Neugier, die ihn fragen liess. Trotzdem gab sie ihm detailliert Auskunft.

„Ihr Mann sagte mir vor ein paar Monaten, die Antidepressiva seien gut eingestellt, und ihre Ängste habe sie grösstenteils auch im Griff, aber an Arbeit sei für längere Zeit nicht zu denken. Jetzt habe ich gehört, dass sie im September erneut einen massiven Krankheitsschub erlitt und wieder in die psychiatrische Klinik eingeliefert werden musste, die Ärmste. Sie sei schreiend vor ihrer eigenen Katze davongelaufen, hat man mir gesagt. Ich hoffe wirklich, dass man ihr in Königsfelden helfen kann.“

„Und ich bin ehrlich gesagt froh, dass wir das Arbeitsverhältnis definitiv aufgelöst haben. Sind wir juristisch irgendwie exponiert?“

„Nein.“ Höchstens moralisch, dachte Elena Fuchs, aber für diese Art von Moral interessierte sich Truninger definitiv nicht, das wusste sie.

„Sehr gut. Und wo stehen wir mit der Rekrutierung der neuen Croupiers?“

„Am Montag läuft die zweite Runde der Geschicklichkeitstests, und am Dienstag erhalten Sie die Liste der ernsthaften Kandidatinnen und Kandidaten. Sie wählen aus, wen Sie zu einem Gespräch sehen möchten.“

„Schöne Frauen dabei?“

„Selbstverständlich.“ Und vor allem gut qualifizierte, die wir dringend brauchen, du Macho – Elena konnte sich nur knapp eine bissige Bemerkung verkneifen.

„Danke, Elena, gute Arbeit. Ich habe jetzt eine externe Besprechung und möchte Sie so gegen sieben Uhr nochmals sehen, um den Workshop mit den Spielsüchtigen zu besprechen. Bitte halten Sie sich zu meiner Verfügung.“

Womit meine Flamenco-Stunde wieder mal im Eimer wäre, nur weil er von seinen Kadermitarbeitern den gleichen Einsatz verlangt wie von sich selbst, seufzte Elena in Gedanken. Ein attraktiver, energiegeladener Wirbelwind war er – und manchmal ein skrupelloses Ekel. Muss man wahrscheinlich in seiner Position sein, um Erfolg zu haben, dachte sie resigniert und rief ihre Tanzlehrerin an.