Mittwoch, 21. November 2007
Um viertel nach zehn Uhr begannen die Glocken der Stadtkirche zu läuten. Es war nicht nur der graue, neblige Tag, der die Passanten in der Altstadt melancholisch stimmte: die Melodie der Glocken verkündete den Tod. Vor der grossen Abdankungshalle hinter dem Obergericht standen die Trauergäste in kleinen Gruppen beieinander und unterhielten sich leise. Allmählich bewegten sich die Menschen Richtung Eingang und fanden schweigend einen Platz, während aus den Lautsprechern der typische Gitarrensound von Mark Knopfler erklang. Nick Baumgarten erkannte die Titelmelodie aus dem Film Local Hero und war erleichtert, dass Maggie Truninger nicht auf den üblichen Albinoni zurückgegriffen hatte. Auch ein Pfarrer war weit und breit nicht zu sehen, sondern es war Andrew Ehrlicher, der aufstand und zu den Leuten sprach.
„Liebe Freunde, wir sind zusammengekommen, um von Tom Truninger Abschied zu nehmen.“ Neben ihm stand auf einer Staffelei ein grosses, in Gold gerahmtes Foto des Toten, eingefasst mit einem schwarzen Band und umgeben von wunderschönen Kränzen mit weissen Lilien und Rosen. „Er musste die Welt so plötzlich und auf so brutale Art und Weise verlassen, dass wir es alle nicht fassen können. Die Frage nach dem Warum werden wir unser ganzes Leben mit uns tragen, die Sinnlosigkeit lässt uns keinen Trost finden. Tom glaubte nicht an ein besseres Leben nach dem Tod, die Kirche und ihre Versprechungen auf ein Wiedersehen im Jenseits waren ihm immer suspekt. Deshalb müssen wir ihn schweren Herzens ziehen lassen ins Nichts.“ Andrew rang sichtlich um Fassung und fuhr erst nach einer längeren Pause weiter. „Wir wollen uns jetzt daran erinnern, wir wir ihn im Leben kannten und was er uns bedeutete.“
Ehrlicher setzte sich wieder in die erste Reihe, und ein grosser, etwas schwerfälliger Mann mit schütterem Haar stellte sich ans Rednerpult.
„Kennst du ihn?“ flüsterte Nick.
„Ich glaube, er ist der Präsident der Casino-Holding“, antwortete Marina leise, „er hielt an der Eröffnung eine Ansprache.“
„Les jeux sont faits, rien ne va plus.“ Der Satz hing in der Luft, der Redner liess ihn wirken. „Wie leicht sagen wir dies am Spieltisch, und wie schwer fällt es uns, wenn es um Leben und Tod geht. Als ich Tom Truninger zum ersten Mal traf, wusste ich noch nicht, wie erfolgreich er werden würde. Ich erkannte, das er Talent hatte und entschied mich intuitiv, ihm in meiner Firma einen Platz zu geben, egal welchen. Das war vor gut fünfzehn Jahren, und ich habe meinen Entschluss keine Sekunde bereut.“
Mit kräftiger Stimme zeichnete der Mann die Laufbahn von Truninger nach, erzählte von Sitzungen, in denen die Fetzen flogen, von ausgelassenen Firmenfesten mit Tom als Mittelpunkt, von der Loyalität seines Mitarbeiters. Auch die Schattenseiten liess er nicht unerwähnt: dass der Führungsstil von Truninger nicht immer alle begeisterte, dass er unberechenbar sein konnte, manchmal unangemessen reagierte. „So wie wir alle unsere Fehler haben, war auch Tom nicht perfekt. So wie wir alle erwarten, dass uns die anderen verzeihen, so wollen wir nachsichtig sein mit Tom Truninger. Es gibt jemanden, der ihm nicht verzeihen konnte und sich auf grausame Art und Weise gerächt hat. Die Behörden werden diese Person finden und einer gerechten Strafe zuführen. Aber wir, Familie, Freunde, Bekannte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wir wollen uns an das Gute in Tom erinnern, unser ganzes Leben lang.“
Die Musik, die jetzt erklang, liess Marina erschauern, sie senkte den Kopf. Wonderful Tonight von Eric Clapton war schon damals ein Lieblingssong von Tom gewesen, und er hatte ihn wohl all seinen Geliebten vorgespielt, inklusive Maggie. Nick nahm ihre Hand und lächelte ihr zu, sie schüttelte nur den Kopf, die Tränen liessen sich nicht aufhalten.
