Dienstag, 13. November 2007

 

Marina erwachte, weil die Patience in ihrem Kopf einfach nicht aufgehen wollte. Schwarz auf rot, rot auf schwarz, die Karten in absteigender Reihenfolge aufeinanderlegen, die Asse nach oben, eine endlose Schlaufe, die sich nicht unterbrechen liess und vor ihren geschlossenen Augen flimmerte. Beim Zubettgehen hatte sie erste Anzeichen eines Migräneanfalls gespürt und das Medikament eingenommen, das fast immer dafür sorgte, dass die Kopfschmerzen sich in erträglichen Grenzen hielten. Als sie jetzt den Kopf hob, um auf die Uhr zu schauen, wurde ihr sofort schlecht, und sie wusste, dass es diesmal wohl ernst war und ihr nur der Neurologe helfen konnte. Ganz langsam setzte sie sich auf und ging mit hochgezogenen Schultern, ohne den Kopf zu bewegen, ins Badezimmer, um die Tabletten gegen die Übelkeit zu holen. Aber das Wasser, mit dem sie die Pillen schluckte, führte sofort zu einer Rebellion des Magens, der sich drehte und alles wieder von sich gab. Auch einige kleine Schlucke Cola halfen nicht, sie musste sich schon wieder übergeben. Der Schmerz in ihrem Kopf zog sich vom Nacken über die Schläfen bis über das rechte Auge, und dort hämmerte ein ganzes Team von Bauarbeitern in der Absicht, ihre Schädeldecke aufzubrechen.

Erst halb vier Uhr, und an Schlaf war nicht mehr zu denken, sie musste ihre ganze Energie dafür aufbringen, nicht zu erbrechen. Wenn Nick jetzt hier wäre, würde er mich ins Kantonsspital fahren, aber er schläft sicher, und ich will ihn nicht wecken. Noch fünf Stunden, dann kann ich Doktor Hivatal anrufen, in vier Stunden Nicole, die meine Kunden entweder selbst behandeln oder die Termine verschieben kann. Ich werde es schaffen, die Treppen hoch durch die Altstadt zur Arztpraxis zu gelangen, auch wenn ich mich immer wieder hinsetzen muss und die Leute glauben werden, ich sei betrunken, weil ich mich an jeder Ecke übergebe.

Marina hatte gelernt, sich mit autogenem Training zu entspannen, aber in den Fängen eines solchen Anfalls schaffte sie es nicht. Sie konnte den Wasserfall der Gedanken nicht aufhalten: die Kundinnen, deren Termine sie nicht einhalten konnte, Nicole, der sie zusätzliche Aufgaben aufbürdete, die administrativen Aufgaben, denen sie sich hatte widmen wollen an diesem Nachmittag. Und dazwischen immer wieder die Karten, die sich nicht in die richtige Ordnung bringen lassen wollten, und die irrationale Angst, dass es diesmal eine Hirnblutung sei. Zwischen Halbschlaf und Aufschrecken schleppte sich die Zeit dahin, bis sie hörte, dass der Verkehr draussen mehr wurde und das Leben der gesunden Menschen seinen morgendlichen Lauf nahm. Um halb acht Uhr telefonierte sie mit Nicole, die versprach, alles zu organisieren, den Neurologen anzurufen und Marina abzuholen. Kurz nach acht Uhr war sie da, half Marina, die sich mühsam angezogen hatte, vom Sofa aufzustehen und brachte sie in die Rathausgasse.

Doktor Peter Hivatal residierte im zweiten Stock, direkt oberhalb des Kosmetikinstituts, und er kannte die Kopfschmerzgeschichte von Marina. Als sie in die Praxis kam, zusammengesunken, bleich, ein Häufchen Elend, nahm er sie am Arm und führte sie in ein abgedunkeltes Behandlungszimmer. Sie legte sich hin und fühlte sich schon etwas erleichtert: in einer Stunde würde der Anfall wenn nicht vorbei, so doch erträglich sein. Doktor Hivatal hatte die Infusion vorbereitet, und während der Mix aus Schmerzmittel, Antiemetikum und Beruhigungsmittel in die Vene ihres linken Arms tropfte, begann Marina sich allmählich zu entspannen. Die Gedankenwirbel wurden langsamer, der Magen drehte sich nicht mehr bis zum Erbrechen, die Bauarbeiter in ihrem Kopf tauschten den Presslufthammer gegen gewöhnliches Werkzeug. Nach einer halben Stunde kam der weisshaarige Arzt ins Zimmer, kontrollierte die Infusion und schaute Marina mit seinen freundlich blitzenden Augen an.

