Freitag, 23. November 2007
Auf dem Expovina-Schiff Stadt Rapperswil machte Nick im Katalog drei Kreuze neben dem Rueda Verdejo von Javier Sanz. „Ein wunderbarer Wein, und erst noch preisgünstig“, sagte er. „Jetzt gehen wir etwas essen, und nachher kommen die Rotweine dran.“ Er legte seinen Arm um Marina und führte sie über den schwankenden Steg zum Restaurantschiff.
Am letzten Sonntag waren sie zu träge gewesen, sich von zuhause wegzubewegen; heute nun wanderten sie seit einer guten Stunde von Stand zu Stand. Sie probierten spanische Weissweine: den einfachen Viña Sol und den komplexeren Fransola, beide aus dem Penedès, den kostbaren Albariño, und verschiedene fruchtige Tropfen aus der Verdejo-Traube, woran Marina besonderen Gefallen fand. Überhaupt hatte sie mehrmals mit Anerkennung die Augenbrauen hochgezogen und neue Geschmackserlebnisse gekonnt kommentiert: die Sache machte ihr sichtlich Spass. Auch der erfahrene Weinkenner Nick hatte eine neue Entdeckung gemacht und einen ausgezeichneten reinen Garnacha-Wein aus dem Priorat probiert, den er ebenfalls mit drei Kreuzen versah.
Sie setzten sich an einen freien Tisch in der italienischen Trattoria und bestellten Pasta mit Radicchio, dazu viel Wasser. „Was machst du jetzt mit den Weinen, die du angekreuzt hast, bestellst du von allen?“ fragte Marina. „Irgendwer muss sie ja auch trinken, sonst wird dein Keller bald zu klein sein.“
„Keine Sorge“, lachte Nick, „mein Keller ist gross genug. Nein, ich bestelle normalerweise nur die Weine mit drei Kreuzen, und auch dort muss ich mir überlegen, was noch vorhanden ist zuhause. Vom letzten Verdejo kaufe ich auf jeden Fall zwölf Flaschen, denn dabei hast du die Augen verdreht, so gut hat er dir gefallen. Und du hilfst mir ja sicher beim Austrinken.“
„Ganz sicher.“ Sie schaute ihm tief in die Augen, sagte aber nichts weiter.
Auch Nick liess den Moment verstreichen, obwohl er innerlich jubelte. Dies war innerhalb von drei Tagen schon der zweite Hinweis darauf, dass die Beziehung mit dieser wunderbaren Frau von Dauer sein könnte, auch aus ihrer Sicht. Bald, dachte er, bald.
Sie bestellten Kaffee, und Nick nahm seinen Katalog wieder aus der Tasche. „Jetzt kommen die Rotweine dran, und auch da werden wir uns für heute auf Spanien beschränken. Ich schlage vor, dass wir drei verschiedene Aussteller besuchen und dort die Spezialitäten kosten. Einverstanden?“
„Einverstanden, Chef. Aber ich sage dir, ich bin nicht mehr ganz nüchtern, und vielleicht musst du mich nachher zum Bahnhof tragen, wenn du noch genügend Kraft hast.“ Sie hängte sich bei ihm ein und liess sich zu den Riojas, Navarras und Toros entführen. Obwohl sie nur noch an seinem Glas nippte, musste sie am Ende klein beigeben und gestehen, dass sie den Ribera del Duero nicht mehr von einer Delikatesse aus dem Priorat unterscheiden konnte.
Leicht schwebend und zufrieden liessen sie sich die Bahnhofstrasse hinuntertreiben, schauten in die Schaufenster der Juweliere und Modegeschäfte, tranken Espresso an einer Stehbar und fuhren schliesslich mit der Bahn zurück nach Aarau. Der Spaziergang zu Nicks Haus weckte zwar ihre Lebensgeister kurzzeitig wieder, aber in der warmen Wohnung fielen ihnen die Augen zu, und sie legten sich eine Weile hin, um ihre Benommenheit auszuschlafen.