„Mein kleiner Bruder ist tot und ich konnte ihn nicht beschützen.“ Eine Frauenstimme, gebrochen, leise. „Früher, als wir Kinder waren, wusste ich, welche Gefahren auf ihn lauerten und wie ich ihn davor bewahren konnte.“ Sie sprach zögernd, mit langen Pausen zwischen den Worten. „Als er nach Amerika ging, konnte ich ihm nicht folgen, aber ich betete für ihn und zündete jedes Mal eine Kerze an, wenn ich spürte, dass er einen Schutzengel brauchte. Als er Maggie heiratete, und als Selma auf die Welt kam, da wusste ich, dass die kleine Familie jetzt für ihren eigenen Schutz sorgen würde, aber in meine Fürbitte schloss ich sie alle immer ein. Es hat nicht gereicht, ich wusste nicht einmal, dass er in Gefahr war. Möge der Allmächtige in seiner Güte ihn zu sich nehmen und ihm ewiges Leben geben.“ Die schmächtige Frau stützte sich auf den Arm von Andrew, der sie zu ihrem Stuhl zurückbrachte.
„Sie sieht aus wie siebzig, aber so alt kann sie nicht sein, oder?“ flüsterte Nick Marina zu.
„Nein, aber über sechzig ist sie schon, etwa zehn Jahre älter als Tom. Es gibt eine ganze Reihe von Geschwistern, sie sitzen alle in der vordersten Reihe.“
Andrew Ehrlicher sprach zum Schluss noch einmal. „Die Beisetzung findet gleich anschliessend im engsten Kreis auf dem Friedhof statt. Sie sind alle herzlich eingeladen, im Restaurant des Casinos auf unseren Tom Truninger anzustossen.“ Er kämpfte gegen die Tränen. „Tom, mein Freund, verzeih mir für all das, was ich für dich nicht sein konnte. Wir lassen dich ziehen mit der letzten Musik, im Wissen, dass du so gelebt hast wie du es wolltest.“ Frank Sinatra sang I Did It My Way, und als das Lied ausklang, erhob sich die Familie und ging langsam zum Ausgang. Marina hängte sich bei Nick ein, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und flüsterte: „Ich will dich nicht verlieren, mein Liebster.“
„Ich werde mein Möglichstes tun, Marina. Ich liebe dich, und wenn du willst, bleibe ich bei dir.“ Sie nickte nur.
„Bitte kommen Sie mit zum Grab, wenn Sie Zeit haben“, sagte Andrew Ehrlicher, als Nick und Marina der Familie kondolierten. Er drückte beiden eine weisse Rose in die Hand, und sie folgten Maggie und Selma durch den Friedhof zu den Gräbern. Hier gab es keine Ansprachen mehr, einer nach dem anderen legten die Trauernden ihre Rose auf die frische Erde, blieben einen Moment stehen, sprachen leise oder blieben stumm, bekreuzigten sich oder neigten den Kopf.
