Donnerstag, 8. November 2007

 

Dienstchef Nick Baumgarten und Korporal Angela Kaufmann waren auf dem Weg nach Küttigen zu Maggie Truninger.

„Kirchbergstrasse, das muss eine der Terrassensiedlungen sein, die mit der tollen Aussicht“, sagte Angela. „Als sie vor fünf Jahren gebaut wurden, kostete jedes Haus schon eine Million.“

„Das konnte sich Truninger durchaus leisten“, antwortete Nick, „er verdiente als Geschäftsführer rund zweihunderttausend Franken im Jahr, ohne Bonus. Die Personalchefin hat mir gesagt, dass seine Erfolgsbeteiligung sich in den letzten drei Jahren auf eine ähnliche Summe belief; sie ist an guten Geschäftsgang gekoppelt. Also hatte er genügend Geld, um von einer Bank eine Hypothek zu bekommen und die Zinsen zu zahlen. Sogar die Amortisation liegt noch drin, selbst bei einem angenehmen Lebensstil.“

„Fast eine halbe Million“, seufzte Angela, „wesentlich weniger als gewisse Topmanager in unserem Land, aber deutlich mehr als kantonale Polizeibeamte ...“

Sie parkten auf einem der Besucherplätze und drückten auf die Klingel, die mit ‚Thomas, Margarete und Selma Truninger‘ angeschrieben war. Das Kind ist wichtig, dachte Angela, und schon klang es aus der Gegensprechanlage: „Ja, bitte?“

„Kriminalpolizei Aargau, Frau Truninger, wir haben telefoniert.“

„Ich schicke Ihnen den Lift, es ist das zweitoberste Haus, Knopf 6.“

„Nicht nötig, wir nehmen die Treppe“, rief Angela und ignorierte den schiefen Blick ihres Chefs. „Ein bisschen Training tut dir gut, dann schlägt der gute Wein nicht so auf den Bauch.“ Baumgarten war mit seinen fünfundfünfzig Jahren zwar nicht unsportlich, aber längst nicht mehr so fit wie nach der Polizeischule. Treppensteigen war gut fürs Herz, das hatte ihm beim letzten Gesundheitscheck auch der Polizeiarzt gesagt. „Aber in meinem eigenen Tempo, du junges sportliches Ding, ich will nicht ausser Atem sein, wenn wir der trauernden Witwe begegnen.“

Als sie im sechsten Stock ankamen, schlug sein Herz ziemlich schnell, aber er liess sich nichts anmerken. Die Frau, die unter der Türe stand, war sehr blass und wirkte gleichzeitig gefasst. Sie führte die beiden Beamten in den grossen Wohnraum und bat sie, sich zu setzen. „Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten, oder lieber etwas anderes?“

Der Raum war grosszügig gestaltet: klare Linien, warme Farben kombiniert mit winterweiss, moderne Bilder an den Wänden und mit Rohseide bezogene Kissen auf den Sofas. Italienische Designmöbel, dachte Nick, wer von den beiden hat wohl den guten Geschmack? Er tippte auf Maggie Truninger, die Stil und Eleganz ausstrahlte: gross und schlank, die dunklen Haare im Nacken zusammengebunden, in einer schmalen schwarzen Hose und einem schwarzen Rollkragenpulli. Weder Makeup noch Schmuck waren zu sehen, Augen und Nase waren gerötet, aber ihre Gesten waren kontrolliert, und die Hände zitterten nicht, als sie den Kaffee servierte. Eine, die sich nicht gehen lässt, auch dann nicht, wenn ihre Welt zerbricht, schoss es Angela durch den Kopf. Haltung bewahren heisst die Devise.

„Wir möchten Ihnen unser Beileid aussprechen“, begann Nick und machte eine gebührende Pause. „Ich werde Ihnen erzählen, was wir wissen, und dann bitte ich Sie, uns ein paar Fragen zu beantworten.“

„Mama, warum ist Papa tot?“

Alle blickten hinüber zum Korridor, wo die Frage herkam. Die etwa sechsjährige Selma hatte die zierliche Gestalt und das Gesicht ihrer Mutter, aber ihre Zöpfe waren blond und ihre grossen Augen blau.

„Komm her, Selma. Das sind Herr Baumgarten und Frau Kaufmann von der Polizei, sag Guten Tag.“

„Guten Tag, ich heisse Selma Truninger.“ Sie gab Nick und Angela die Hand, dann kuschelte sie sich an ihre Mutter und wiederholte die Frage. „Warum ist Papa tot?“

„Das wissen wir nicht, Selma. Herr Baumgarten und Frau Kaufmann werden es hoffentlich bald herausfinden.“

„Haben Sie ein Schiesseisen?“ Selma stellte sich direkt vor Angela hin und schaute sie neugierig an.