„Na, wie fühlen Sie sich?“ fragte er mit seinem ungarischen Akzent und setzte sich auf einen Stuhl neben der Liege. „Jedenfalls sieht Ihr Gesicht schon ganz anders aus als vorhin, die Augen haben wieder normale Grösse und die tiefe Falte auf der Nasenwurzel ist verschwunden. Sie werden wieder zu einer schönen Frau.“

„Ich fühle mich schon etwas weniger elend, danke“, murmelte Marina, „aber aufstehen kann ich noch nicht.“

„Das lasse ich auch gar nicht zu, meine Liebe. Ich ziehe Ihnen jetzt die Infusion, und wahrscheinlich schlafen Sie gleich ein. Sie bleiben noch mindestens eine Stunde hier, damit ich auf Sie aufpassen kann.“ Er kontrollierte Puls und Blutdruck, nickte zufrieden und zog sorgfältig eine Decke über sie. „Ihre tüchtigen Mitarbeiterinnen sorgen gut fürs Geschäft, machen Sie sich keine Gedanken, schlafen Sie wie ein kleines Kind und erholen Sie sich vom Gewittersturm in Ihrem Kopf. Bis später.“

Das ist leichter gesagt als getan, Herr Doktor, dachte Marina. Als selbständige Geschäftsfrau ist man immer allein für alles verantwortlich, man kann es sich im Grunde gar nicht leisten, krank zu sein. Ich habe zwar mittlerweile gelernt, mit diesen Anfällen zu leben, dachte sie, aber das schlechte Gewissen plagt mich jedes Mal, wenn Nicole für mich einspringen muss. Insgeheim zweifle ich daran, dass sie wirklich eine adäquate Stellvertreterin ist, was allerdings vielleicht mehr mit mir selber zu tun hat als mit ihr. Sie erinnerte sich an das Bonmot eines Psychologen, der selbst unter Migräne litt: wir Migräniker sind keine Perfektionisten, wir wollen die Dinge nur genau so haben, wie wir sie uns vorstellen. Trifft auch auf mich zu und erschwert mein Leben manchmal sehr, dachte Marina und schlief endlich ein.

Zwei Stunden später öffnete Doktor Hivatal leise die Türe. Marina hatte sich aufgesetzt und streckte sich wie eine Katze: „Ich fühle mich wie ein neuer Mensch, Herr Doktor – herzlichen Dank, einmal mehr“, sagte sie gähnend und stand auf. „Jetzt kann ich mich wieder meinen Pflichten zuwenden und im ersten Stock zum Rechten sehen.“

„Jetzt mal langsam, Frau Manz“, antwortete der Arzt, „Sie nehmen sich am besten den Tag frei und gehen nach Hause. Die Migräne ist unter Umständen nur unterdrückt und kann wieder ausbrechen, wenn Sie sich anstrengen, das wissen Sie. Setzen Sie sich bitte wieder hin.“

Er mass nochmals den Blutdruck, liess seinen Zeigefinger vor ihren Augen hin- und herwandern, prüfte ihre Reflexe. „Alles in Ordnung. Trotzdem, die Anfälle sind wieder häufiger geworden, und darüber müssen wir uns gelegentlich unterhalten. Sie arbeiten sehr viel, ihr Licht brennt, wenn ich am Morgen komme und Sie sind immer noch da, wenn ich meine Praxis abends um sieben oder acht Uhr wieder verlasse. Bei Ihrer Veranlagung setzt sich der Arbeitsdruck im Kopf fest und entlädt sich periodisch, so wie heute. Überlegen Sie sich, ob ein normaler Arbeitstag von acht Stunden nicht auch genügen würde. Heute wird auf jeden Fall nicht gearbeitet, ich habe Ihren Mitarbeiterinnen bereits mitgeteilt, dass sie erst morgen wieder mit Ihnen rechnen können. Essen Sie, worauf Sie Lust haben, trinken Sie viel und schlafen oder dösen Sie möglichst den ganzen Tag. Gute Besserung!“

Voller Energie und mit wehendem weissem Mantel schritt er hinaus – welche Vitalität, dachte Marina, für einen Siebzigjährigen. Sie spürte, wie wenig Kraft sie selbst hatte, und folgte seinem Rat: ohne im ersten Stock Halt zu machen, fuhr sie mit dem Lift nach unten und ging durch den kalten Novemberwind zu Fuss nach Hause.