Ganz am Schluss nahmen Maggie und Andrew die kleine Selma in ihre Mitte und traten ans Grab. Maggie hielt die einzige rote Rose an ihr Gesicht, ihre Lippen bewegten sich in stummer Zwiesprache mit ihrem toten Mann, dann legte sie die Blüte hin und trat einen Schritt zurück. Andrew legte seinen Kopf in den Nacken, als ob er den Himmel anklagen wollte, nach einer langen Zeit erst beugte er sich hinunter und liess seine Blume fallen. Nur noch Selma stand jetzt ganz nahe am Grab. „Du hast heute so viele Blumen bekommen, Papa“, sagte das Mädchen mit heller und klarer Stimme, „ich werde meine behalten, damit ich dich nicht vergesse. Hasta la vista, Baby.“ Sie drehte sich um und ging davon, mit erhobener Hand winkte sie zurück.
Andrew und Maggie folgten ihr, und die Trauergäste zerstreuten sich langsam. Auch Nick und Marina schlossen sich an, er musste zurück an die Arbeit, und sie hatte entschieden, noch für eine halbe Stunde ins Casino zu gehen.
Und so kam es, dass keiner mehr sah, wie eine schwarz gekleidete Frau mit Hut und Schleier hinter einem grossen Baum hervortrat. Auch sie trug eine weisse Rose in der Hand, auch sie trat ans Grab von Tom Truninger, auch sie blieb ein paar Sekunden stumm stehen – und dann rammte sie ihre Rose mit voller Kraft senkrecht in die Erde.
*
„Und, wie war die Beerdigung?“ wollte Pfister wissen. „Hast du den Mörder unter den Trauergästen entdeckt, so wie im Kriminalroman?“
„Es war eine sehr stimmungsvolle aber traurige Feier, ganz ohne Pfarrer, dafür mit Musik von Clapton und Sinatra. Andrew Ehrlicher hat gesprochen, dann Truningers oberster Chef, und seine ältere Schwester. Der Schock sitzt allen tief in den Knochen, das merkte man.“
„Und die kleine Selma, wie verkraftet sie den Tod ihres Vaters?“ fragte Angela.
Nick lächelte, als er sich an die Szene am Grab erinnerte. „Sie verabschiedete sich mit Hasta la vista, Baby und schien sehr reif und erwachsen. Wo habe ich diesen Satz nur schon gehört?“
Peter Pfister wusste es. „Das sagt Arnold Schwarzenegger in einem seiner Filme, bevor er seinen Gegner mit der Kanone wegpustet. Sehr passend für eine Beerdigung, besonders von einem Kind.“ Er schüttelte den Kopf, als ob er sich über die heutigen Sitten wunderte.
Angela protestierte: „Es passt glaube ich sehr gut zu dieser Vater-Tochter-Beziehung. Sie hat mich doch auch nach meinem Schiesseisen gefragt. Vermutlich haben sich die beiden jeden Tag mit diesem Satz voneinander verabschiedet.“ Armes Kind, dachte sie, damit beschwört sie auch seine Rückkehr.
„Und wer war sonst noch da?“ Pfister wollte es genau wissen.
„Die ganze Geschäftsleitung natürlich, viele Mitarbeiter, die Geschwister von Truninger mit ihren Familien, einige Grossräte, Freunde. Ich schätze, es waren fast zweihundert Personen.“
„War die Fischer auch dabei?“
„Nein, zumindest habe ich sie nicht gesehen. Sie hat wohl genug zu tun nach ihrer Abwesenheit.“
Nick war nach der Abdankung in der Nähe der Familie geblieben und hatte sich die Leute angesehen, die Maggie und Selma die Hand drückten. Keine Viktoria Fischer, es sei denn, sie hätte einen Schleier getragen und ihr blondes Haar unter einer Perücke versteckt.
Angela räusperte sich. „Apropos Fischer, da ist noch etwas, was ich dir sagen muss, Nick. Ich habe einen Anruf von meinem Vater erhalten, und ich soll dir ausrichten, dass wir die Leute in Königsfelden mit Samthandschuhen anfassen sollen. Irgendwo muss durchgesickert sein, in welche Richtung wir ermitteln.“ Ihr Vater Franz Kaufmann war der kantonale Gesundheitsdirektor.