„Ein was?“

„Mein Mann brauchte diesen Ausdruck für Schusswaffen. Selma imitiert ihn wo sie kann, er ist ihr grosser Held.“ Maggie lächelte gequält.

„Im Wilden Westen sagt man Schiesseisen“, erklärte die Kleine mit wichtiger Miene. „Haben Sie eins?“

„Ja, Selma, ich habe eine Pistole, siehst du, hier unter dem Arm. Jetzt möchten wir aber gerne eine Weile mit deiner Mama allein sein. Gehst du bitte in dein Zimmer?“ Angela hatte bemerkt, wie wohlerzogen das Mädchen war. Und wirklich, sie widersprach nicht. Selma schaute zu ihrer Mutter, welche nickte, und die junge Dame verschwand in ihrem Zimmer.

Nick und Angela gaben Maggie die wenigen Fakten bekannt, die sie über den Tod ihres Mannes bereits hatten: Tatwaffe, Tatzeit, Tatort. Was ihnen jedoch bisher fehle, sagte Baumgarten, sei ein Motiv, und sie möchten deshalb gerne möglichst viel über Tom Truninger in Erfahrung bringen.

„Frau Truninger, erzählen Sie uns doch etwas über Ihren Mann. Wer war er? Was bewegte ihn? Wer waren seine Freunde? Seine Feinde?“

„Er war wunderbar, einfach nur wunderbar.“ Sie konnte ihre Tränen kaum zurückhalten. „Er liebte seine Tochter, er liebte mich, er liebte seinen Beruf. Er arbeitete hart für seinen Erfolg, aber er nahm sich Zeit für uns, viel Zeit. Dass die Familie das Wichtigste im Leben ist, war für ihn nicht nur eine Floskel.“

„Wie lange waren Sie verheiratet?“ Nick hoffte, dass er diese Frau im Verlauf seiner Nachforschungen nicht würde enttäuschen müssen.

„Wir kennen uns seit zwölf Jahren. Geheiratet haben wir vor sieben Jahren in Las Vegas, als ich schwanger wurde. Eigentlich wollten wir keine Kinder, aber Selma ist das Allerbeste, was uns passieren konnte. Jetzt bleibt nur noch sie ...“ Maggie nahm ein Taschentuch aus der bereitstehenden Box.

„Sollen wir morgen wiederkommen, Frau Truninger?“ Angela war nicht sicher, ob die Witwe ihnen heute irgendeine wichtige Information geben konnte.

„Nein, fragen Sie ruhig. Ich brauche nur etwas Wasser. Sie auch?“

Sie erhob sich und ging zur offenen Küchenkombination.

„Gerne. Könnte Ihr Mann in seinem beruflichen Umfeld Feinde gehabt haben?“ In dieser Branche konnten Konkurrenten rasch zu Feinden werden, dachte Nick.

„Sehen Sie, darüber weiss ich zu wenig. Wir haben selten über Details seines Geschäfts gesprochen. Er sagte immer, er wolle seine Sorgen nicht nach Hause tragen und uns nicht mit Negativem belasten. Das letzte Mal, als er über Probleme berichtete, war vor etwa fünf Jahren. Da gab es anscheinend eine kriminelle Organisation, welche die Casino-Holding unter Druck setzte und versuchte, Einfluss zu gewinnen. Ich glaube, er fürchtete damals um unser Leben, und deshalb sprach er mit mir darüber. Nach ein paar Monaten entspannte sich die Situation, und mein Mann konnte sich wieder auf seine Arbeit als Finanzchef der Holding konzentrieren. Seither ist nie mehr etwas Gravierendes vorgefallen.“

„Kennen Sie seine Mitarbeitenden im Casino?“ Nick versuchte angestrengt, irgendeinen Hinweis zu finden.

„Ich begleitete Tom natürlich immer zu offiziellen Anlässen, und die gab es mindestens zweimal im Monat. Die Mitglieder der Geschäftsleitung kenne ich alle, ebenso wie einzelne andere Mitarbeitende. Wir haben allerdings keinen privaten Kontakt mit diesen Leuten. Tom wollte wie gesagt Geschäftliches und Privates strikt trennen, und damit bin ich sehr einverstanden. Einladungen bei uns zuhause gibt es nur im Freundeskreis, wo wir uns wirklich entspannen können.“

„Ein gutes Prinzip“, sagte Angela, „wenn man es wirklich durchziehen kann. Im Kopf muss Ihr Mann doch seine geschäftlichen Themen mit nach Hause genommen haben, nicht wahr?“

„Das mag schon sein, aber er konnte gut abschalten, mit Musik und einem Whisky. Mit Selma zu spielen brachte ihn auch auf andere Gedanken. Manchmal gingen die beiden eine Stunde spazieren, wenn er nach Hause kam, und diskutierten über Gott und die Welt.“ Ihr Blick ging zu einem Foto auf dem Kaminsims, das Tom und Selma auf einer Wiese sitzend zeigte, offensichtlich vertieft in ein Gespräch.