*

„Was, am ersten Jahrestag der Entlassung? So ein Blödsinn!“ Peter Pfister lehnte sich lachend in seinem Bürostuhl zurück und kippte dabei beinahe um. „Die Herrschaften in Königsfelden lassen doch ihre Patienten nicht mit einem Küchenmesser in der Hand frei durch die Gegend laufen, das wäre ja noch schöner! Unsere Bürger können sich ja sowieso kaum mehr sicher fühlen mit all den Schnappmessern, die die Ausländer mit sich herumtragen, und dann noch die Verrückten dazu, wo kämen wir da hin. Nein, also ich glaube nicht, dass die Senn etwas mit dem Tod von Truninger zu tun hat.“

„Es heisst psychisch Kranke, nicht Verrückte, Peter.“ Angela Kaufmann schaute ihren Kollegen streng an. „Gerade wir Polizisten müssen unsere Worte sorgfältig auswählen, sonst werden wir sofort in die braune und rassistische Ecke gestellt.“

„Schon gut, Angela, dann kann ich ja gerade so gut von den geistig und seelisch Herausgeforderten reden, und das ist dann politisch so korrekt, dass es keiner mehr versteht. Für mich sind die Insassen der Irrenanstalt Königsfelden immer noch verrückt, und damit basta.“ Er faltete seine Hände über dem Bauch und amüsierte sich darüber, wie sie nach Luft schnappte. Er liebte es, seine junge Kollegin auf den Arm zu nehmen, und sie fiel immer wieder darauf herein.

Nick intervenierte. „Lasst das, ihr zwei, wir sind nicht im Kindergarten. Sybille Senn war mindestens so krank wie jemand, der an Krebs leidet, und ihre Krankheit war tödlich, wie wir wissen. Ertrunken ist sie irgendwann am Dienstag 6. oder Mittwoch 7. November, genauer will sich der Arzt nicht festlegen; die Klinik meldete sie als vermisst am Donnerstag Morgen, und gefunden wurde sie am Freitag Nachmittag. Über ihre Aktivitäten in den Tagen davor wissen wir bis jetzt nichts; sie lebte stationär in der offenen Abteilung, konnte sich also relativ frei bewegen und durfte das Areal während des Tages verlassen. Ihre betreuende Ärztin ist in einem Weiterbildungsseminar, und mit dem Stellvertreter kann ich erst morgen sprechen, wenn er sich mit der Ärztin in Verbindung gesetzt hat. Der Ehemann befindet sich in der Antarktis auf einer Kreuzfahrt; er wurde benachrichtigt und kommt so rasch wie möglich nach Hause. Rein theoretisch wäre es also möglich, dass sich Sybille Senn am Jahrestag ihrer Kündigung ein Küchenmesser beschaffte, sich in einen Zug nach Aarau setzte, auf irgendeine Art und Weise ungesehen in den Bürotrakt des Casinos gelangte und ihren Peiniger mit zwei gezielten Stichen von hinten tötete. Sie realisierte vielleicht erst nach der Tat, was das für sie bedeutete, und stürzte sich danach von einer Brücke. Ein gutes Motiv für den Mord hatte sie, denn sie könnte geglaubt haben, Truninger habe ihr Leben zerstört und sie in die Krankheit getrieben. Die Ärzte werde uns hoffentlich sagen können, ob sie auch in der Lage gewesen wäre, diese Tat zu begehen. Ich persönlich neige im Moment eher zur Ansicht, dass die beiden sich zwar kannten, dass aber zwischen dem Mord und dem Selbstmord kein Zusammenhang besteht. Was ist mit den anderen Personen, die Truninger entlassen hat?“