Nick schaute seine Mitarbeiterin mit zusammengekniffenen Augen an. „Ich kann mir schon denken, aus welcher Quelle er die Information hat, er sitzt zusammen mit dem Klinikdirektor im Rotary Club. Trotzdem erstaunt es mich, dass er uns ins Handwerk pfuschen will, er mischt sich doch sonst nicht in die Angelegenheiten anderer Departemente ein.“ Das hatte gerade noch gefehlt.
„Vergiss nicht, dass die Herren Regierungsräte nächstes Jahr wieder gewählt werden wollen. Die Gerüchte um das Lebensmittelinspektorat und die Demonstrationen der Hausärzte machen ihm zu schaffen, und wenn wir jetzt noch in der psychiatrischen Klinik eine Mörderin finden, könnte ihn das die Wahl kosten. Ich verstehe ihn ja, aber ich habe ihm auch deutlich gesagt, dass wir dort nachforschen müssen, wo ein Verdacht besteht.“ Angela seufzte. „Er möchte über die weitere Entwicklung auf dem Laufenden gehalten werden, und er will unbedingt mit dir reden. Es tut mir Leid.“
„Du bist nicht für deinen Vater verantwortlich, Angela, aber ehrlich gesagt kommt uns diese Intervention äusserst ungelegen. Ich werde mit dem Kommandanten reden und ihn warnen müssen, dass die Politik sich einmischen will. Scheisse! – ‘Tschuldigung.“
Nick stand auf und war eben im Begriff zu gehen, als sein Telefon läutete.
„Baumgarten.“ sagte er mit barscher Stimme. „Wer? Ach so, Herr Senn. Ja bitte, kommen Sie doch gleich vorbei. Vielen Dank.“
„Der Mann der toten Sybille Senn?“ fragte Pfister. „Was will denn der von uns?“
„Wir wollen etwas von ihm, Peter, das solltest du doch wissen, Himmel nochmal!“ fuhr Nick seinen Mitarbeiter an, sein Ärger war nicht zu überhören. „Ich habe ihn angerufen und ihm gesagt, dass eventuell ein Zusammenhang besteht zwischen dem Tod seiner Frau und einem anderen Todesfall, und dass wir deshalb mit ihm reden möchten. Er ist im Einkaufszentrum nebenan und kommt gleich zu uns. Ihr beide befragt ihn bitte über den Zustand seiner Frau bevor er in die Ferien fuhr, wann er zuletzt etwas von ihr gehört hat, wie er reagierte, als er vom Suizid erfuhr. Er weiss noch nicht, worum es wirklich geht, seid zurückhaltend und behandelt ihn mit dem gebührenden Respekt. Ich komme dazu, sobald ich mit dem Kommandanten fertig bin, oder er mit mir.“
Nick machte sich leise fluchend aus dem Staub.
„Du kannst allein mit dem armen Witwer reden, so was könnt ihr Frauen besser. Inzwischen vertiefe ich mich in die Akte über Ehrlicher, vielleicht finde ich ja doch noch einen dunklen Fleck.“ Peter Pfister schnappte sich die Unterlagen von Angelas Pult und verzog sich in seine Ecke.
„Feigling“, zischte Angela hinter ihm her und stand auf, um Albert Senn am Empfang abzuholen. „Wir sind im Besprechungszimmer im Parterre, wenn Nick uns sucht.“
*
„Ich bin Korporal Angela Kaufmann, Mitarbeiterin von Herrn Baumgarten. Er wird zu uns stossen, sobald er kann. Bitte setzen Sie sich doch, Herr Senn. Kaffee?“
„Lieber ein Glas Wasser, bitte.“ Senn war braun gebrannt von seiner Kreuzfahrt, aber sein Gesicht wirkte trotzdem fahl und seine Augen leer. Er war mittelgross, trug Cordjeans und einen sportlichen Pullover mit Polokragen, was zu seinem Beruf als Agronom passte.
