Samstag, 17. November 2007
Angela Kaufmann stand an der Pinnwand und zeichnete eine dicke Verbindungslinie zwischen Truninger und Doktor Fischer. „Die beiden lernen sich also vor sechs oder sieben Jahren mehr oder weniger zufällig in Las Vegas kennen. Andrew Ehrlicher ist ein guter Freund oder vielleicht auch der Geliebte von Viktoria Fischer. Truninger und Ehrlicher zwingen Viktoria, sich einer stationären Therapie zu unterziehen, um ihre Spielsucht loszuwerden. Sie bleibt sechs Monate in Taos, dann wird sie als geheilt entlassen. Gleich anschliessend gründet sie zusammen mit einem Psychologen aus der Klinik ein eigenes Institut, das Santa Fe Mountains Spiritual Resort. Die beiden haben grossen Erfolg mit Drogensüchtigen. Mit einem skurrilen Mix aus esoterischen und psychologischen Methoden schaffen sie es, dass viele ihrer Patienten sich wieder in die Gesellschaft integrieren können. 2005 meldet das Institut Insolvenz an. Der Partner von Fischer hat der Firma für seine Kokainsucht so viel Geld entzogen, dass die Gebäude versteigert werden müssen. Der Mann wandert ins Gefängnis. Fischer ist nichts Illegales nachzuweisen, aber sie steht vor dem finanziellen Nichts. Sie entscheidet sich, in die Schweiz zurückzukehren und bewirbt sich an verschiedenen psychiatrischen Kliniken. Im Juli 2006 tritt sie eine Stelle in Königsfelden an, wo man anscheinend sehr zufrieden ist mit ihrer Arbeit.“
„Mensch, Angela, woher hast du denn all diese Informationen?“ Pfister pfiff anerkennend durch die Zähne.
„Danke fürs Kompliment, Peter.“ Angelas Augen glänzten mit dem Feuer der Detektivarbeit. „Herr Ehrlicher hat uns das Gerüst geliefert, und ich habe letzte Nacht ein bisschen recherchiert im Internet. Es ist allerdings so, dass der heutige Lebenslauf von Frau Fischer nicht die ganze Wahrheit enthält. Sie erwähnt zwar den Namen der Klinik in Taos und den Zeitraum, als sie da war, aber es entsteht der Eindruck, dass sie als Therapeutin und nicht als Patientin dort lebte. Ihre zukünftigen Arbeitgeber haben entweder nicht so genau nachgefragt, oder sie wussten Bescheid und wollten ihr eine zweite Chance geben.“
Nick schüttelte den Kopf. „Das werden wir wohl nie herausfinden, die Leute in der Klinik sind sehr verschwiegen. Hat Frau Fischer ein Alibi für die Tatzeit?“
„Ja, und zwar ein hieb- und stichfestes. Das Weiterbildungsseminar, an dem sie im Moment teilnimmt, begann am Dienstag, 6. November um 18 Uhr in Viktorsberg im Vorarlberg und dauert bis und mit heute. Es handelt sich um eine intensive Kurzzeittherapie, wo den Teilnehmern die Handys abgenommen werden und sie sich auch sonst möglichst von der Aussenwelt abschotten sollen. Sie war pünktlich zu Beginn da und hat keine Stunde gefehlt, das hat mir der Seminarleiter bestätigt. Sie kann also nicht unsere Mörderin sein.“
Pfister verschränkte die Arme vor seinem Wohlstandsbauch und bemerkte: „Meiner Meinung nach ist die Sache mit der Frau Doktor sowieso weit her geholt. Die Konfrontation in Las Vegas ist immerhin mehr als sechs Jahre her, und Truninger hatte das Ganze sicher längst vergessen. Schliesslich war sie nicht die einzige Spielsüchtige, die er zur Behandlung schickte. Hatten die beiden denn Kontakt, seit Viktoria Fischer wieder in der Schweiz war?“
„Keine Ahnung“, antwortete Nick. „Und du hast Recht, Truninger wollte nichts mehr von Viktoria wissen, sagt zumindest Ehrlicher. Für ihn war sie Geschichte. Aber ob das für unsere Frau Doktor auch gilt, werde ich herausfinden, sobald ich mit ihr reden kann, vermutlich am Montag. Wenn sie ihn nämlich wirklich hasste, dann könnte sie Sybille Senn dazu angestiftet haben, an ihrer Stelle den Mord zu begehen.“ Gespannt blickte er in die Gesichter seiner beiden Mitarbeitenden und wartete auf ihre Reaktion auf diese neue Hypothese.
