Samstag, 24. November 2007

 

„Das ist meine Mitarbeiterin, Korporal Angela Kaufmann, die Tochter von Gesundheitsdirektor Franz Kaufmann. Frau Doktor Fischer, Herr Doktor Müller.“

Nick hatte sich vorher gut überlegt, ob er den politischen Vorgesetzten der Ärzte ins Spiel bringen wollte. Er war früh aufgestanden – Marina schlief noch – und hatte sich beim Kaffee seine Strategie für dieses Gespräch zurechtgelegt, zumindest in groben Zügen: Druck ausüben, sich nicht durch Fachausdrücke und Worthülsen vom Thema abbringen lassen, den scharfen Verstand von Angela nutzen. Die beiläufige Erwähnung ihres Vaters sollte von Anfang an die Machtverhältnisse klären, und genau das geschah auch: Doktor Müller hob die Augenbrauen um einen Millimeter und Doktor Fischer warf ihrem Vorgesetzten einen raschen Blick zu. Nur einem geübten Beobachter wie Nick fiel dieser Austausch auf, aber es genügte ihm, um sofort weiterzufahren. „Frau Doktor Fischer, wir müssen immer noch davon ausgehen, dass Ihre Patientin Tom Truninger umgebracht hat. Erzählen Sie uns doch bitte genau, wie die letzten Therapiesitzungen abgelaufen sind, und kommen Sie mir jetzt nicht mit der ärztlichen Schweigepflicht. Sie stehen unter Verdacht der Beihilfe zu Mord.“ Er legte sein kleines Diktiergerät auf den Tisch und drückte auf den Aufnahmeknopf.

Doktor Müller hob die Hand. „Moment, Herr Baumgarten, Moment. Frau Doktor Fischer hat mir von ihrer Verbindung zum Mordopfer erzählt, und Ihre darauf aufbauenden Hypothesen oder besser Spekulationen sind uns bekannt. Eine Frage, Frau Kaufmann. Weiss Ihr Vater, dass Sie und Ihr Chef gegen uns ermitteln, ohne dass es irgendwelche handfesten Beweise gibt?“

Angela lächelte freundlich. „Unsere Aktionen sind mit dem Polizeikommandanten abgesprochen, Herr Doktor Müller, und der wiederum hält den Gesundheitsdirektor über die Ergebnisse auf dem Laufenden. Verständlicherweise hofft mein Vater, dass sich unser Verdacht nicht erhärtet, aber er wird unsere Ermittlungen nicht beeinflussen. Können wir jetzt zurückkommen auf die Frage von Herrn Baumgarten, Frau Doktor Fischer?“

„Selbstverständlich, Frau Kaufmann.“ Die Stimme von Viktoria war gepresst, ihr Selbstvertrauen schien nicht mehr so stark zu sein wie bei ihrem letzten Gespräch mit Nick. „Ich habe in den Sitzungen versucht, die Lebenskraft von Frau Senn zu stärken und sie dazu zu bringen, an eine Zukunft zu glauben. Für schwer depressive Patienten ist jede Kleinigkeit zuviel, nichts ergibt einen Sinn. Es ging mir darum, Frau Senn zu vermitteln, dass ihr Leben nicht unnütz war, und dass es Dinge gab, wofür es sich zu leben lohnte.“

„Was für Dinge?“ Nick unterbrach die Ärztin. „Worum ging es konkret? Ihre allgemeinen Ausführungen bringen uns nicht weiter.“

Er beobachtete, wie eine Ader in Doktor Fischers Hals anschwoll und zu pulsieren anfing. Sie wird wütend, dachte er zufrieden.

