Montag, 19. November 2007

 

„Der Südländer mit dem Mercedes ist nur ein kleiner Zuhälter, und Ehrlicher ist auch sauber.“ Damit eröffnete Angela Kaufmann die Teambesprechung am Montag um acht Uhr. „Das war die Kurzfassung, wollt ihr noch mehr hören?“

Gespannt blickte sie die beiden Männer an.

„Dann erzähl mal, du professionelle Schnüfflerin. Wir unterbrechen, sobald Doktor Fischer eintrifft.“ Nick beugte sich vor. „Melanie Weber hat also mit ihrer Vergangenheit doch nicht ganz gebrochen, verstehe ich das richtig?“

„Sie arbeitet als Callgirl, das Nagelstudio dient hauptsächlich als Tarnung. Der Albaner ist ihr Beschützer, erhält vermutlich einen Prozentsatz ihrer Einnahmen und achtet auf ihre Sicherheit. Er und der Mann von Melanie kennen sich übrigens sehr gut, vermutlich toleriert der Sanitärinstallateur die erweiterten Aktivitäten und Zusatzeinnahmen seiner Frau. Der Albaner hat ein paar kleine Vorstrafen, aber nichts, was auf Gewalttätigkeit hinweisen könnte. Er wohnt in Baden und war in der Mordnacht in seiner Stammkneipe beim Teetrinken. Ich glaube, wir können ihn ausschliessen.“

„Ausschliessen kann man gar nichts bei diesen Typen“, brummte Pfister, „wenn sich eine Gelegenheit ergibt, sind die sofort zu jeder Schandtat bereit.“

Nick ignorierte seinen Mitarbeiter und blickte erwartungsvoll zu Angela. „Und die Geschichte von Andrew Ehrlicher?“

„Seine Weste ist weisser als weiss, mein lieber Chef. Es gibt ausser einer Begebenheit von Trunkenheit am Steuer, da war er 21 Jahre alt, nichts strafrechtlich Relevantes in seinem Leben. Seine Fingerabdrücke und andere Biodaten sind beim FBI zwar gespeichert, aber nur, damit er schneller durch die US-amerikanische Einwanderungskontrolle kommt. Er ist ein immens reicher und weltweit tätiger Geschäftsmann im Bereich Immobilien, genau wie sein Vater, von dem er vor knapp zehn Jahren auch die Firma in Kalifornien geerbt hat. In den USA ist er bekannt als grosszügiger Spender, sowohl für karitative wie für politische Zwecke. Er ist ein Freund der Clintons und unterstützt gemäss Spendenliste die Kandidatur von Hillary. Als sein Vater starb, kam die Mutter in ihre Heimat zurück und lebt heute in einer Seniorenresidenz im Berner Elfenauquartier. Ehrlicher ist überall und nirgends zuhause, er besitzt Wohnungen in Shanghai, Hawaii, Gstaad, London, San Francisco, offizieller Wohnsitz ist der französische Teil der Insel St. Martin in der Karibik. Er war nie verheiratet, hat keine Kinder, man weiss von keinen länger dauernden Beziehungen. Entweder ist er wirklich ein guter Mensch, oder er ist äusserst geschickt darin, persönliche Informationen geheim zu halten. Sollen wir ihn fragen, Nick?“

„Wenn sich eine Gelegenheit dazu ergibt, Angela, aber das hat keine Priorität. Lege auf jeden Fall vorher deine rosarote Brille ab. Man sieht dir von weitem an, dass du ihn magst; bei einer Befragung solltest du neutral sein.“

Er schätzte ihre Professionalität hoch ein, aber eine Warnung brauchte es in diesen Fällen eben doch.

„Frau Doktor Fischer für Nick Baumgarten“, sagte ein Kollege. „Soll ich sie ins Verhörzimmer führen?“

*

„Guten Tag, Frau Doktor, ich bin Nick Baumgarten.“ Er streckte ihr seine Hand entgegen.

„Lassen Sie die Frau Doktor, Herr Baumgarten, ich bin Viktoria Fischer.“ Sie erhob sich, um ihn zu begrüssen, ihr Händedruck war fest, ihr Blick direkt.

