Mittwoch, 14. November 2007
Der Portier in der altmodischen Loge am Empfang der psychiatrischen Klinik sagte ins Telefon: „Herr Doktor Müller, hier sind zwei Herren von der Polizei. Gut, danke.“ Er wandte sich an die beiden und bat sie, sich einen Moment zu gedulden, Doktor Müller komme gleich.
Peter Pfister fühlte sich sichtlich unwohl in dem alten Gebäude, dessen imposante Architektur den typischen Institutionscharakter aufwies: eine grosse Eingangshalle mit breiten Steintreppen, Holztäfer bis auf Kopfhöhe, lange Gänge mit geschlossenen Türen – und dann dieser Geruch, eine Mischung aus Medikamenten, kalten Kochdünsten und Bohnerwachs. „Mir wird gleich schlecht“, flüsterte Pfister, „ich hoffe, das Büro von Doktor Müller ist besser gelüftet.“
Baumgarten lächelte. „Sei nicht so empfindlich, Peter. Je nach Kantinenmenü riecht es bei uns in der Zentrale auch nicht anders. Ich kann natürlich das Interview allein machen, wenn du es nicht aushältst.“ Er wusste genau, dass Pfister damit niemals einverstanden wäre, zu gross war seine Neugier.
Ein grosser, fast hagerer Mann kam auf sie zu – Typ Langstreckenläufer, dachte Nick und zog automatisch seinen Bauch ein, bei diesem Beruf brauchte man wohl einen Ausgleich.
„Guten Tag, ich bin Stephan Müller.“ Nick Baumgarten nahm die ausgestreckte Hand und stellte sich und den Kollegen Pfister vor.
„Ich schlage vor, wir gehen in ein Sitzungszimmer im ersten Stock, dort sind wir ungestört. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Er kommt aus einer italienischen Espressomaschine, nicht aus der Thermoskanne.“
Er hatte den skeptischen Blick von Pfister sofort richtig interpretiert und nahm ihm den Wind aus den Segeln. „Sie sind zum ersten Mal in einer psychiatrischen Klinik? Ich zeige Ihnen gerne, wie wir heutzutage arbeiten, falls Sie interessiert sind.“
„Vielleicht“, sagt Pfister unsicher, „aber zuerst möchten wir Ihnen ein paar wichtige Fragen stellen.“ Er fühlte sich ertappt, der Typ hat mich durchschaut und macht sich lustig, dachte er.
Doktor Müller führte sie in ein helles, modern eingerichtetes Sitzungszimmer. „Machen Sie es sich bequem, ich hole den Kaffee. Bin gleich wieder da.“
„Hat er denn keine Sekretärin, die für ihn Kaffee kocht?“ flüsterte Pfister. „Offensichtlich ist er nicht wichtig genug.“
Nick Baumgarten enthielt sich einer Antwort, gewisse Dinge wollten seinem Mitarbeiter nicht in den Kopf. Pfister war der Ansicht, dass es immer und überall klare hierarchische Verhältnisse mit entsprechenden Pflichtenheften geben musste; das Servieren von Kaffee gehörte für einen Oberarzt nicht zur Stellenbeschreibung.
Doktor Müller bediente seine Gäste, dann öffnete er die Unterlagen, die er mitgebracht hatte. „Sie möchten etwas wissen über Sybille Senn, nicht wahr. Ich habe gestern mit der behandelnden Ärztin Doktor Fischer telefoniert, und sie war ebenso schockiert und überrascht vom Suizid wie wir alle. Wenn es irgendeinen Zweifel daran gegeben hätte, dass die Patientin diesen Schub ihrer Krankheit praktisch überwunden hatte, wäre sie niemals in die offene Abteilung transferiert worden. Sie hätte in ein paar Tagen in die Obhut ihres Hausarztes und des ambulanten psychiatrischen Dienstes entlassen werden sollen.“ Doktor Müller lehnte sich zurück und schaute Nick mit durchdringendem Blick an. „Ich glaube allerdings nicht, dass Sie beide ausschliesslich wegen des Suizids von Frau Senn zu uns gekommen sind.“
Nick Baumgarten räusperte sich. „Da haben Sie völlig Recht, Herr Doktor Müller. Es handelt sich um eine ziemlich delikate Angelegenheit, und wir haben weder Fakten noch Beweise, nur eine Hypothese. Es geht uns darum, Ihre professionelle Meinung dazu zu erfahren. Könnte es sein, dass Frau Senn zuerst den Direktor des Grand Casinos und dann sich selbst umgebracht hat? Ihre Entlassung vor einem Jahr war ein Motiv, und sie wurde am Tag des Mordes in der Nähe des Tatorts gesehen.“
Stephan Müller schloss die Augen und sagte nichts. Nick legte Pfister die Hand auf den Arm und bedeutete ihm zu schweigen. Eine lange Minute verstrich, bevor Doktor Müller die stahlblauen Augen wieder öffnete. Seine Stimme war jetzt härter, seine Worte wägte er sorgfältig ab.
