Donnerstag, 22. November 2007

 

„Guten Tag, Frau Truninger, hier ist Baumgarten, Kantonspolizei. Ich möchte gerne mit Herrn Ehrlicher sprechen, wenn es möglich ist. – Gut, können Sie ihn bitten, mich so rasch wie möglich zurückzurufen? Vielen Dank und auf Wiedersehen, Frau Truninger.“

Kaum hatte Nick aufgelegt, klingelte sein Telefon wieder. „Baumgarten?“

Eine weibliche Stimme am anderen Ende sagte in wichtigtuerischem Ton: „Guten Tag, Herr Baumgarten. Herr Regierungsrat Kaufmann möchte Sie sprechen, ich verbinde.“

Verdammt – Nick hatte geglaubt, die Sache sei erledigt, aber jetzt machte er sich auf eine Abreibung gefasst. Und dann traute er seinen Ohren nicht: „Franz Kaufmann, grüezi Herr Baumgarten. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich natürlich keinesfalls in Ihre operativen Arbeiten eingreifen will, wie es vielleicht meine Tochter missverstanden hat. Mir ist klar, dass Sie diesen abscheulichen Mord aufklären müssen, und wenn die Spuren in die psychiatrische Klinik führen, müssen Sie natürlich dort ermitteln. Ihr Kommandant hat mir versichert, dass Sie mit der nötigen Diskretion vorgehen werden, und ich vertraue ihm und Ihnen selbstverständlich. Grüssen Sie meine Tochter, und ich wünsche Ihnen raschen Erfolg. Einen schönen Tag noch, Herr Baumgarten, auf Wiederhören.“ Und weg war er.

Nick lächelte entspannt und stellte sich vor, wie der Kommandant dem Herrn Regierungsrat in deutlichen Worten erklärt hatte, was Polizeiarbeit sei und wer über die Ermittlungsmethoden entscheiden konnte. Es ging doch nichts über einen Chef, der sich hinter einen stellte und einem den Rücken stärkte. „Das war dein Vater, Angela“, rief er durch den Raum, „er hat sich entschuldigt dafür, dass er uns dreinreden wollte, und er lässt dich grüssen.“

„Entschuldigt, mein Vater?“ lachte Angela erstaunt. „Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Lass mich raten: unser Chef hat ihm auf deutliche Weise die departementalen Zuständigkeiten erklärt, nicht wahr?“

„Ungefähr so muss es gewesen sein, ja. Er vertraut auf unser diskretes Vorgehen, lässt uns aber sonst freie Hand. Also, ich will so rasch wie möglich nochmals mit Doktor Fischer und dem Oberarzt reden. Kannst du für mich herausfinden, ob sie heute arbeiten?“

Schon wieder klingelte es, und diesmal war Andrew Ehrlicher der Anrufer. „Sie haben mich gesucht, Herr Baumgarten. Ich bin im Zug unterwegs zu meiner Mutter nach Bern, was kann ich für Sie tun?“

Nick entschied sich für den direkten Weg. „Wer war die Frau mit dem grossen Hut, mit der Sie gestern am Empfang nach der Trauerfeier gesprochen haben?“

„Sie haben Ihre Spione wohl überall, Herr Baumgarten!“ lachte Ehrlicher. „Das war Viktoria Fischer. Sie hatte die Trauerfeier verpasst und ging dann allein zum Grab, bevor sie ins Casino kam.“

„Meine Spione berichten, dass es kein harmloses Gespräch war, und dass Ihr Gesicht nachher nicht sehr entspannt aussah. Darf ich fragen, was Sie besprochen haben?“

„Vicky hat Angst, Herr Baumgarten, sie war sogar fast panisch. Sie befürchtet, dass Ihre Verdächtigungen ihre Existenz zerstören könnten; wenn auch nur ein kleiner Schatten auf ihre professionelle Haltung fällt, ist sie für die Klinik nicht mehr tragbar. Sie hat mir versichert, dass sie mit dem Mord nichts zu tun hat.“

„Glauben Sie ihr?“

Ehrlicher schwieg ein paar Sekunden und seufzte dann. „Sie ist keine sehr stabile Persönlichkeit, obwohl sie alles tut, um diesen Eindruck zu erwecken. Sie hat sich in Königsfelden und Zürich eine wohlstrukturierte Welt aufgebaut, in der sie zuverlässig funktioniert, aber sobald grössere Probleme auftauchen, reagiert sie konzeptlos und wie ein Kind. Das macht sie natürlich auch verdächtig, und ich habe versucht, ihr zu versichern, dass ihr nichts passieren könne, wenn sie unschuldig sei.“

„Und ist sie das?“ insistierte Nick.