„Es ging vor allem um ihr engstes Umfeld, Herr Baumgarten, wie zum Beispiel ihren Mann, ihre Arbeit, ihre Hobbies. Vor ihrer Erkrankung liebte sie ihren Garten, und wir versuchten mit Gesprächs- und Arbeitstherapie, diesen Funken wieder anzuzünden.“

„Uns interessieren vor allem die Themen aus dem Bereich der Arbeit, insbesondere ihre Anstellung im Casino. Sie war der Ansicht, dass ihre Entlassung völlig ungerechtfertigt war. Wie hat Sie mit Ihnen darüber gesprochen, und was waren Ihre Empfehlungen?“

Doktor Müller räusperte sich und griff ein. „Wir geben grundsätzlich weder Ratschläge noch Empfehlungen, Herr Baumgarten. Ratschläge sind auch Schläge, wie es so schön heisst, und unsere ethischen Grundsätze verbieten uns, unsere Patienten auf diese Weise zu steuern. Dies hat damit zu tun, dass insbesondere in der Psychiatrie ein Abhängigkeitsverhältnis besteht zwischen Arzt und Patient. Das darf von uns nicht ausgenützt werden.“

Angela fixierte Viktoria Fischer, die unruhig in ihren Akten blätterte. „Und genau das werfen wir Ihrer Mitarbeiterin vor, Herr Doktor Müller. Wir wissen, dass Sybille Senn mit ihrem Mann von Gerechtigkeit gesprochen hat. Zwei Tage vor dem Mord telefonierte Frau Senn mit ihm und sprach explizit davon, sie dürfe für Gerechtigkeit sorgen, sie habe die Erlaubnis ihrer Ärztin.“

Nick beobachtete, wie Doktor Müller die Stirn runzelte und Viktoria besorgt musterte: die Front bröckelte, das konnte er spüren.

Doktor Fischer schüttelte nervös den Kopf, und ihre Worte kamen schnell und überstürzt: „Das muss ein Missverständnis sein. Herr Senn hat etwas falsch verstanden oder interpretiert –“

„Viktoria“, unterbrach Doktor Müller mit fester Stimme, „was Frau Kaufmann sagt, beunruhigt mich sehr. Ich möchte von dir wissen, in welchem Zusammenhang du den Begriff der Gerechtigkeit mit deiner Patientin besprochen hast.“ Er machte eine Pause. „Ich denke, der Moment für die Wahrheit ist gekommen.“

Viktoria erhob sich und trat ans Fenster. Sie schaute lange hinaus in das fahle Winterlicht, und als sie sich wieder umdrehte, war die Fassade von Stolz und Professionalität verschwunden, sie wirkte wie ein kleines Mädchen. Leise, monoton, ohne Emotionen kam das Eingeständnis. „Ja, ich habe Sybille Senns Wunsch nach Gerechtigkeit oder sogar nach Rache missbraucht, um eine eigene Rechnung zu begleichen. Ich habe sie bestärkt in dem Gefühl, dass ihr Unrecht geschehen sei und sie sich rächen dürfe. Ich habe sie frei fantasieren lassen, habe sie nicht gestoppt, wenn sie sich ausmalte, wie sie Tom Truninger verprügeln wollte. Ich gab ihr einen Stock, mit dem sie auf ein Kissen einschlagen konnte, ermunterte sie dazu, ihre Wut auf ihn herauszuschreien. Ich habe mich sogar dazu hinreissen lassen, meine eigenen Gefühle mit den ihren zu vermischen und mitzubrüllen, wenn sie schrie, sie werde ihn umbringen.“

Die Ärztin holte tief Luft. „Aber, und jetzt kommt das grosse Aber, ich glaubte in keinem Moment daran, dass Frau Senn diese Gefühle und Vorstellungen in die Realität umsetzen könnte. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass sie allerhöchstens Truninger in seinem Büro aufsuchen und ihn beschimpfen würde, ihm vielleicht mit ihren verbalen Drohungen einen kleinen Schrecken einjagen könnte. Mehr konnte sie meines Erachtens nicht ausrichten, weil sie dazu nicht stark genug war. Ich fühlte mich sicher, absolut sicher.“