Angela holte die Unterlagen von ihrem Tisch und stellte sich an die Pinnwand. „Franz Fritschi, der Gärtner, der zuviel trank, arbeitet auf einem anthroposophisch geführten Bauernhof in der Provence. Er hat mir am Telefon bestätigt, dass er Truninger heute dankbar sei für den Rausschmiss, denn die Kündigung habe die Wende zu einem positiven Leben im Einklang mit der Natur eingeläutet. Der Leiter des Bauernhofs ist sicher, dass Fritschi zur fraglichen Zeit nie länger als zwei oder drei Stunden abwesend war.“

Sie steckte eine grüne Karte mit der Beschriftung Fritschi – Gärtner an die Wand. „Er kommt meines Erachtens nicht in Frage. Der Croupier, der einige Tausend Franken veruntreute, heisst Martin Schmidt und kam ursprünglich aus Deutschland. Als er den Job bei Truninger verlor, ging er zurück in seinen gelernten Beruf als Koch und heuerte auf einem Frachtschiff an. Dann lernte er auf Madagaskar eine Frau kennen und blieb bei ihr. Heute produziert und verkauft er dort Solarkocher, damit die Abholzung der Wälder nicht noch weiter fortschreitet. Die Technologie und das Geld für die Fabrik kommen von einem Schweizer Ingenieur, der damit seine individuelle Art von Entwicklungshilfe betreibt. Finde ich eine ganz tolle Idee, übrigens.“

„Was es nicht alles gibt auf dieser Welt“, seufzte Pfister, „da bin ich ja wirklich wieder dankbar für meinen Glaskeramikherd. Aber der Solarkoch hatte wohl keine Gelegenheit, husch husch einen Mord in Aarau zu verüben.“

„Nein, die hatte er nicht, und wie es scheint, brach er alle Kontakte zu ehemaligen Freunden und Bekannten in der Schweiz ab, mit Ausnahme des Ingenieurs. Der ist aber im Moment in Madagaskar und inspiziert sein Hilfswerk – ganz sicher nicht ohne seinen lokalen Kontaktmann. Ich denke, ihn können wir auch vergessen.“ Und sie nagelte eine weitere grüne Karte an die Wand: Schmidt – Croupier.

„Jetzt zu unserer Bardame mit Beziehungen zur Unterwelt, Melanie Weber. Sie ist seit einem halben Jahr verheiratet, ihr Mann ist Sanitärinstallateur und sie selbst betreibt ein kleines Nagelstudio hier in Aarau, in ihrem Einfamilienhaus am Stritengässli.“

„Ach, deshalb sind deine Hände heute so gepflegt!“ bemerkte Pfister grinsend.

„Das sind sie auch sonst, lieber Kollege. Jedenfalls behauptet sie, die Albanien-Connection sei längst nicht so wichtig gewesen wie Truninger glaubte, und überhaupt habe sie keinen Kontakt mehr zu diesen Leuten. Ja, sie sei damals sehr wütend gewesen auf Truninger und habe sich überlegt, ob sie einen ihrer Freunde bitten solle, ihn ein wenig zu erschrecken, mit einem Messer oder so. Dann habe sie aber bald ihren jetzigen Mann kennen gelernt und beschlossen, die Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen. Ob das allerdings wirklich so genau stimmt, stelle ich in Frage, denn während unseres Gesprächs fuhr ein grosser BMW vor, hupte, und sie rannte sofort hinaus. Der Fahrer sah nicht aus wie ein Schweizer Sanitärinstallateur, sondern eher wie jemand aus Südeuropa oder dem mittleren Osten. Sie behauptete, er sei ein Freund ihres Mannes und habe nur gefragt, wo er diesen finde. Ich bin ganz sicher, dass da noch was ist, aber ob es für einen Mord reicht?“

Melanie Weber erhielt eine gelbe Karte an der Pinnwand. „Ich habe die Autonummer notiert und lasse den Mann überprüfen, morgen wissen wir mehr.“