„Es tut mir Leid, dass ich Sie habe warten lassen, ich war noch in einer Sitzung.“

Das stimmte nur zum Teil, er hatte sich auch ein paar Minuten Zeit genommen, sie durch die verspiegelte Scheibe zu beobachten. Sie schien zu arbeiten, war ruhig, unaufgeregt. Ihr langes blondes Haar war im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden, sie trug schwarze Jeans und eine graue Bluse, vermutlich aus Seide, Perlenohrringe, dezentes Makeup.

„Kein Problem, ich habe die Zeit genutzt, um ein paar Unterlagen anzuschauen.“ Sie schob ihre Papiere zusammen und legte ihre Brille ab. „Was kann ich für Sie tun?“

Sie nimmt das Heft in die Hand, dachte Nick, eine professionelle Kommunikatorin, gewöhnt an schwierige Gesprächspartner. Ich muss aufpassen, dass ich die Führung nicht abgebe.

„Erst mal vielen Dank, dass Sie sich an Ihrem ersten Arbeitstag Zeit nehmen für uns, Frau Fischer. Hatten Sie ein gutes Seminar?“

„Gut ist in diesem Zusammenhang ein relativer Begriff, Herr Baumgarten. Man lernt an solchen Veranstaltungen viel über sich selbst, was nicht immer nur angenehm ist. Ich würde es so formulieren: es waren zehn anspruchsvolle Tage, die hoffentlich ihre Wirkung entfalten werden.“ Sie lächelte ihn an. „Auf jeden Fall nur etwas für stabile Persönlichkeiten.“ Sie faltete ihre Hände auf dem Tisch und wartete.

Nick musterte sie und sagte mindestens eine Minute lang nichts. Die meisten Menschen begannen von sich aus nach etwa zwanzig Sekunden zu sprechen, aber Viktoria Fischer hielt die Stille ruhig aus und schaute ihm unverwandt in die Augen.

„Frau Fischer, wie reagierten Sie, als Ihnen Ihr Kollege Stephan Müller vom Tod der Patientin Sybille Senn berichtete?“

„Ich konnte es ehrlich gesagt kaum glauben. Die Entwicklung der Patientin über die letzten Wochen war so positiv, dass ich sie niemals als suizidgefährdet eingestuft hätte. Es muss etwas geschehen sein, was die therapeutischen Fortschritte auf einen Schlag zunichte machte.“ Wieder schwieg sie.

„Sie meinen den Mord?“ Auch Nick konnte sich wenn nötig kurz fassen.

„Ich meine gar nichts, Herr Baumgarten. Ich äussere nur meine professionelle Meinung, wonach irgendetwas vorgefallen sein muss, was Sybille Senn buchstäblich um den Verstand brachte.“

„Und haben Sie eine professionelle Meinung dazu, was es gewesen sein könnte?“

Sie lächelte spöttisch. „Ich werde mich hüten, irgendwelche Hypothesen aufzustellen.“

Nick gab sich einen Ruck, er hatte genug davon, Katze und Maus zu spielen. „Frau Fischer, Ihr Kollege hat Sie darüber orientiert, dass der ehemalige Arbeitgeber von Frau Senn, der Direktor des Grand Casinos, ermordet wurde, und dass wir Sybille Senn als mögliche Täterin in Betracht ziehen.“

„Ja, das habe ich von Stephan Müller gehört.“ Keine weitere Aussage.

„Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Patientin einen Mord beging und anschliessend ihr eigenes Leben beendete?“

„In der Betreuung von psychisch kranken Menschen ist nichts unmöglich, Herr Baumgarten. Unberechenbarkeit ist Teil unseres Berufs.“ Viktoria schob eine blonde Strähne hinters Ohr. „Ich kann dazu nur sagen, dass ich es für höchst unwahrscheinlich halte, dass Sybille Senn jemanden ermordet hat.“ Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte ihre Arme.