„Möglich wäre es schon“, sinnierte Angela. „Allerdings hätte Doktor Fischer dann die ethischen Grundsätze ihres Berufsstandes mit Füssen getreten, und sie würde einen Ausschluss aus der Ärztegesellschaft riskieren.“
Pfister liess seine Augen nach oben rollen und sagte: „Ich weiss nicht, warum ihr euch auf die verrückte Senn und ihre Psychiaterin versteift. An eurer Stelle würde ich mir den schönen und aalglatten Herrn Ehrlicher einmal genauer anschauen. Findet ihr es nicht verdächtig, dass er uns seine ehemalige Geliebte so einfach ans Messer liefert?“
Er hat Recht, dachte Angela, und Nick sagte im selben Augenblick: „Ich glaube zwar, dass ich ihm trauen kann, aber ich kann durchaus falsch liegen. Vielleicht ist es jetzt angebracht, Angela, auch über Andrew Ehrlicher ein wenig im Internet zu recherchieren.“
Am späten Samstag Nachmittag verabschiedeten sich die drei: Pfister war mit seinen Kumpels im Kegelclub verabredet, Nick zog es nach Hause in seine Küche und zu Marina, und Angela wollte ein paar Runden joggen, bevor sie sich wieder an den Computer setzte. Sie vereinbarten, sich gegenseitig anzurufen, wenn es wichtige Neuigkeiten gab, aber für alle drei sollte der Sonntag ein freier Tag sein.
*
„Hallo Vicky? Hier spricht Andrew.“
„Andrew wer? Ich kenne keinen Andrew, mein letzter Bekannter dieses Namens ist im Jahr 2001 gestorben.“
„Hör auf mit diesem Blödsinn, Vicky, ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen.“
„Ich habe kein Interesse daran, mit Fremden etwas zu besprechen, danke.“
„Die Polizei wird spätestens am Montag bei dir auftauchen, Vicky, es geht um den Tod von Tom. Ich wollte dir nur sagen, dass sie schon mit mir gesprochen haben. Kommissar Baumgarten weiss, was in Las Vegas geschehen ist, und es könnte sein, dass er dich verdächtigt. Du musst ihm die Wahrheit sagen.“
„Ich habe mit dem Tod von Tom Truninger nichts zu tun, ich war in Österreich. Bye.“ Sie hängte auf. Ihr Herz schlug schneller als sonst, es rauschte in ihren Ohren, sie musste sich hinsetzen.
Im Seminar hatte sie sich lange und intensiv mit ihren persönlichen Verhaltensmustern auseinander gesetzt und damit, woher sie kamen. Es war hart, sich mit seinen eigenen Schattenseiten und denen der Eltern zu konfrontieren, Viktoria war an ihre Grenzen gelangt, hatte viel geweint und fühlte sich auch jetzt noch sehr dünnhäutig. Als sie von Stephan Müller erfuhr, das Sybille Senn sich umgebracht hatte, war sie so mit sich selbst beschäftigt, dass die Nachricht gar nicht bis zu ihr durchdrang. Erst als sie am gleichen Abend von Stephan hörte, dass Sybille des Mordes an Tom Truninger verdächtigt wurde, erschrak sie und erkannte, was das für sie bedeuten könnte. Weil sie sich aber die letzten Tage des teuren Seminars nicht entgehen lassen wollte, beschloss sie, das alles wegzulegen, bis sie wieder zuhause war. Mit einer grossen mentalen Anstrengung war es ihr gelungen, Sybille Senn und Tom Truninger zu vergessen und sich auf sich selbst zu konzentrieren. Ohne Andrews Anruf hätte sie das Wochenende geniessen und den Eindrücken der letzten zehn Tage nachhängen können – jetzt musste sie sich wohl oder übel mit der realen Welt auseinander setzen. Sie begann, ihre Strategie für das Gespräch mit der Polizei sorgfältig zu planen.