„Ganz ausschliessen kann man in unserem Beruf nichts, meine Herren. Wir erleben hin und wieder Überraschungen, positive wie negative, und wir lernen damit zu leben. Nichts ist selbstverständlich, unsere Urteilsfähigkeit wird immer wieder in Frage gestellt. Trotzdem scheint mir Ihre Hypothese sehr weit her geholt, und ich sage Ihnen auch warum. Sybille Senn litt an einer depressiven Erkrankung, kombiniert mit Ängsten. Das heisst konkret, als sie zu uns kam, war sie nicht in der Lage, morgens aus eigenem Antrieb aufzustehen und sich anzuziehen, sie hatte jeden Lebenswillen verloren. Durch die Behandlung brachten wir sie dazu, wieder einigermassen zu funktionieren, um es umgangssprachlich auszudrücken. Trotzdem war es für sie noch sehr schwierig, einen Sinn im Leben zu sehen, ihre Welt war immer noch grau und freudlos. Hätten wir eine andere Störung diagnostiziert, beispielsweise eine manisch-depressive Krankheit, oder eine Schizophrenie, dann wäre es zwar unwahrscheinlich, aber theoretisch möglich, dass die Patientin einen Mord beginge. Sie könnte dann in einer Phase hektischer physischer und psychischer Aktivität plötzlich ungeahnte Kräfte entwickeln. Frau Senn hingegen hatte Mühe, auch nur die kleinste und alltäglichste Absicht in die Tat umzusetzen, und deshalb denke ich, dass Sie auf dem Holzweg sind.“
Das sagt mir meine Intuition auch, dachte Nick. Laut sagte er: „Vielen Dank für Ihre aufschlussreichen Erklärungen, Herr Doktor Müller, Sie haben uns sehr geholfen. Wäre es trotzdem möglich, dass ich mit Frau Doktor Fischer direkt sprechen könnte? Wann ist sie denn wieder im Dienst?“
„Leider erst nächste Woche. Ich gebe ihr Ihre Nummer, dann ruft sie Sie in den nächsten Tagen an. Im Übrigen ist unsere Geschäftsleitung über den Suizid informiert, aber Ihre Hypothese möchte ich im Moment gerne für mich behalten, solange kein wirklich begründeter Verdacht besteht. Der Fall wäre ein gefundenes Fressen für die Presse, verstehen Sie, eine Schlagzeile in der Art von Königsfelden: Mord im Ausgang? würde uns sehr schaden, auch wenn ein Fragezeichen dahinter steht.“
„Das verstehe ich sehr gut, Herr Doktor Müller. Ich werde Ihnen nach meinem Gespräch mit Frau Doktor Fischer sagen, wie es weitergeht, aber vorerst behalten wir die Informationen für uns. Nochmals vielen Dank, und auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen, und kommen Sie jederzeit wieder, auch für einen kleinen Rundgang, Herr Pfister.“
Auf gar keinen Fall, dachte Pfister, nein, hierher will ich möglichst nie mehr kommen. Mit Schwung öffnete er die schwere Eingangstüre und trat erleichtert in die kalte Novemberluft hinaus.
„Er will vor allem sich selbst und die Klinik schützen“, sagte Nick nachdenklich, „und das ist auch verständlich. Trotzdem will ich von der Frau Doktor persönlich nochmals hören, warum unsere Sybille keinen Mord begehen konnte.“
Pfister liess seinem Unbehagen freien Lauf. „Ich traue diesen Seelenklempnern nicht über den Weg. Sie durchschauen einen sofort und legen jedes Wort auf die Goldwaage. Ich bin sicher, dass Müller die Fischer sofort über unser Gespräch informiert und mit ihr vereinbart, was sie uns sagen soll.“
„Da könntest du Recht haben, aber ich werde einen Weg finden, sie zum Reden zu bringen – vielleicht hat sie uns ja wirklich etwas Wichtiges zu sagen.“ So richtig daran glauben konnte Nick jedoch nicht.