Um neun Uhr stand Nick leise auf und ging in die Küche. Aus verschiedenen frischen Gemüsen, Kartoffeln und etwas Speck bereitete er eine währschafte Suppe zu, deren köstlicher Geruch Marina eine halbe Stunde später weckte. Gähnend erschien sie in der Küchentüre, eingewickelt in einen seidenen Kimono und mit dicken Socken an den Füssen.
„Hallo, du Schlafmütze“, lächelte Nick liebevoll. „Gehe ich recht in der Annahme, dass du Hunger hast?“ Sie nickte und gähnte nochmals. „Möchtest du ein Glas Wein zum Essen?“
„Um Himmels Willen, nein“, lachte Marina leicht gequält, „ich habe schon lange nicht mehr so viel getrunken wie heute Nachmittag. Ein grosser Krug Wasser ist besser für meinen Brummschädel.“
Auch Nick hatte keine Lust mehr auf Alkohol, er stellte zwei grosse Wassergläser und frisches Brot auf den Tisch. „Setz dich und iss, es wird dir gut tun. Das ist eine sogenannte Katersuppe, sie hilft garantiert und schmeckt erst noch gut.“
„Danke für diesen Tag, Nick“, sagte Marina nach den ersten paar Löffeln. „Es macht Spass, mit dir Wein zu probieren und dir zuzuhören, wenn du darüber sprichst. Ich interessiere mich wirklich dafür, und obwohl ich morgen wahrscheinlich vieles wieder vergessen haben werde, einige der Traubensorten aus Spanien habe ich mir gemerkt. Immerhin ein Anfang, was meinst du?“
„Du lernst eben schnell, meine Maus, und deine Geschmacksnerven können verschiedene Noten gut auseinander halten. Abgesehen davon hast du auch klar gesagt, wenn dir etwas nicht schmeckte – eines Tages machen wir aus dir eine echte Expertin. Ich warne dich, ab jetzt kannst du mit mir nicht mehr einfach ein Glas Wein trinken, sondern du musst dir etwas Gescheites einfallen lassen dazu.“
Über den Tisch hinweg nahm er ihre Hand. „Danke, dass du mitgekommen bist. Zu zweit macht es viel mehr Spass als allein, wie so viele andere Dinge im Leben auch.“
Sie hielt seinem Blick stand, nach einer langen Pause verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln, das unvermittelt in ein Gähnen überging. „Entschuldige, ich habe wohl wirklich etwas viel getrunken und bin unendlich müde. Aber keine Angst, Nick, ich höre, was du sagst. Ich bin bereit, mit dir unsere gemeinsame Zukunft zu diskutieren – morgen oder übermorgen, jederzeit, einfach nicht mehr heute Abend, ja?“
Sie stand auf und kam um den Tisch herum zu ihm, setzte sich auf seine Knie und schlang ihre Arme um ihn. „Ich verspreche dir, dass du morgen alles von mir haben kannst, aber jetzt muss ich einfach schlafen, nur schlafen ...“ Ihr Kopf sank langsam auf seine Schulter, sie murmelte etwas Unverständliches, dann begann sie leise zu schnarchen.
Er stützte sie auf ihrem halb schlafenden Weg ins Bett, zog ihr Socken und Kimono aus und deckte sie zu. Er legte sich neben sie und betrachtete sie lange, ohne sie zu berühren. „Ich werde dich fragen, ob du zu mir ziehen willst, morgen oder übermorgen“, sagte er leise.
Kurz vor Mitternacht kam eine SMS-Nachricht von Angela: „Bisher Fehlanzeige in der Garage. Kann ich mitkommen nach Königsfelden? A.“
Nick schmunzelte über den Eifer seiner Mitarbeiterin. „Gute Idee, hole dich um halb zehn zuhause ab, gute Nacht“, schrieb er zurück, stellte den Wecker und schlief sofort ein.