Nick runzelte die Stirn. „Ehrlich gesagt, viel haben wir nicht, und eine wirklich heisse Spur fehlt uns immer noch. Wir nehmen an, dass Elena Fuchs und Melanie Weber uns etwas verschweigen, wissen aber nicht was oder warum. Wir haben keine Ahnung, was Sybille Senn in den Tagen vor ihrem Selbstmord getrieben hat. Wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass Truninger Geheimnisse hatte. Mit anderen Worten, wir wissen eine Woche nach dem Mord nicht viel mehr als am ersten Tag. Maggie Truninger möchte ihren Mann beerdigen, Staatsanwältin Zimmermann hätte gerne einen Verdächtigen in Untersuchungshaft, der Chef beginnt an meinen Fähigkeiten zu zweifeln. Mist!“ Er nahm seine Füsse vom Tisch und stand auf. „Feierabend, Herrschaften. Überlegt euch, was wir übersehen haben könnten, und morgen legen wir wieder los. Die Zeit drängt!“

*

Nick stellte seinen Wagen im Parkverbot in der Rathausgasse ab und legte die Polizeimarke hinter die Windschutzscheibe. Er besass eine Spezialbewilligung für Dienstfahrten in der verkehrsfreien Aarauer Altstadt, und er benutzte sie natürlich nicht nur im Dienst. Im ersten Stock empfingen ihn leise Musik und ein unaufdringlicher Duft von Vanille; jemand rief aus dem Hintergrund: „Einen Moment bitte, ich komme gleich.“

Der Kosmetiksalon war modern und ansprechend eingerichtet, weiss und helles Grün die dominanten Farben, die Beleuchtung so raffiniert, dass man die kleinen Fenster des Altbaus nicht wahrnahm. Nick setzte sich in einen der beiden Korbsessel und nahm sich wieder einmal vor, eines Tages als Kunde hierher zu kommen: Marina hatte ihm eine Probebehandlung offeriert und brachte ihm ab und zu Muster von Pflegeprodukten für die reife Haut. Er war ein Wasser-und-Seife Mann, rasierte sich nass und benutzte Agua Fresca von Dominguez als Aftershave. Erst von Marina hatte er erfahren, dass es mittlerweile ganze Hautpflegelinien für den Mann gab, und dass etwa zehn Prozent ihrer Kunden Männer waren. „Und keineswegs nur Schwule, falls du das denkst.“ Trotzdem, es würde noch eine Weile dauern, bis sein innerer Widerstand überwunden war.

Nun kam Diana, die hübsche Berufslernende, aus der hinteren Kabine und begrüsste ihn. „Ach, Sie sind es, Herr Baumgarten. Ihre Freundin hat uns heute wieder mal wegen Kopfschmerzen sitzen lassen und liegt zuhause auf der Couch, wir mussten alle Termine verschieben und haben ohne Pause durchgearbeitet. Eigentlich wäre das laut Arbeitsgesetz nicht gestattet, und ich als Lernende müsste noch besonders geschützt werden.“

Sie schaute ihn herausfordernd an und klimperte mit ihren langen Wimpern. „Sie sind doch Polizist, Sie müssten der Chefin gelegentlich die Vorschriften erklären, einschliesslich der Konsequenzen, wenn sie sie nicht einhält.“

„Ihr loses Mundwerk bringt Sie eines Tages noch um Ihren Job, junge Frau“, sagte Nick und versuchte, streng zu blicken.

„Dann schalte ich die Gewerkschaft ein, das sage ich Ihnen schon jetzt. Im Übrigen könnte ich ja auch gelegentlich streiken, dann würde Frau Manz schon sehen, wo sie bleibt.“

Ein sehr vorlautes Mädchen, dachte Nick und lächelte auf den Stockzähnen, sie muss noch viel lernen. „Das würde ich mir an Ihrer Stelle gut überlegen. Statt dessen könnten Sie sich Gedanken darüber machen, was die Vorteile Ihrer Anstellung im Institut Marina sind, denn es geht Ihnen meines Erachtens sehr gut hier. Aber lassen wir das, schliesslich bin ich nicht Ihr Chef. Ich schaue jetzt mal nach, wie es Frau Manz geht, und wünsche Ihnen einen wunderschönen Feierabend, Diana. Erholen Sie sich gut von der Sklavenarbeit!“