„Es tut uns sehr Leid, was mit Ihrer Frau passiert ist. Es gibt jedoch einige Fragen, die wir gerne mit Ihnen klären möchten.“ Senn nickte. „Wie ging es Frau Senn, als Sie die Reise antraten?“ Angela schaute ihren Gesprächspartner aufmerksam an und lächelte ermunternd.
„Ich flog am 31. Oktober nach Miami, und am Abend vorher besuchte ich Sybille und ass mit ihr. Sie schien optimistisch, hatte grossen Appetit, freute sich darauf, dass wir nächstes Jahr gemeinsam eine Reise machen würden. Sie war weder euphorisch noch niedergeschlagen, sie sprach vernünftig und schien einzusehen, dass sie noch einige Wochen in der Klinik bleiben musste. Ich versprach ihr, sie alle paar Tage anzurufen und ihr zu erzählen, was ich gerade erlebte. Auch die Ärzte waren zuversichtlich, und ich ging davon aus, dass wir Weihnachten gemeinsam zuhause feiern könnten. Ich hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen, als ich abreiste, und jetzt mache ich mir natürlich Vorwürfe.“ Er vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Warum hatten Sie ein schlechtes Gewissen?“
„Wenn Sie je in die Lage kommen, einen Ihnen nahe stehenden Menschen durch eine schwere Krankheit zu begleiten, werden Sie wissen, wovon ich spreche. Meinem eigenen Vergnügen zu frönen während Sybille in Königsfelden war, das brachte ich fast nicht übers Herz. Aber Doktor Fischer und Doktor Müller rieten mir, mir selbst etwas zuliebe zu tun, Kraft zu tanken und ein bisschen Abstand zu gewinnen, und so fuhr ich dann trotz allem los. Hätte ich nur auf meine innere Stimme gehört, dann wäre Sybille vielleicht noch am Leben.“
Darauf gab es keine Antwort, Angela liess eine Minute schweigend verstreichen. Mit sanfter Stimme fragte sie dann: „Wann haben Sie zum letzten Mal mit ihr gesprochen?“
„Am 3. November spät nachts, als es hier schon Morgen war. Ich erzählte ihr von den Farben des Meeres und davon, dass ich ihr ein Geschenk gekauft hatte, sie wollte unbedingt wissen was es war, wie ein kleines Mädchen. Wir plauderten etwa zehn Minuten, dann musste sie zur Therapie. Sie war ruhig, freute sich über meinen Anruf und versprach, dass sie gesund sein werde, wenn ich zurückkomme. Ich hatte ein gutes Gefühl nach dem Gespräch und ging zufrieden schlafen.“
„Gab es irgendetwas Bestimmtes, von dem sie Ihnen erzählte, irgendetwas was Ihnen aufgefallen ist? Wir glauben, dass etwas Einschneidendes passiert sein muss, bevor sie sich das Leben nahm.“ Angela beobachtete die Reaktionen von Albert Senn genau.
Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Ich kann mich nicht in allen Einzelheiten an das Gespräch erinnern. Aufgefallen ist mir nichts, ausser dass sie wirklich optimistisch war. Ihre Ärztin schien es geschafft zu haben, ihr neuen Lebensmut zu geben, zumindest sagte sie das. Frau Fischer habe sie im Glauben bestärkt, sie dürfe für Gerechtigkeit sorgen, und sie werde vielleicht schon bald wieder arbeiten können.“
Angela spitzte die Ohren. „Gerechtigkeit? Wissen Sie, was sie damit meinte?“
„Ihren Rausschmiss beim Casino hat sie immer als sehr ungerecht empfunden, und seit es ihr besser ging, wollte sie wenn möglich wieder dort arbeiten. Die Personalchefin hatte offensichtlich angedeutet, dass eine Wiederanstellung nicht ganz auszuschliessen sei, und daran hielt Sybille sich fest.“
Angela atmete tief ein und setzte sich gerade hin. „Herr Senn, in der Nacht vom 6. auf den 7. November ist Tom Truninger, der Direktor des Grand Casinos, erstochen worden, und wir wissen, dass Ihre Frau am Tag zuvor bei ihm im Büro war. Hätte ‚für Gerechtigkeit sorgen‘ auch bedeuten können, dass Ihre Frau Direktor Truninger aus dem Weg räumen wollte?“
Schockiert starrte Albert Senn seine Gesprächspartnerin an. Nach langem Schweigen senkte er den Kopf und antwortete leise. „Die Sybille, die ich geheiratet habe und mit der ich mein halbes Leben verbrachte, hätte so etwas nie tun können, da bin ich mir ganz sicher. Aber diese andere Frau, die kranke, seelisch aus den Fugen geratene Sybille, die kannte ich nicht mehr, und ich kann Ihnen nicht mit Überzeugung sagen, sie sei keine Mörderin. Ich weiss es schlicht und einfach nicht.“
Angela füllte sein Glas auf, er trank ein paar Schlucke und erholte sich langsam wieder. „Ihre Theorie ist also die, dass Sybille diesen Truninger umbrachte und anschliessend ins Wasser ging?“
In diesem Augenblick kam Nick in den Raum und hörte, was Albert Senn sagte. Er stellte sich vor und drückte sein Beileid aus. Dann bestätigte er Senns Aussage und sagte: „Herr Senn, dieser Tathergang ist im Moment wirklich nur eine Theorie, und ich sage Ihnen ehrlich, dass mir nicht wohl ist damit. Wir haben aber zur Zeit keine andere vielversprechende Spur, und ich muss mich unbedingt nochmals mit den Experten in Königsfelden unterhalten. Ich verspreche Ihnen, dass wir unsere Arbeit so sorgfältig wie möglich tun, und dass wir weiter nach dem Mörder suchen werden, solange irgendein Zweifel an der Beteiligung Ihrer Frau besteht.“
Albert Senn hob seinen Kopf und atmete tief ein. „Tun Sie, was Sie tun müssen, Herr Baumgarten. Sie brauchen mich nicht zu schonen. Auch wenn meine Frau einen Mord begangen hat bevor sie sich das Leben nahm – ich habe sie verloren, so oder so.“ Er erhob sich und streckte Nick die Hand entgegen. „Sagen Sie mir, wann ich meine Frau beerdigen kann?“
„Ich denke, wir können sie in ein paar Tagen freigeben. Ich rufe Sie an.“ Nick bemerkte, wie Albert Senn leicht schwankte. „Angela, bringst du Herrn Senn bitte nach Hause? Ich glaube, er sollte jetzt nicht Auto fahren.“
„Klar, Chef. Ich nehme einen Kollegen mit, der den Wagen von Herrn Senn nach Brugg fährt. Ist das in Ordnung für Sie, Herr Senn?“
„Vielen Dank, Sie sind sehr freundlich. Ich bin wirklich erschöpft, nicht zuletzt auch durch den Jet Lag. Auf Wiedersehen, Herr Baumgarten, und ich wünsche Ihnen, dass Sie eine solche Situation nie selbst erleben müssen.“
Nick schaute ihm nach und hoffte inbrünstig, dass dieser Wunsch wahr werden würde. Immer wieder erlebte er, wie zerstörerisch Verbrechen waren, nicht nur für die Opfer. Er dachte an Maggie und Selma Truninger und daran, dass auch Albert Senn alles verloren hatte, was sein Leben lebenswert machte. Er dachte an Marina und an das, was sie an der Beerdigung gesagt hatte – das war vielleicht auch der Grund, warum sie sich nicht so eng an ihn binden wollte. Trotzdem beschloss er in diesem Moment, die kommenden Feiertage für ein ernsthaftes Gespräch mit ihr zu nutzen.
