Freitag, 16. November 2007
„Frau Fuchs, guten Tag.“
Elena schreckte von ihrer Arbeit auf, als Nick Baumgarten mit Schwung in ihr Büro trat.
„Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt, die Tür war offen.“
„Hallo Herr Baumgarten. Was führt Sie zu mir?“ Elena war aufgestanden und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Gibt es Neuigkeiten?“
„Warum haben Sie mir verheimlicht, dass Sybille Senn am Tag des Mordes bei Ihnen war?“ Er hatte sich zu einer konfrontativen Strategie entschlossen. „Was wollte sie von Ihnen?“
Elena setzte sich wieder hinter ihren breiten Schreibtisch und seufzte. „Bitte nehmen Sie Platz.“
Sie legte die Fingerspitzen ihrer beiden Hände aneinander und schaute dem Ermittler in die Augen. „Ich habe Ihnen nichts davon erzählt, weil ich Frau Senn schützen wollte.“
„Das ist Ihnen leider nicht gelungen, Frau Frau Fuchs. Sybille Senn ist tot. Sie hat sich umgebracht, vermutlich kurz nachdem sie bei Ihnen war. Jetzt erzählen Sie mir genau, was am Nachmittag des 6. November geschah. Ich will die ganze Wahrheit, nicht nur ein Stück davon.“
Er legte Strenge und Autorität in seine Stimme, und es schien zu wirken, Elena Fuchs verlor etwas von ihrer Distanziertheit und Kühle.
„Dass sie tot ist wusste ich nicht, das ist ja schrecklich. Nach unserem Gespräch schickte ich sie in die Klinik zurück und sie versprach, sie würde dorthin zurückkehren. Ich hatte keine Veranlassung, daran zu zweifeln.“
„Das haben Sie offensichtlich falsch eingeschätzt. Und was geschah vorher?“ Nick liess sich nicht ablenken. „War sie nur bei Ihnen, oder war sie auch im Büro von Tom Truninger?“
„Also gut, Herr Baumgarten, hier ist die ganze Wahrheit. Frau Senn stand kurz nach siebzehn Uhr unangemeldet vor Toms Schreibtisch.“
Elena erzählte von der unschönen Szene zwischen Sybille Senn und Tom Truninger, und davon, dass sie gerufen wurde und Frau Senn mitnahm in ihr Büro, um sie zu beruhigen.
„Sie zeigte mir das Küchenmesser in ihrer Handtasche, und ich konnte sie dazu überreden, es mir zur Aufbewahrung zu übergeben. Nach einer halben Stunde hatte sie sich beruhigt und wollte wieder gehen. Sie werde bald aus der Klinik entlassen und hoffe, dass sie dann wieder bei uns arbeiten könne. Nach der ganzen Aufregung hatte ich nicht den Mut, ihr zu sagen, dass sie nicht damit rechnen konnte. Ich begleitete sie zum hinteren Ausgang und stellte sicher, dass sie das Haus verliess.“
„Und wo ist das Messer jetzt?“
„Das ist ja das Schlimme, Herr Baumgarten, das Messer ist verschwunden. Ich bin ganz sicher, dass ich es unter den Augen von Frau Senn in die oberste Schublade legte, aber dort war es am nächsten Morgen nicht mehr.“
Elena Fuchs atmete tief ein und schaute Nick bekümmert an. „Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob es möglich wäre, dass sie später am Abend zurückgekommen ist, das Messer aus meiner Schublade geholt und ihr Vorhaben doch noch in die Tat umgesetzt hat.“ Sie senkte ihren Blick und schüttelte den Kopf.
Vielleicht, dachte Nick, vielleicht. Aber die Einzelteile fügten sich noch nicht zu einem Ganzen, irgendetwas fehlte. Abgesehen davon hatte die Personalchefin ihn und sein Team ins Leere laufen lassen.
„Und warum, Frau Fuchs, mussten wir uns erst stundenlang Überwachungsvideos anschauen um herauszufinden, dass Frau Senn am Tag des Mordes hier war? Warum haben Sie uns das nicht gleich gesagt?“ Er schlug mit seiner Faust leicht auf ihren Schreibtisch. „Mühsame Kleinarbeit, die wir uns mit besserer Kooperation von Ihrer Seite hätten ersparen können.“
Elena schaute ihm direkt in die Augen. Er sieht gut aus, sogar wenn er wütend ist, dachte sie, Marina Manz hat einen guten Fang gemacht. Hoffentlich kann sie ihn halten.