*
„Hast du morgen frei, du Schwerarbeiter?“
„Ja, es sei denn, Angela oder Peter finden etwas Wichtiges und rufen mich an. Warum fragst du?“
„Weil du doch mit mir auf die Weinausstellung gehen wolltest.“ Marina drehte ihr Glas zwischen den Fingern, hob es gegen das Licht und betrachtete die helle goldene Farbe des spanischen Weins. „Dieser Rueda schmeckt mir ganz besonders gut, und ich möchte gerne mehr darüber wissen. Gibt es die Verdejo-Traube noch woanders als in Spanien?“
„In Portugal heisst sie Verdelho, in Italien Verdicchio. Wir könnten alle Weine aus dieser Traube bei den verschiedenen Händlern probieren; so verfeinerst du deinen Geschmackssinn und lernst zu unterscheiden. Manchmal gibt es echte Entdeckungen zu machen.“ Nick schob die zwei kleinen Gratinformen mit Crevetten, Knoblauch und Öl in den heissen Ofen und schnitt dicke Stücke von einer frischen Baguette ab. Sie hatten gemeinsam verschiedene Tapas zubereitet: ein spanisches Omelett, mit grobem Salz bestreute Pimientos, runzlige Oliven, dünn geschnittener Serrano-Schinken, getrocknete Tomaten. „Wir könnten uns aber auch auf ein Land und seine Trauben konzentrieren, zum Beispiel Spanien, wo dieser reine Tempranillo herkommt.“ Nick öffnete eine Flasche Beronia. „Der passt gut zu den feinen Gerichten, die auf dem Tisch stehen. Oder bleibst du lieber beim Weissen?“
„Für die Gambas schon, aber nachher lasse ich mich gerne von deinen Empfehlungen leiten, schliesslich bist du der Experte und ich der Lehrling.“ Marina stand auf und servierte Nick die heissen Crevetten. Sie trug Jeans und einen weichen, schwarzen Pullover, der lang genug war, um ihre rundlichen Hüften zu kaschieren. „Voilà, Monsieur.“
„Danke, schöne Frau, gibts auch noch einen Kuss dazu, bevor wir beide nach Knoblauch riechen?“
Sie beugte sich über ihn und küsste ihn, dann setzte sie sich wieder und sie begannen zu essen.
„Sag mal, gibt es gelegentlich eine Trauerfeier für Tom Truninger? Ich möchte gerne dabei sein.“
Nick lachte. „Du bist mindestens so schlimm wie ich: keine Pause, was das Geschäftliche angeht, nicht mal beim Essen!“ Er wurde ernst. „Die Rechtsmedizin hat die Untersuchung abgeschlossen, der Leichnam ist seit gestern frei gegeben. Frau Truninger organisiert die Beerdigung, vermutlich findet sie irgendwann nächste Woche statt. Ich gehe auch hin.“
„Und Frau Senn?“
„Darüber entscheide ich, sobald ich mit ihrer behandelnden Ärztin gesprochen habe. Eventuell müssen weitere Untersuchungen gemacht werden.“
Marina schob ihren Teller beiseite und stütze ihr Kinn auf die gefalteten Hände. „Es muss schrecklich sein, die geliebte Person plötzlich zu verlieren. Ich denke die ganze Zeit an den fürsorglichen Herrn Senn, der seine Frau während ihrer Krankheit mit allen Mitteln unterstützte. Er buchte diese Kreuzfahrt in die Antarktis erst, als er ganz sicher war, dass Sybille in Königsfelden gut aufgehoben war. Du kannst dir vorstellen, was er sich jetzt für Vorwürfe macht. Sie hat nicht nur sich selbst, sondern möglicherweise auch noch einen anderen Menschen umgebracht.“
„Das ist immer noch Spekulation, Marina, vergiss das nicht, und Herr Senn weiss noch nichts davon. Langsam aber sicher habe ich das Gefühl, dass dieser Mord für lange Zeit ungeklärt bleiben wird, vielleicht sogar für immer.“ Er seufzte und trank von seinem Wein.
„Aber lassen wir das – heute habe ich ein gutes Glas Wein in der Hand und bin mit meiner wundervollen Geliebten zusammen, Optimismus ist also angesagt. Ich freue mich auf die Weinprobe mit dir, und überhaupt geniesse ich jede Minute in deiner Gesellschaft.“ Er stand auf, zog sie hoch und legte seine Arme um ihre Taille. „Ich kann einfach nicht genug bekommen von dir“, flüsterte er und knabberte an ihrem Ohr. Seine Hände glitten unter ihren Pullover und trafen auf weiche, samtene Haut. Sie liess sich von seiner lustvollen Zärtlichkeit mittragen, und das Geschirr blieb bis am nächsten Morgen auf dem Tisch stehen.