Der nimmt mich nicht ernst, dachte Diana, aber er wird mich noch kennen lernen. Ich bin nämlich durchaus in der Lage, diesen Laden ganz allein zu schmeissen, ohne die ständigen Belehrungen von Nicole und der Chefin. Man muss mir nur die ganze Verantwortung übertragen und mich die Dinge auf meine Weise tun lassen. Eigentlich bin ich ziemlich stolz darauf, dass mir Nicole die letzte Kundin und das Aufräumen, Putzen und Abschliessen überlassen hat, und ich gebe zu, dass mir die Aufgabe hier wirklich gefällt. Fröhlich erledigte sie die letzten Arbeiten, schaltete den Telefonbeantworter ein und schloss die Türe hinter sich ab.

Sie winkte Nick, der bei seinem Wagen stand und telefonierte, stieg auf ihr Rad und fuhr durch die Gasse davon.

„Darf ich trotzdem kurz vorbeikommen, oder möchtest du lieber allein sein? – Gut, dann hole ich mir etwas zu essen um die Ecke und bin gleich bei dir.“ Er liess sein Auto stehen und ging über die Strasse zum Imbissladen. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen, die Scheiben waren beschlagen, drinnen war es warm und hell.

„Ach, Herr Kommissar, guten Abend. Wieder mal keine Zeit zum Kochen, was? Dürüm ohne Zwiebeln, wie immer?“ Sein türkisches Fladenbrot wurde sorgfältig gefüllt, aufgerollt und gegen die Kälte draussen in drei Schichten Aluminiumfolie gepackt. Er spazierte die menschenleere Halde hinunter, durchs Tor hinaus und dann nach rechts Richtung Schiffländestrasse zu Marinas Wohnung.

„Man sieht dir an wie du leidest, armes Häschen“, sagte er mitleidig und nahm sie in den Arm. Sie trug einen grauen Trainingsanzug, war bleich, wirkte eingefallen.

„Es geht schon wieder“, antwortete sie, „die Schmerzen sind nur noch ein dumpfes Gefühl. Ich bin einfach unendlich müde, und eine solche Attacke wirft mich jedes Mal aus der Bahn. Ich zerfliesse in Selbstmitleid und möchte am liebsten alles hinschmeissen.“ Sie konnte die Tränen nur mit Mühe zurückhalten.

„Kann ich dir etwas Gutes tun?“ fragte er besorgt und streichelte sie sanft. „Was sagt der Arzt?“

„Das Übliche halt: ich soll weniger arbeiten, mehr auf meine eigenen Bedürfnisse achten statt auf die der anderen. Du weisst schon, der Fluch der Unternehmerinnen.“

Sie schälte sich aus seiner Umarmung. „Komm, setzen wir uns an den Tisch. Ich schaue dir beim Essen zu und du erzählst mir von deinem Tag, das bringt mich auf andere Gedanken.“

Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, schälte sein Fastfood aus der Verpackung und biss mit Genuss hinein. Der Arzt hatte natürlich Recht, sie arbeitete viel zu viel und erlaubte sich keine Pausen, schon gar nicht einen längeren Urlaub. Nur war er selbst genauso sehr von seiner Arbeit besessen, und deshalb war es schwierig, das Thema mit Marina zu diskutieren. Er beschloss, es für heute zu lassen.

„Wir sind nicht viel weitergekommen mit unserem Fall. Es gibt einzelne Hinweise, ein paar lauwarme Spuren, nichts Konkretes. Truninger scheint keine Feinde gehabt zu haben, zumindest keine offensichtlichen. Wir überprüfen die Personen, die er entlassen hat, aber wir haben nur Vermutungen und keine Beweise. Ich bin sicher, dass uns etwas vor der Nase liegt, was wir nicht sehen, das sagt mir meine Intuition. Ehrlich gesagt sind wir im Moment ziemlich frustriert.“

„Ich habe eine Kundin, die früher im Grand Casino gearbeitet hat. Vor einem Jahr wurde sie plötzlich schwer krank und musste hospitalisiert werden.“ Marina drückte sich vorsichtig aus.