„Ich weiss es wirklich nicht, Herr Baumgarten, aber ich glaube schon, wenn man die direkte Beteiligung oder Anstiftung meint. Da sie aber einen rachsüchtigen Zug hat, will ich nicht ausschliessen, dass sie Tom mit Hilfe ihrer Patientin eins auswischen wollte. Nur ist dann irgendetwas völlig schief gegangen, und der Denkzettel wurde zum tödlichen Drama.“

Nick atmete tief ein. „Hat Sie das Ihnen gegenüber zugegeben?“

„Nein, tut mir Leid, das ist nur meine persönliche Theorie. Hören Sie, Herr Baumgarten, ich weiss vielleicht, wie Sie sie zum Reden bringen. Sie hat grossen Respekt vor Autoritäten, und Sie könnten sie zu dritt mit dem Oberarzt oder sogar dem Chefarzt der Klinik befragen. Ich kann Ihnen fast garantieren, dass sie dann die Wahrheit preisgibt.“

„Danke für den Tipp, Herr Ehrlicher, ich melde mich bei Ihnen.“

„Tun Sie das, und ich hoffe, es klappt. Ihre persönliche Spionin ist übrigens eine sehr attraktive Frau, sie passt gut zu Ihnen. Bye!“

Nick legte auf und lehnte sich zurück. Mittlerweile war er sich sicher, dass er Andrew Ehrlicher vertrauen konnte. Der Mann war widersprüchlich: manchmal misstrauisch und zurückhaltend, ein Einzelgänger, aber gleichzeitig ein warmherziger Mensch mit ausgezeichneten Umgangsformen; er war unabhängig und anscheinend trotzdem beziehungsfähig – ein bisschen wie ich, dachte Nick, und deshalb mag ich ihn wohl auch so gern. Wenn der Fall abgeschlossen war, würde er ihn zusammen mit Marina zu sich einladen, für die beiden kochen und sehen, wie sie sich verstanden.

Angela Kaufmann setzte sich auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch und stellte ihm einen frischen Espresso hin. „Träumst du oder denkst du nach, Chef?“

„Ein bisschen von beidem“, lächelte er zurück, „danke für den Kaffee. Ehrlicher hat mir gerade gesagt, wie ich möglicherweise die Festung Viktoria Fischer knacken kann. Hast du schon etwas erreicht in Königsfelden?“

„Am Samstag Vormittag sind Müller und Fischer beide gleichzeitig im Dienst, und sie haben um zehn Uhr Zeit für dich. Die Sekretärin wusste, wer ich war und hatte offenbar den Auftrag, keine Einzelgespräche zu vereinbaren. Die beiden wollen scheinbar nur gemeinsam mit dir reden, und überhaupt hätte keiner von ihnen heute oder morgen Zeit. Du musst sie halt überraschend besuchen, wenn du individuell mit ihnen reden willst.“

Nick schüttelte den Kopf. „Andrew Ehrlicher hat mir genau das angeraten: ein Gespräch zu dritt. Er glaubt, dass Doktor Fischer auspacken wird, wenn ihr Chef dabei ist.“

Er leerte das Zuckerpäckchen in seinen Espresso und rührte kurz, dann trank er. „Schmeckt wunderbar. Haben wir eine neue Kaffeesorte, etwa diejenige von George Clooney?“ Er zwinkerte ihr zu.

„So weit gehe ich nun doch wieder nicht, dafür trinken wir zuviel Kaffee. Aber mein Bruder hat aus Italien Bohnen mitgebracht, die sich mit unserer Maschine offensichtlich gut vertragen. Willst du noch einen?“

„Danke, nein. Hast du übrigens Andrew Ehrlicher über sein Privatleben und andere Aktivitäten ausgefragt?“ Natürlich kannte er die Antwort, aber er fragte trotzdem.

„Ich habe es mir anders überlegt,“ sagte Angela nach kurzem Zögern. „Ich glaube ihm, und ich will nicht unnötig herumschnüffeln. Sein Leben geht uns im Grunde nichts an.“

„Gut so. Und wo ist Peter Pfister?“

„Er wollte in die Pathologie, um die Freigabe von Sybille Senn zur Beerdigung zu veranlassen, aber das war vor zwei Stunden. Er müsste längst wieder hier sein.“

„Bin schon da, liebe Kollegen. Manchmal muss man eben auch mit den Rechtsmedizinern ein bisschen plaudern, sie haben ja sonst nur schweigende Patienten.“ Pfister war für einmal guter Laune, und er sagte auch gleich warum. „Heute Nachmittag und morgen bin ich an einem Pensionierungs-Seminar auf Schloss Liebegg und kann euch leider nicht zur Seite stehen. Gibts noch etwas Neues, das ich wissen müsste?“