„Es tut mir aufrichtig Leid, Herr Baumgarten. Ich schwieg, weil ich Sybille Senn nicht schaden wollte. Unsere Firma hat ihr schon genug Leid angetan, deshalb habe ich nichts gesagt. Aber jetzt, da sie tot ist, kann ihr ja nichts Schlimmeres mehr passieren.“ Elena verbarg ihr Gesicht in den Händen. „An ihrem Suizid sind wir als Unternehmen mitschuldig, das lässt sich nicht wegdiskutieren. Ich werde sehen, ob wir die Familie wenigstens finanziell entschädigen können.“
„Noch eine Frage, Frau Fuchs. Auf welchem Weg hätte Frau Senn später wieder ins Gebäude gelangen können? Ich nehme an, Sie erteilten ihr nach der Szene mit Truninger Hausverbot.“
Elena lächelte gequält. „Um ehrlich zu sein, ich kam am Abend nicht mehr dazu, die Sicherheitsdienste zu informieren. Es kann gut sein, dass ein Mitarbeiter ihr Einlass gewährte, schliesslich kannte man sie. Es ist auch möglich, dass sie aus der Zeit ihrer Anstellung noch einen Schlüssel hatte für die Türe von der Parkgarage zum Bürotrakt. Unsere Schlüsselverwalterin war längere Zeit im Urlaub, und ihr Stellvertreter arbeitete weniger sorgfältig; seit dieser Zeit fehlt uns ein knappes halbes Dutzend Schlüssel.“
„Gut, Frau Fuchs, wir werden die Videos des Abends nochmals sichten, vielleicht finden wir einen Hinweis. Ich bitte Sie, uns sofort zu informieren, wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte. Auf Wiedersehen.“ Er nahm seinen Mantel und verliess den Raum, ohne zurückzublicken.
Elena Fuchs schenkte sich ein Glas Wasser ein und dachte über das nach, was sie in den letzten Minuten erfahren hatte. Falls die Polizei davon überzeugt war, dass Sybille Senn die Mörderin war, würde man ihr die Tat wohl nur auf Grund von Indizien nachweisen können, denn Tote machten keine Geständnisse.
*
Marina war im Intercity unterwegs nach Hause. Im Grunde fuhr sie lieber mit dem Auto, auch in der Grossstadt, aber ihr alter Spitfire war trotz guter Pflege kein Winterauto, die Heizung arbeitete nur langsam, und die Scheiben beschlugen ständig. Weil die Meteorologen Schnee angekündigt hatten, war sie mit dem öffentlichen Verkehr ins Theater im Zürcher Seefeld gefahren. Seit ihrer Zeit an der Universität war sie Mitglied des Zurich Comedy Club, einer bekannten und erfolgreichen englischen Laien-Theatergruppe. Als Unternehmerin fand sie zwar keine Zeit mehr, um aktiv auf oder hinter der Bühne mitzuarbeiten, aber als Zuschauerin besuchte sie jede Produktion. In der Pause traf sie immer ein Anzahl alter Bekannter, und diesmal war sie zusammen mit den Schauspielern noch auf ein Bier ins Vier Linden gegangen. Sie hatten viel gelacht und Erinnerungen an frühere Zeiten aufgefrischt; Marina setzte sich mit warmem Herzen und gut gelaunt ins Tram Nr. 4 und fuhr der Limmat entlang zurück zum Hauptbahnhof. Sobald sie im Zug sass, rief sie Nick an. Sie hatten eine Vereinbarung: beide gingen nicht schlafen, ohne einander gute Nacht gewünscht zu haben.
„Du klingst hellwach, meine Liebe, hast du einen netten Abend verbracht?“ Er selbst war müde und frustriert, und man hörte es seiner Stimme an. „Erzähl mal.“
„Es war eine herrliche Komödie, du hast wirklich etwas verpasst. Die Frau, die den Hund spielte, war umwerfend, und mein alter Freund Alex als schwuler Psychiater übertraf sich selbst, er erhielt einen Riesenapplaus für seine kleine Rolle.“ Sie kicherte, als sie daran dachte, wie tuntenhaft der sonst so männliche Alex sich bewegt hatte. Hohe Schaupielkunst war das, und immerhin von einem Laien gespielt.
„Eine Frau als Hund und ein schwuler Psychiater? Das klingt ja seltsam.“ Nick gähnte laut.
„Es geht um eine Ehe, die fast zerbricht, weil der Mann einen Hund nach Hause bringt. Aber ich erkläre dir das ein andermal, du bist müde und willst schlafen gehen. Hattest du einen guten Tag?“
„Wie man es nimmt. Ich habe viel Neues erfahren, aber es will alles nicht so recht zusammenpassen. Sag mal, kommst du morgen nach der Arbeit zu mir mit deinen Einkäufen, und dann kochen wir zusammen? Vielleicht bin ich bis dann einen Schritt weitergekommen. Und jetzt muss ich wirklich schlafen, Liebes. Gute Nacht, und komm gut nach Hause.“
„Schlaf gut, Nick, und träum was Schönes. Bis morgen.“ In Aarau ging sie zu Fuss nach Hause, zuerst entlang der Bahnhofstrasse, wo der Eingang des Grand Casinos immer noch hell erleuchtet war, dann durch die ausgestorbene Altstadt. Nur Doktor Hivatal war noch unterwegs mit seinem quirligen Jack Russell Terrier. Sie winkte ihm zu und er rief ihr nach: „Gute Nacht, schöne Frau, schlafen Sie gut.“