Mist, dachte Nick, mit der Toten von Beznau wollte ich sie heute verschonen. Trotzdem musste er es wissen. „Doch nicht etwa Sybille Senn aus Brugg?“

„Doch, genau die meine ich. Ich weiss nicht genau, was vorgefallen ist, aber sie ist seit einem Jahr von tiefen Depressionen geplagt und muss immer wieder in Königsfelden behandelt werden. Ich habe sie ein paar Mal zuhause besucht und ein bisschen geschminkt, aber seit fast zwei Monaten ist sie wieder in der Klinik.“

„Sie hat sich umgebracht. Wir fanden sie am letzten Freitag im Wehr bei Beznau.“

Betroffen schwieg Marina und drehte die Teetasse zwischen ihren Händen. Der Tag hatte schlecht begonnen und schien noch schlechter enden zu wollen. „Ich habe sie doch letzte Woche noch gesehen“, sagte sie leise. Nick horchte auf. „Wir redeten kurz miteinander, sie sagte, sie fühle sich viel besser und werde mich bald anrufen für einen Termin. Sie wirkte eher aufgedreht als deprimiert. Das muss wohl ein letztes Aufbäumen vor der Katastrophe gewesen sein.“

„Wann war das? Wir haben bisher keine Ahnung, wo sie war und was sie tat in den Tagen bevor sie starb.“

„Es muss am Dienstag oder Mittwoch gewesen sein, zwischen fünf und sechs Uhr abends. Ich ging wie üblich um diese Zeit zur Post, und da traf ich sie an der Bahnhofstrasse bei der Confiserie Brändli. Warte mal, es war Dienstag, Diana war in der Schule.“

„Und später an diesem Abend ist Tom Truninger ermordet worden, in seinem Büro im Grand Casino, keine zweihundert Meter weiter. Könnte sie ihn umgebracht haben?“

Marina dachte nach. „Wie gesagt, sie wirkte fahrig und überdreht, aber Mord? Vor ihrer Krankheit war sie eine sanfte, angepasste Frau, fröhlich, mütterlich. Zu jeder Behandlung brachte sie etwas mit, pour les employées, wie sie es nannte, Süssigkeiten, Beeren aus ihrem Garten, Blumen. Nein, ich traue ihr einen Mord nicht zu, das würde nicht zu ihrem Charakter passen. Was glaubst du denn?“

Nick schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich weiss auch nicht, was ich glauben soll. Wenn sie am Dienstag in der Nähe des Casinos war, müssen wir sie auf jeden Fall als Täterin in Betracht ziehen, denn ihr Selbstmord könnte auch eine Reaktion auf die Tat sein. Darüber erhoffe ich mir mehr Informationen von den Spezialisten in Königsfelden. Morgen fahre ich dorthin.“

Er stand auf und streckte sich, gähnte ausgiebig. „Kommst du mit auf einen kurzen Spaziergang, etwas frische Luft vor dem Schlafengehen? Ich habe meinen Wagen vor deinem Geschäft geparkt.“

„Gute Idee – mein Kopf kann etwas Durchzug gebrauchen.“

Hand in Hand gingen sie durch die Altstadt, beide mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. „Soll ich dich heimfahren?“ fragte er, als sie bei seinem Auto standen. „Wie geht es deinem Kopf jetzt?“ Sanft strich er über ihre Stirn.

„Es ist vorbei, morgen werde ich mich wieder ganz normal fühlen. Ich gehe zu Fuss zurück, das tut mir gut.“ Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn. „Lass mich wissen, was du über Frau Senn herausfindest. Ich mochte sie, weisst du, und ihr Tod lässt mich nicht kalt. Schlaf gut, Nick, und danke für deine Fürsorge.“

„Ich wünschte, ich könnte noch mehr für dich tun, Liebes“, sagte Nick und hielt sie ganz fest. „Versprichst du mir, mich anzurufen, wenn es dir wieder so schlecht geht?“

„Ja, mach ich. Gute Nacht.“ An der Ecke drehte sie sich noch einmal um und winkte, dann war sie weg. Eines Tages, sagte sich Nick zuversichtlich, eines Tages wird sie lernen, um Hilfe zu bitten, und ich werde zur Stelle sein.

