Donnerstag, 15. November 2007
Peter Pfister hatte die Aufgabe erhalten, nochmals die Überwachungsvideos durchzusehen, und zwar auch diejenigen vom späten Nachmittag des 6. November. Nick hatte dem Team erzählt, dass Sybille Senn zu dieser Zeit an der Bahnhofstrasse gesehen worden war, und nun wollten sie herausfinden, ob sie das Casino betreten hatte.
„Und woher soll ich wissen, wie sie aussieht? Wir haben nur das Foto der Toten“, brummte Pfister mürrisch. „Auf den Videos gibt es unzählige Leute, die geschäftig durch die Gänge laufen, man erkennt die Gesichter nicht immer, es könnte also jeder sein.“ Er rieb seine Augen. „Aber bitte, wenn du unbedingt willst – du bist der Chef.“
„Hör auf zu meckern, Peter“, antwortete Nick, „deine negative Einstellung geht mir langsam auf die Nerven. Du musst nach einer Figur mit Wintermantel und einer grossen Handtasche suchen, die sich möglicherweise weniger natürlich bewegt als die anderen Angestellten.“
„Woher weisst du, dass sie eine grosse Handtasche trug?“ fragte Angela erstaunt.
„Ihr kennt ja meine Freundin Marina Manz. Sie hat Frau Senn zur fraglichen Zeit in Aarau gesehen und ein paar Worte mit ihr gewechselt. Sie war eine Stammkundin im Institut Marina.“
Nick wusste, was jetzt kommen würde, und er formulierte die Antwort in Gedanken.
Schon tönte es empört aus Pfisters Ecke: „Eigentlich darfst du einen ungelösten Mordfall nicht mit Aussenstehenden diskutieren, das solltest du mittlerweile wissen. Wo kämen wir denn da hin, wenn wir alle am Stammtisch den neusten Ermittlungsstand ausplaudern würden!“
„Erstens, Peter, weiss ich genau, worüber ich reden darf und worüber nicht. Zweitens lege ich meine Hand ins Feuer für Marinas Diskretion. Sie wäre als Kosmetikerin längst erledigt, wenn sie nicht schweigen könnte wie ein Grab. Drittens musst du zugeben, dass dieser Hinweis uns einen tüchtigen Schritt weiter bringen kann. Und viertens, jetzt setz dich hinter deine Videos und mach vorwärts!“
Seine Stimme war laut geworden, und an seiner Schläfe pochte sichtbar eine Ader. Pfister wusste, wann er klein beigeben musste, und wandte sich dem Bildschirm zu.
Die Türe ging auf. „Besuch für euch“, sagte ein Kollege und brachte Andrew Ehrlicher ins Teambüro.
„Entschuldigen Sie die Störung, aber es ist mir etwas eingefallen, was vielleicht wichtig sein könnte“, sagte er zu Nick, nachdem er alle begrüsst hatte.
„Kommen Sie, wir gehen ins Sitzungszimmer nebenan.“ Nick nahm einen Notizblock und führte Ehrlicher durch die Glastüre. „Setzen Sie sich und erzählen Sie.“ Gespannt blickte er Andrew an.
„Ich habe nochmals nachgedacht und bin auf eine Person gestossen, die Tom Truninger gehasst hat.“
Bevor er weiterreden konnte, platzte Pfister herein. „Nick, diese Psychiaterin, Frau Doktor Fischer, ist jetzt am Telefon. Sie hat nicht viel Zeit, sagt sie.“ Andrew zog eine Augenbraue in die Höhe.
„Ich habe auf diesen Anruf gewartet und muss kurz mit der Dame reden, Herr Ehrlicher. Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld, es dauert nicht lange. Peter, ich nehme den Anruf an meinem Schreibtisch.“
Nick verschwand, und Andrew schaute sich um. Ein kahler, funktioneller Raum mit Jalousien an der Glaswand zum Teambüro, ein paar Aktenkästen, Wandtafeln, Flipcharts. Und offensichtlich schalldicht, denn er konnte dem Kommissar zwar beim Telefonieren zuschauen, hörte aber keinen Ton. Er sah, dass Angela Kaufmann aufstand und Richtung Sitzungszimmer kam. Tolle Figur, dachte er, und äusserst wohlgeformte Beine.
„Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Herr Ehrlicher?“ Sie strahlte ihn an.
„Lieber ein Glas Wasser, wenn ich so frech sein darf“, antwortete er und lächelte zurück.
„Kein Problem“, sagte sie und öffnete einen der Aktenschränke, in dem ein Kühlschrank eingebaut war. „Mit oder ohne Kohlensäure?“ Sie schenkte ein und liess die Flasche stehen. „Darf ich fragen, wie es Frau Truninger und Selma geht?“
„Nicht gut, Frau Kaufmann, nicht gut.“ Er machte ein sorgenvolles Gesicht. „Selma vergisst zwar jeweils für ein paar Stunden, dass ihr Daddy tot ist, aber Maggie kann an nichts anderes denken und ist am Boden zerstört. Ich glaube es wäre wichtig, dass die Beerdigung bald stattfinden kann. Wie steht es damit?“
„Der Leichnam wird morgen früh freigegeben, Sie können das Nötige organisieren, Herr Ehrlicher. Ich kann Ihnen die Liste der lokalen Bestattungsunternehmen geben, wenn Sie möchten.“
Das unwiderstehliche Lächeln war wieder da. „Vielen Dank, Frau Kaufmann, Maggie wird erleichtert sein. Sie hat schon jemanden engagiert, glaube ich. Sie und Ihre Kollegen sind selbstverständlich zur Trauerfeier eingeladen.“
„Danke, wir werden sehen, was sich machen lässt.“
Trauerfeiern waren nicht gerade ihr bevorzugtes Freizeitvergnügen, obwohl sie manchmal wertvolle Hinweise lieferten, zum Beispiel auf Konflikte zwischen einer trauernden Witwe und ihrer Verwandtschaft.
Nick kam zurück, und Angela liess die beiden allein. Die Männer setzten sich und schauten einander an. Ich mag ihn, dachte Baumgarten, und das könnte meine Urteilsfähigkeit trüben. Er liebt seinen Beruf, dachte Ehrlicher, und er ist gut. Er wird den Mörder meines Freundes finden.
„Ich konnte nicht umhin zu hören, mit wem Sie gerade telefoniert haben, Herr Baumgarten, Ihr Mitarbeiter war wohl etwas indiskret. Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich um Doktor Viktoria Fischer, Psychiaterin in Königsfelden, handelt? Genau deswegen bin ich nämlich gekommen: ich will mit Ihnen über Vicky Fischer und Tom Truninger sprechen. Es gibt eine Verbindung.“