Sie setzten sich an den Besprechungstisch und fassten zusammen, was sie bisher wussten. Pfister bestätigte, dass sich am Körper von Sybille Senn keine Spuren von Fremdeinwirkung gefunden hatten, wie beispielsweise Blutergüsse oder Schürfungen, dass sie deshalb auch nicht von einer Brücke gefallen sein konnte, dass sie ertrunken sei, und dass es sich mit praktisch hundertprozentiger Sicherheit um Selbstmord handle. Er habe Herrn Senn informiert, dass seine Frau jetzt begraben werden könne. Der wissenschaftliche Dienst habe die Überwachungsvideos nochmals angeschaut und dabei nichts Neues gefunden, Sybille Senn sei kein zweites Mal von einer Kamera erfasst worden an jenem Abend. „Allerdings sind auch sonst zur fraglichen Zeit keine ungewöhnlichen Bewegungen zu sehen, alles wirkt wie ausgestorben in den Büros. Wenn man die Aufzeichnungen betrachtet, könnte man meinen, Truninger sei von einem unsichtbaren Phantom ermordet worden.“

Trocken entgegnete Nick: „Das Phantom kannte sich allerdings sehr gut aus mit den Standorten der Kameras. Vielleicht sollten wir uns die Aufzeichnungen aus dem Spieltrakt und der Garage auch nochmals vornehmen, Peter.“

„Scheissarbeit“, murmelte Pfister, „ich werde sehen, ob die Kollegen übers Wochenende Zeit haben, sonst wird es halt Montag. Vielleicht weisst du bis dann auch, wonach wir suchen, Chef.“

„Ich kann das heute Nachmittag und morgen übernehmen, Peter“, bot Angela an, „möglicherweise sehen meine Augen mehr als die eines kurz vor der Pensionierung stehenden Detektivs.“ Sie lächelte ihn an, aber die spitze Bemerkung verfehlte ihre Wirkung nicht.

Pfister stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und zog die Jacke an. „Danke für die Unterstützung, liebe Kollegin Angela, meine Sehkraft ist immer noch sehr gut. Aber ich merke, dass ich hier nicht mehr gebraucht werde. Tschüss, ihr beiden, und viel Erfolg beim Fernsehen.“ Die Tür fiel laut und deutlich ins Schloss.

Die Arbeit macht ihm keinen Spass mehr, dachte Nick, er ist überempfindlich und wirkt ausgebrannt. Ich muss mir überlegen, wie ich ihn die letzten achtzehn Monate noch bei der Stange halten und sinnvoll beschäftigen kann. Laut sagte er: „Sei lieb zu ihm, Angela, er möchte aufhören und kann noch nicht. Er muss noch mehr als ein Jahr ausharren.“

„Das verstehe ich ja, aber seine ständigen Ausflüchte gehen mir auf die Nerven. Er drückt sich um die Arbeit wo er kann, und alles bleibt an mir hängen.“

„Was wiederum auch damit zu tun hat, dass du deine Dienste offerierst. Jedenfalls kann ich dir sagen, dass du sehr gute Arbeit leistest, und dass man dies auch weiter oben bereits bemerkt hat.“

Sie strahlte. „Danke, Chef. Und jetzt, wie weiter? Haben wir wirklich nichts ausser Sybille Senn und ihrer Psychiaterin?“

„Auf jeden Fall nichts Konkretes. Ich gehe jetzt eine Stunde an der Aare spazieren, um auf neue Ideen zu kommen. Du beginnst mit den Videoaufzeichnungen, und zwar beschränkst du dich vorerst auf die Garage mit den Mitarbeiterparkplätzen. Ich weiss nicht, was wir suchen, aber du hast ein Auge für Aussergewöhnliches, also schau genau hin.“

Als er kurz vor zwei den Kopf ins Büro streckte, sass Angela mit konzentriertem Gesicht vor dem Bildschirm. Auf seine Frage schüttelte sie den Kopf und murmelte: „Noch nichts.“

„Ich muss zum Rapport, bin in etwa zwei Stunden wieder da.“

„OK, Chef. Vielleicht gehe ich zwischendurch eine Runde joggen und komme später wieder. Ich schreib es dir auf, wenn ich etwas finde.“

Nach der zu langen und ermüdenden Kadersitzung fand er das Büro des Teams leer und dunkel vor. Auf seinem Schreibtisch lag eine Notiz von Angela: „Bisher nix gefunden, mache morgen früh weiter. Bist du morgen auch hier?“

„Vielleicht am Vormittag, aber am Nachmittag gehe ich auf die Weinausstellung. Muss schliesslich am Samstag in die Psychiatrie“, schrieb er als Antwort. „Ruf mich auf dem Handy an wenn du etwas findest – jederzeit.“ Dann löschte auch er das Licht und machte sich auf den Heimweg.