Sie wandte sich an ihren Vorgesetzten und bat ihn eindringlich um Verständnis: „Stephan, du kanntest Sybille Senn auch, und du weisst, wie labil ihr inneres Gleichgewicht noch immer war. Sie war nur knapp dazu fähig, ihre täglichen Aufgaben zu erledigen, wie um Himmels Willen hätte sie denn die Kraft für einen Mord aufbringen sollen?“

„Du hast Recht, Viktoria, sie war noch sehr labil.“ Doktor Müller erhob sich und stellte sich direkt vor Viktoria hin. „Und genau deshalb hättest du als Fachärztin äusserst sorgfältig mit ihren Gefühlen umgehen und die Patientin einem Kollegen übergeben müssen, sobald deine eigenen Interessen ins Spiel kamen. Ich bin sehr enttäuscht von deiner unprofessionellen Haltung, und wir werden die Konsequenzen für unsere Zusammenarbeit besprechen müssen.“

Er schaute wieder seine Besucher an. „Herr Baumgarten, Frau Kaufmann, ich kann Ihnen nur bestätigen, dass der Zustand von Frau Senn es ihr kaum erlaubt hätte, ein Messer zu ergreifen und jemanden damit zu töten. Wie wir gehört haben, fantasierte sie darüber und malte sich mit Hilfe ihrer Therapeutin ihren Rachefeldzug in den buntesten Farben aus, aber einen lebenden Menschen zu erstechen ist etwas ganz Anderes.“

Er hielt inne und schaute zu Viktoria. „Es sei denn, ihre Wut hätte sich zu einem treibenden Motor verselbständigt und den Fokus der Patientin so eingeengt, dass es nur noch eine Richtung, eine Handlung, ein Ziel gab: Truninger zu töten. Das ist zwar höchst unwahrscheinlich, aber im Prinzip möglich. Nicht wahr, Viktoria?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiss es nicht“, sagte sie nur und senkte ihren Blick, „ich weiss es wirklich nicht.“

Nick stand auf. „Frau Doktor Fischer, Sie sollten sich jetzt einen sehr guten Anwalt suchen. Bitte halten Sie sich in den nächsten Tagen zu unserer Verfügung, wir werden in Kontakt bleiben. Und Sie, Herr Doktor Müller, müssten sich mehr Mühe geben bei der Rekrutierung von Fachärzten; unsere Nachforschungen haben ergeben, dass in Bezug auf den Lebenslauf Ihrer Mitarbeiterin Klärungsbedarf besteht. Auf Wiedersehen.“

„Und warum hast du sie nicht gleich verhaftet?“ fragte Angela auf dem Weg zum Parkplatz. „Wir haben genügend Indizien, um sie wegen Beihilfe hinter Gitter zu bringen.“

„Erstens haben wir ihr Geständnis, zweitens kann sie nichts mehr vertuschen, drittens wird sie uns kaum entwischen, dafür wird Müller schon sorgen.“ Nick öffnete Angela galant die Wagentüre. „Und viertens ist diese ganze Geschichte überhaupt nur dann stichhaltig, wenn wir beweisen können, dass Sybille Senn und niemand sonst den Mord begangen hat.“

Er ging ums Auto herum, stieg ein und liess den Motor an. „Ihre Strafe wird Viktoria Fischer so oder so bekommen, ich garantiere dir, dass sie entlassen wird. Müller wird auf jeden Fall alles dafür tun, dass die Klinik nicht in ein schiefes Licht gerät.“

„Und was sagen wir jetzt dem Kommandanten und meinem Papa? Haben wir den Fall gelöst?“ Angela war nachdenklich, das konnte man hören.

„Es scheint so“, antwortete Nick nach einer Weile. „Allerdings habe ich immer noch ein ungutes Gefühl dabei. Die Beweislage ist äusserst dürftig, wenn wir Sybille Senn nicht doch noch auf den Aufzeichnungen des Abends finden.“

„Das werden wir nicht, Peter und ich haben wirklich gründlich gearbeitet. Da ist nichts.“

Schweigend fuhren sie zurück nach Aarau.