„Warum ist es unwahrscheinlich?“

„Weil Frau Senn zwar auf dem Weg der Genesung war, aber trotzdem nicht genug Ich-Stärke besass, um einen allfälligen Vorsatz dieser Grössenordnung zu planen und in die Tat umzusetzen. Sie wissen es selbst am besten, Herr Baumgarten: alle Menschen hegen ab und zu Mordgedanken, und nur die wenigsten morden in der Realität.“

„Erklären Sie einem Laien wie mir das Wort Ich-Stärke, bitte.“ Er mochte den Psycho-Jargon nicht.

„Jemand mit einem starken Ich ist in der Lage, zur Erreichung seiner Ziele den Verstand einzusetzen, einen Ablauf schrittweise zu planen und dementsprechend zu handeln.“ Viktoria unterstrich ihre Aussage mit den Händen. „Ob das Ziel dabei rational oder moralisch akzeptabel ist, ist irrelevant. Es geht wie gesagt nur darum, einen Gedanken konsequent und logisch in die Realität umzusetzen, und dazu war das Ich von Frau Senn meines Erachtens noch zu schwach. Allerdings kann ich mich täuschen.“ Sie öffnete ihre Mappe und begann, die Papiere auf dem Tisch hineinzulegen. „Gibt es sonst noch etwas, Herr Baumgarten, oder darf ich jetzt zu meinen Patienten fahren?“

„Sie kannten Tom Truninger, und Sie hatten Grund, ihn zu hassen.“ Nick startete einen Überraschungsangriff und beobachtete sein Gegenüber genau. Aber seine Gesprächspartnerin war ihm ebenbürtig: keine ungebührliche Regung in ihrem Gesicht, kein Flackern von Unsicherheit, keine Angst. Eine erfahrene Pokerspielerin, und offensichtlich auf die Frage vorbereitet. Sie hob ihre Augenbrauen und sagte: „Gut recherchiert, Herr Kommissar, Kompliment.“ Und wieder schwieg sie und wartete.

„Sie hätten ein Motiv gehabt, Truninger umzubringen. Wir wissen allerdings auch, dass Sie ihm nicht selbst ein Messer in den Rücken gestossen haben, weil Sie zur Tatzeit nachweislich in Viktorsberg waren.“

„Wie ich schon gesagt habe, Herr Baumgarten: der Wunsch, jemanden umzubringen, reicht allein nicht für die Tat. Und wenn Sie es genau wissen wollen, mein Hass auf Truninger war längst nicht mehr gross genug, um jemanden für einen Mord anzuheuern.“

Das Lächeln war nicht aus ihrem Gesicht verschwunden, aber es wurde kalt, eiskalt. „Ich verstehe sehr genau, was Sie mir unterstellen wollen. Sie glauben, dass ich Frau Senn dazu angestiftet habe, Truninger zu töten. Vermutlich bin ich in Ihrer Vorstellung auch dafür verantwortlich, dass sie sich das Leben genommen hat und deshalb nicht mehr gegen mich aussagen kann. Als Laie können Sie nicht wissen, dass Ihre wilde Hypothese absolut keinen Bezug zur psychotherapeutischen Realität hat. Der geringste Versuch, eine Patientin so zu beeinflussen, würde mich sofort meine Zulassung als Ärztin kosten – und das wäre Truninger nicht wert, tot oder lebendig.“

Sie stand auf, nahm ihren Mantel und ging zur Tür. „Ihre Verdächtigungen und falschen Beschuldigungen behalten Sie besser für sich, Herr Baumgarten.“ Wieder dieses kalte Lächeln, als sie die Tür öffnete. „Falls meine Vorgesetzten davon erfahren, könnte es für Sie sehr unangenehm werden.“

Fragt sich, für wen es unangenehm wird, dachte Nick und seufzte. Er hatte überhaupt nichts Verwertbares erfahren ausser der Tatsache, dass Frau Doktor Viktoria Fischer eine kühle, berechnende Schauspielerin war, die sich sehr sorgfältig auf ihre Rolle vorbereitet und ihren Text perfekt auswendig gelernt hatte.