„Sie haben Ihren Freundeskreis erwähnt“, sagte Angela. „Gab es da in letzter Zeit Rivalitäten oder Streit?“

„Natürlich gehen die Meinungen immer mal wieder auseinander, und Tom führte manchmal endlose Diskussionen mit unseren Freunden. Dabei ging es oft um die Legitimität von Spielcasinos, und bei diesem Thema konnte Tom mächtig stur sein. Aber ernsthaften Streit gab es nicht wirklich – das Äusserste waren Meinungsverschiedenheiten über gemeinsame Ferienziele mit den Kindern. Von Andrew Ehrlicher, dem wichtigsten und besten Freund von Tom, habe ich Ihnen schon am Telefon erzählt. Er ist Amerikaner, aber seine Mutter kommt aus der Schweiz und lebt in Bern im Altersheim. Deshalb ist er oft hier, auch wenn er sonst in der Welt herumreist und an verschiedenen Orten Wohnsitze hat. Ich glaube, er wird Ihnen mehr sagen können zu Toms geschäftlichen Aktivitäten – die beiden unterhielten sich immer lange, wenn Andrew zu Besuch kam. Ich hoffe, dass er bald anruft und vielleicht sogar hierher kommt. Ich brauche seine Unterstützung.“ Und dann flossen plötzlich wieder die Tränen.

Nick stand auf. „Wir lassen Sie jetzt in Ruhe, Frau Truninger. Bitten Sie doch Herrn Ehrlicher, uns anzurufen. Wir bleiben in Kontakt.“

Maggie begleitete die beiden zur Tür und schloss sie leise hinter ihnen. Sie lehnte sich dagegen und glitt langsam zu Boden. Sie legte ihren Kopf auf die angezogenen Knie und versuchte zu begreifen. Was sollte aus ihr und Selma werden, ohne ihren Fels in der Brandung?

*

„Es stimmt, die Truningers sind längst nicht überall anzutreffen, wo man sie erwarten würde“, sagte Marina. „Sie suchen sich die Anlässe offensichtlich aus, und oft schickt Tom ein Mitglied seiner Geschäftsleitung an seiner Stelle. Man sagt, er arbeite hart und nehme sich gleichzeitig alle möglichen Freiheiten: Ferien, verlängerte Wochenenden, freie Tage. Nicht dass es daran prinzipiell etwas auszusetzen gäbe.“

„Du redest in der Gegenwart, Liebes. Jetzt ist er tot, und seine Tochter will wissen, warum.“ Nick stand am Herd seiner Wohnküche und kochte die Baumgarten’sche Version von Pasta Cinque Pi: piselli, prociutto, panna, pepe und prezzemolo. Ein grosse Schüssel Salat stand auf dem Tisch, und der 97er Amarone della Valpolicella von Giuseppe Campagnola war bereits zur Hälfte ausgetrunken. Köche brauchen etwas zu trinken, das hatte schon seine Grossmutter immer gesagt. Besonders an einem solchen Abend, wenn die Aussicht bestand, dass die wunderbarste Frau der Welt die Nacht hier verbringen würde, dachte Nick vergnügt. Trotzdem fragte er weiter.

„Weisst du sonst noch etwas über die beiden?“

„Hast du bei deinem Besuch bemerkt, wie schön und stilsicher sie ist? An der Neueröffnung des Grand Casinos stand sie in ihrem nachtblauen, schulterfreien Ballkleid im Zentrum der Aufmerksamkeit, und die Männer lagen ihr alle zu Füssen. Eine Haltung wie eine Königin, und gleichzeitig offen und freundlich mit allen, das scheint ihr Geheimnis zu sein. Das machte sie so strahlend und glücklich, aber damit ist es jetzt wohl vorbei. Er liegt in der Rechtsmedizin, und Mutter und Tochter müssen einer Zukunft ohne Tom ins Auge blicken. Sie tun mir Leid.“ Marina machte ein bekümmertes Gesicht, aber nicht lange: Nick stellte einen köstlich duftenden Teller Pasta vor sie hin.

„Carpe diem“, lachte Nick, „wir wissen nie, wann es vorbei ist mit dem Leben. Salute, Marina, und guten Appetit.“

Er war fest entschlossen, diesen Abend zu geniessen. Umso besser, wenn er darüber hinaus von Marina noch etwas über das Umfeld von Truninger erfahren konnte. Er konnte Beruf und Privatleben nicht so klar trennen wie Tom, und er wollte es auch nicht. Er brauchte eine Gesprächspartnerin wie Marina, die ihn auf logische Fehlschlüsse hinwies, und die ihm neue Sichtweisen eröffnete. Eigentlich müsste ich ihr ein Beraterhonorar zahlen, dachte er, und nicht ein geiziges. Seit er sie kannte, hatte sie ihn schon mehrmals auf die richtige Spur geführt.