„Soll ich dich zuhause absetzen, oder bei deinen Eltern?“ fragte Nick. „Das Mittagessen könnte auf dem Tisch stehen um diese Zeit.“

„Danke, auf Vaters Fragen habe ich keine Lust. Lass uns ins Büro fahren.“

„Gut, dann schreibe ich meinen Bericht, den ich mit dir und Peter diskutieren will, bevor ich damit zum Kommandanten gehe. Nachher ist Schluss für heute.“ Ich habe etwas Wichtiges vor, dachte Nick, und wenn der Bericht geschrieben ist, habe ich vielleicht den Kopf frei dafür.

Erstaunlicherweise war das Teambüro beleuchtet, es roch nach frischem Kaffee. Ein blendend gelaunter Peter Pfister drehte sich auf seinem Stuhl um und begrüsste sie strahlend. „Schaut mal, was ich gefunden habe auf den Überwachungsvideos. Man muss nur den Zeithorizont etwas erweitern, dann findet man, was man sucht. Genau wie bei der Vorbereitung auf den Ruhestand.“

*

Marina schälte Kartoffeln für den Gratin Dauphinois. In ihrer eigenen Küche wusste sie genau, wo der Sparschäler lag, hier bei Nick hatte sie suchen müssen und war nur auf ein gewöhnliches Schälmesser gestossen. Gewisse Dinge gehörten einfach in eine gute Küche, dachte sie, Effizienz beim Kartoffelschälen war nicht möglich mit diesem unhandlichen Instrument. Bruce Springsteen sang Tougher Than The Rest, sie nippte am Château Thieuley, den sie sich selbständig aus dem Weinkeller geholt hatte. Der französische Weisswein schmeckte ihr, und sie spürte den Unterschied zu den Spaniern von gestern: zurückhaltender, trockener, weniger von der Sonne verwöhnt. Sie schnitt die Kartoffeln in Scheiben, arrangierte sie in der braunen Gratinform, gab ordentlich Salz und Pfeffer dazu, dann leerte sie die vorbereitete Mischung aus Milch und Rahm darüber und schob die Schüssel in den Ofen. Im Tiefkühler hatte sie eine Portion selbstgemachtes Ratatouillegemüse gefunden, das auf dem Herd vor sich hin köchelte und einen wunderbaren Duft verströmte. Während sie die Lammrückenfilets mit einer Marinade aus Olivenöl, Senf, Rosmarin, Thymian und Pfeffer einstrich, summte sie mit bei Jersey Girl und spürte plötzlich, wie wohl ihr war: keine Kopfschmerzen, keine Gedanken an die kommende Arbeitswoche, nur dieser Moment mit Musik, Wein und den Vorbereitungen für ein ganz normales Essen mit ihrem Liebsten.

Statt nach Hause zu gehen, war sie nach der Arbeit wieder in Nicks Wohnung zurückgekehrt und hatte bewusst versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, hier zu leben. Sie war am Fenster des Wohnzimmers gestanden, hatte in den winterlichen Garten geblickt und sich gefragt, wer darin für Ordnung sorgte; hatte sich auf das breite Bett gelegt, sich vorgestellt, wie sie jede Nacht neben Nick hier einschlafen würde – war das wirklich möglich, konnte sie ihrem Leben eine so grundsätzlich andere Wendung geben? Sie war zum Schluss gekommen, dass sie unbedingt ein Zimmer für sich haben musste, eine Rückzugshöhle gleichsam, ausgestattet mit allem Notwendigen. Wenn diese Bedingung erfüllt war – und sie hatte bereits eines der fünf Zimmer als ihr potentielles Reich ausgewählt – dann könnte sie sich überlegen, gelegentlich mit Nick zusammen zu ziehen. Ihre Wohnung an der Schiffländestrasse liesse sich gut vermieten, und im schlimmsten Fall könnte sie auch wieder dorthin zurückkehren.