*

„Schenkst du mir einen Mortlach ein, Andrew? Danke.“ Der leicht torfig schmeckende, goldene Malt Whisky war einer der Favoriten von Tom gewesen, sie hatten ihn auf einer Reise durch Schottland in der Bar des Craigellachie Hotels entdeckt und waren am nächsten Tag zur Destillerie nach Dufftown gefahren. Maggie streckte ihre Beine auf dem Sofa aus und trank einen kleinen Schluck. Sie fühlte sich ungemein müde, aber schlafen konnte sie nicht, ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe.

„Sag mal, hast du wirklich keine Ahnung, wer hinter diesem Mord stecken könnte?“ Sie fixierte ihn mit ihren fast schwarzen Augen, die durch die dunklen Schatten noch grösser wirkten als sonst. „Du kanntest ihn, als er in Las Vegas war. Gab es da vielleicht jemanden, der sich auf irgendeine Art und Weise mit Tom anlegte? Eine alte Rechnung beispielsweise, die erst jetzt beglichen wird, mit jahrelanger Verspätung?“

„Worüber glaubst du zerbreche ich mir die ganze Zeit den Kopf, Maggie? Ich will den Mörder so rasch wie möglich finden, oder zumindest Nick Baumgarten dabei helfen, aber ich kann mich beim besten Willen an keinen Vorfall erinnern, den Tom und die Holding nicht mit ihren Anwälten oder mit Geld aus der Welt geschafft hätten. Trotzdem werde ich meine Kontaktperson beim FBI anrufen und sie bitten, der Kantonspolizei ohne bürokratischen Aufwand alle nötigen Informationen zu liefern. Aber du warst doch auch in Las Vegas, hast du denn nie etwas mitbekommen?“

Maggie schüttelte den Kopf. „Es gab keinen einzigen Tag, an dem Tom über Gebühr belastet war oder sogar Angst hatte. Glaub mir, das hätte ich gespürt, denn er war kein guter Schauspieler, wenn es um seine Gefühle ging. Als ich schwanger wurde, und damit unsere Lebenspläne in Frage gestellt waren, ja, da machte er sich Sorgen. Aber wir konnten alles bereden, konnten die Optionen diskutieren und einigten uns schliesslich darauf, innerhalb eines Jahres in die Schweiz zurückzukehren. Weisst du noch, als ich im fünften Monat zu meinem Vater in die Schweiz reiste und dann nicht mehr zurück in die USA fliegen konnte, weil es Schwangerschaftskomplikationen gab? Tom musste in Vegas bleiben, und da war er manchmal sehr bedrückt, wenn wir telefonierten. Das hatte aber sicher mit unserer Trennung zu tun.“

„Ich erinnere mich sehr genau, wie schwierig diese Zeit für ihn war, so ganz ohne seine geliebte Maggie. Und ich erinnere mich auch und vor allem an sein glückliches Strahlen, als er endlich ins Flugzeug steigen und zu dir und eurer Tochter reisen durfte.“

Maggie liess ihren Tränen freien Lauf. Das war einer der vielen wunderbaren Momente in ihrer Ehe gewesen, als sie einander nach der langen Trennung wieder in die Arme schliessen konnten: sie hielten sich minutenlang fest, weinten, lachten, küssten sich. Erst dann begrüsste Tom seine neugeborene Tochter, die in einem alten Stubenwagen schlief, und verliebte sich sofort in sie. Ihr Glück war doppelt so gross geworden durch die kleine Selma, und die drei wurden unzertrennlich, genügten sich selbst in ihrer kleinen Familie. Und wie würde es jetzt weitergehen?

Sie stand auf. „Kann ich eine deiner Schlafpillen haben, Andrew? Ich muss einfach für ein paar Stunden bewusstlos sein und alles vergessen, sonst halte ich das nicht aus. Wenn wir ihn wenigstens beerdigen und von ihm Abschied nehmen könnten.“

„Nimm nur eine halbe Tablette, Maggie, zusammen mit dem Whisky reicht das für dich völlig aus, sonst schläfst du morgen den ganzen Tag. Ich wünsche dir eine gute Nacht.“

Als sie gegangen war, schenkte sich Andrew noch einen Mortlach ein. Er starrte in die Nacht hinaus und dachte über die Zeit nach, die er und Tom in Las Vegas miteinander verbracht hatten, als Maggie in der Schweiz war.