„Schmeckt es?“

„Das siehst du doch, mein begabter Sternekoch“, antwortete sie und hielt ihm ihren leeren Teller hin. „Gibts noch etwas mehr davon?“ Sie wusste, dass sie ihrer eher fülligen Figur zuliebe aufhören sollte, aber heute war es ihr egal. „Ich kann deinen Kochkünsten einfach nicht widerstehen.“

„Nur meinen Kochkünsten?“

„Aber nein, deine anderen verführerischen Talente hast du ja vor dem Essen bereits unter Beweis gestellt, und es kann dir nicht entgangen sein, wie sehr ich sie schätze“, lachte Marina. „Als Liebhaber und als Koch entsprichst du genau meinem Geschmack.“

Zufrieden und satt lehnte sich Nick zurück und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Ein runder, weicher Wein, nicht unbedingt mit dem typischen, etwas erdigen Amarone-Geschmack, aber gehaltvoll und harmonisch. „Gefällt er dir?“ fragte er.

„Er schmeckt mir sehr, obwohl ich dir nicht sagen könnte, ob er aus Spanien, Frankreich, Italien oder Übersee kommt. Nur dass es kein typischer Schweizer ist, das merke ich.“

„Früher oder später werde ich mit dir durch die Weingebiete Europas fahren und dir zeigen, wo die guten Tropfen herkommen. Dieser hier wächst in der Nähe von Verona, und wir könnten eine kleine Reise durch Norditalien machen, vielleicht im Frühling, wenn es hier noch kalt ist?“ Er hatte sich vorgenommen, in diesen Tagen nicht mehr über eine gemeinsame Wohnung zu sprechen, sondern höchstens über einen kurzen Urlaub. Er hoffte, dass diese Strategie der kleinen Schritte irgendwann zum Ziel führen würde. Und siehe da:

“Das ist eine wunderbare Idee. Ich war schon ewig nicht mehr in Italien, und überhaupt nicht mehr richtig in den Ferien. Lass uns das fest einplanen, dann kann ich mich auf etwas freuen. Espresso?“ Marina stand auf. „Du bleibst bitte sitzen, ab jetzt arbeite ich.“

Sie räumte Teller, Besteck und Pfannen in den Geschirrspüler und brachte ihm einen starken schwarzen Kaffee. „Du denkst über den Fall nach, nicht wahr?“

„Du kennst mich ja: einmal Polizist, immer Polizist. Ich kann die Arbeit nicht einfach in einer Schublade einschliessen, und bei einem solchen Mordfall gelingt es mir sowieso nicht.“ Er schaute Marina an. „Ich will dich nicht aushorchen, aber kennst du sonst noch jemanden vom Casino?“

„Und ob du mich aushorchen willst, Herr Kommissar! Ich muss allerdings sicher sein, dass die Informationen bei dir bleiben, und dass du sie nur brauchst, wenn sie der Sache dienen. Ich will nicht, dass Angela Kaufmann und Peter Pfister alles über meine Kundinnen wissen.“

„Ich verspreche dir, dass nichts von dem, was du mir anvertraust, an die Öffentlichkeit gelangt, grosses Ehrenwort. Also, du kennst noch jemanden?“

„Elena Fuchs, die Personalchefin, kommt regelmässig zu mir zur Behandlung. Sie ist schon seit Jahren eine Stammkundin.“

„Das hätte ich nicht gedacht – sie wirkte so unauffällig und war praktisch nicht geschminkt. Da hat sie wohl noch eine Seite, die sie im Geschäft nicht zeigt.“

„Ach weisst du, sie arbeitet viel und steht oft unter Druck, da lässt man sich gerne mal verwöhnen. Ich finde allerdings auch, sie könnte ein bisschen mehr Farbe im Gesicht gebrauchen, aber sie sperrt sich dagegen, sagt, sie lege keinen Wert auf Äusserlichkeiten. Sie sei eine gute und faire Personalchefin, sagen die Angestellten, und sie hat mir auch schon mit Rat und Tat geholfen bei schwierigen Situationen mit meinen Mitarbeiterinnen.“

„Lebt sie allein?“

„Abgesehen von ihrem Kater gibt es kein männliches Wesen in ihrer Nähe, zumindest soviel ich weiss. Aber manchmal sieht man auch als Kosmetikerin nicht unter die Haut, sondern nur bis an die Fassade.“