Aber es wäre ein gewagter Schritt, risikoreich für eine Frau in ihrem Alter; mit dreissig hatte sie sich darüber nicht den Kopf zerbrochen, war ihrem Herzen gefolgt und hatte sich in das Abenteuer Ehe gestürzt. Nach achtzehn Monaten war sie ausgezogen, weil sie betrogen und finanziell ausgebeutet wurde; nach der Scheidung hatte sie geschäftlich wieder bei Null angefangen, und es dauerte eine lange Zeit, bis ihre seelischen Wunden heilten. Damals hatte sie beschlossen, sich niemals wieder auf eine enge Beziehung einzulassen, egal wie verliebt sie war. Sie hatte kürzere und längere Liebesgeschichten erlebt, oft mit verheirateten Männern, hatte daneben ihr eigenes Leben geführt, ihr Geschäft wieder aufgebaut, ihre Freundschaften gepflegt, sich als Single rundum wohl gefühlt.

Erst mit Nick waren plötzlich wieder diese uralten, archaischen Wünsche nach Nähe und Geborgenheit aufgetaucht: ausgerechnet mit einem Mann, der von sich sagte, er brauche viel Raum und Zeit für sich und seine Aktivitäten, und der immer allein gelebt hatte. Sie wollte ihn nicht einengen, ebenso wenig wie sie selbst in einen Käfig eingesperrt werden wollte; anderseits, waren nicht genau diese Gemeinsamkeiten eine gute Basis für eine Partnerschaft? Seelenverwandt, hatte er sie vor ein paar Wochen genannt, ich liebe dich weil du eine schöne Seele hast und sie verwandt ist mit meiner.

„Wovon träumst du, schöne Frau?“ Unbemerkt war Nick hereingekommen, seine starken Arme umfassten sie von hinten, er küsste ihren Nacken. „Träumen beim Kochen ist gefährlich, es könnte etwas anbrennen.“

„Alles unter Kontrolle, lieber Chef de Cuisine. Setz dich und trink ein Glas Weisswein mit mir, bis das Essen fertig ist. Du musst dich nur noch für einen Rotwein entscheiden, für alles andere bin heute ich zuständig.“

„Wunderbar. Meine Schürze steht dir übrigens ausgezeichnet, du könntest sie sogar als einziges Kleidungsstück tragen, ohne Unterwäsche – lecker!“

Marina lachte. „Gerne, aber bitte in einer wärmeren Jahreszeit. Wie war dein Tag?“

Nicks Gesicht verfinsterte sich. „Er war ehrlich gesagt nicht gut, obwohl wir gewisse Fortschritte gemacht haben. Ich weiss nur noch nicht, ob sie uns in eine Sackgasse führen.“ Er seufzte und stand auf.

„Jetzt kommt zuerst der Wein dran. Ich hole uns etwas aus der Provence, das passt wunderbar zu Lamm und Ratatouille.“

Marina kontrollierte den Ofen: noch wenige Minuten bis zum perfekt gebräunten Gratin. Das Gemüse war bereit; sie briet das Fleisch scharf an und liess es auf der niedrigsten Stufe nachgaren. Nick brachte eine Flasche Rasteau, einen Côtes du Rhône Villages, holte neue Gläser und schenkte ein. Marina stellte den heissen Gratin auf den Tisch und servierte zwei Teller mit Lamm und Gemüse. „Guten Appetit, Nick.“

„Santé, meine Liebe, und danke, dass du mich so verwöhnst. Es war wirklich ein harter Tag.“ Sie konzentrierten sich aufs Essen, Nick machte ihr Komplimente zum perfekt gegarten Lammrücken, kommentierte den Wein, aber Marina spürte, dass er nicht bei der Sache war. