Oktober 2007

 

„Frau Senn, es scheint Ihnen besser zu gehen als letzte Woche. Wie fühlen Sie sich?“ fragte Viktoria und staunte über die Verwandlung ihres Gegenübers. Sybille Senn trug eine schwarze Hose, ein weisses T-Shirt und darüber eine dunkelgraue Jacke aus feinem Wollstoff. Mascara und Lippenstift komplettierten das Bild. Ich will zurück ins Leben, hiess die Nachricht, aus und fertig mit verbeulten Trainingsanzügen und strähnigen Haaren.

„Ich fühle mich schon viel stärker, Frau Fischer.“ Die leise, unsichere Stimme passte allerdings noch nicht zur äusseren Erscheinung, stellte Viktoria fest, da gab es noch Einiges zu tun. Immerhin, die letzten zwei Therapiesitzungen hatten offensichtlich Früchte getragen, und Viktoria hatte es geschafft, dass sich die Idee der Gerechtigkeit in Sybilles Gedanken festsetzte. Bei dieser Patientin war das Gefühl des erlittenen Unrechts so übermächtig, dass sie nur durch den Gedanken an Rache wieder neuen Lebensmut fassen konnte – obwohl das Konzept der Rache für eine ethisch einwandfrei handelnde Ärztin natürlich nicht akzeptabel war. Sie hatte deshalb mit ihrer Patientin über Recht und Unrecht gesprochen und ihr ein Mantra mitgegeben, das sie so oft wie möglich leise wiederholen sollte: Ich darf Gerechtigkeit erwarten.

Sybille Senn hatte Viktoria die ganze Geschichte ihrer Entlassung beim Grand Casino erzählt. Sie hatte als Springerin gearbeitet, am Empfang, in der Buchhaltung, bei Abwesenheit der Direktionssekretärin auch im Vorzimmer des Direktors. Weil sie in so vielen Abteilungen tätig war, wusste sie auch über die Mitarbeitenden und ihre Angelegenheiten Bescheid und fühlte sich für das emotionale Wohl der Belegschaft zuständig. Sie gratulierte zu Geburtstagen, Hochzeiten und Taufen, schickte Trauerkarten bei Todesfällen, machte Besuche im Krankenhaus, brachte selbstgebackenen Kuchen zu Festtagen. Das schien allerdings in der Geschäftsleitung nicht gut anzukommen, und die Personalchefin hatte sie zweimal zu sich zitiert und sie gebeten, diskreter zu sein, insbesondere bei Krankheits- und Todesfällen; ein weiterer Vorfall werde Konsequenzen haben. Eine Begründung dafür hatte sie ihr nicht liefern können, und Sybille Senn war der Ansicht, in der kalten Geschäftswelt sei etwas menschliche Wärme durchaus angebracht.

Sie hatte sich deshalb nicht von ihrem Tun abbringen lassen, und als sie von der Praxishilfe ihres Orthopäden hörte, dass Truningers Ehefrau für eine Knieoperation ins Krankenhaus musste, brachte sie ihr – auf Firmenkosten und während der Arbeitszeit – einen schönen Blumenstrauss in die Hirslanden-Klinik. Truninger rastete komplett aus. Er tobte und brüllte, jetzt sei genug geschnüffelt, sie sei fristlos entlassen, sie solle sofort ihre Schlüssel abgeben und ihre Sachen packen. Er liess Frau Fuchs kommen und Sybille Senn gleichsam von ihr abführen, und das war das Ende ihrer wunderbaren Zeit im Casino, und der Beginn ihrer Krankheit.

Wie furchterregend Truninger sein konnte, wusste Viktoria aus eigener Erfahrung. Dass Sybille Senn ihre mütterlichen Aktivitäten zu weit getrieben und die Warnsignale überhört hatte, war ihr auch klar. Trotzdem wäre es eine einmalige Gelegenheit, dem Herrn Direktor eins auszuwischen, ihn vielleicht sogar ein klein wenig das Fürchten zu lehren. Wirklich passieren würde kaum etwas: die Ich-Stärke ihrer Patientin war dafür bei weitem nicht gross genug.

„Heute wollen wir gemeinsam erarbeiten, wie denn die Gerechtigkeit, von der wir gesprochen haben, für Sie konkret ausschauen könnte. Schliessen Sie die Augen, Frau Senn, fantasieren Sie, lassen Sie Bilder vor sich aufsteigen. Stellen Sie sich das Büro von Herrn Truninger vor: Möbel, Bilder, Teppich, Farben. Wie sieht er aus? Was trägt er? Wie sitzt er hinter seinem Schreibtisch, wie schaut er Sie an? Lassen Sie diese Bilder auf sich wirken. Und nun sagen Sie ihm, was Sie schon lange sagen wollten, tun Sie, was Sie in Ihrer Vorstellung am liebsten tun würden.“

Still sass Viktoria da, während ihre Patientin die Szene beschrieb, die sich in ihrer Fantasie abspielte. Ab und zu fragte sie nach, verlangte Präzisierungen, bot Alternativen an.

„Und nun ändern wir Ihr Mantra, Frau Senn. Es heisst ab jetzt: Ich darf für Gerechtigkeit sorgen. Wiederholen Sie den Satz, so oft er Ihnen in den Sinn kommt. Wir sehen uns nächste Woche.“