*
Langsam bewegte sich Marina durch die vielen Trauergäste, begrüsste hier eine Kundin, dort einen Bekannten, wechselte ein paar Worte mit einer Freundin. Wie erwartet traf sie auf eine kleine Gruppe von Studienkollegen, die sie seit der gemeinsamen Zeit an der Uni nie mehr gesehen hatte. Sie bedienten sich am reich bestückten Buffet mit Sandwiches und Weisswein, setzten sich an einen runden Tisch, und schon bald lockerte sich die Stimmung, sogar Gelächter war zu hören. Für eine Weile setzte sich Andrew Ehrlicher zu ihnen und sagte, Tom hätte sich gefreut über ihre Anwesenheit und darüber, dass an seiner Trauerfeier gelacht werde.
Als er wieder ging, beobachtete Marina, wie ihn in der Nähe der Türe eine Frau mit einem auffälligen schwarzen Hut heftig am Arm packte und nach draussen zog. Nach ein paar Minuten kam er zurück, die Frau war verschwunden. Er mischte sich wieder unter die Leute und liess sich äusserlich nichts anmerken; nur der geübte Blick von Marina erkannte eine neue senkrechte Falte zwischen seinen Augenbrauen.
Es wurde Zeit für sie zu gehen, sie verabschiedete sich von den alten Kumpanen, von Maggie Truninger und von Andrew. Auf dem Weg zur Garderobe begegnete sie Elena Fuchs und realisierte, dass Nick Recht hatte: die graue Maus existierte nicht mehr, sondern hier war eine elegant zurechtgemachte Frau mit dezentem Makeup, die sich selbstbewusst bewegte.
„Sie sehen gut aus, Frau Fuchs!“
„Danke für das Kompliment aus berufenem Munde, Frau Manz.“ Sie schob den blassrosa Seidenschal über ihrem dunklen Kleid zurecht. „Ich habe beschlossen, Ihre Ratschläge zu beherzigen, auch wenn der Anlass vielleicht nicht gerade dafür geeignet ist. Danke, dass Sie gekommen sind, wir sehen uns nächste Woche. Auf Wiedersehen!“
Elena lächelte Marina an, drehte sich mit Schwung auf ihren erstaunlich hohen Absätzen um und entschwand zurück zu den Gästen. Marina schaute ihr staunend nach und schüttelte den Kopf. Das konnte nur bedeuten, dass ein Mann im Spiel war.
Auf dem Weg zurück an die Kirchgasse schickte sie eine SMS auf Nicks Handy und bat um seinen Rückruf, sie habe in der letzten Stunde ein paar wichtige Beobachtungen gemacht. Im Geschäft wartete bereits ihre nächste Kundin, es mussten Bestellungen gemacht und Rechnungen bezahlt werden, der Nachmittag verging wie im Flug. Als Nick kurz vor sieben Uhr anrief, war sie noch so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie zuerst gar nicht wusste, wovon er sprach. Sie verabredeten sich auf Tapas und ein Glas Wein im El Camino, und auf dem kurzen Spaziergang dorthin versuchte Marina, ihre Erinnerungen an die Trauerfeier zu ordnen.
Die Verwandlung von Elena Fuchs konnte sie ganz genau beschreiben, aber die Frau, die mit Ehrlicher gesprochen hatte, hatte sich nur durch ihren grossen schwarzen Hut ausgezeichnet, der ihr Haar und Teile ihres Gesichts bedeckte. Hellhäutig war sie gewesen, und deshalb wohl eher blond als schwarzhaarig, aber das wusste man nie so genau. Sie hatte auch nicht gehört, in welcher Sprache die beiden miteinander geredet hatten – wenn man es genau nahm, würde sie Nick nicht viele Details erzählen können. Trotzdem, sie freute sich auf das Treffen mit ihrem Liebsten, und vielleicht war ja die Falte auf Ehrlichers Stirn ein wichtiger Hinweis.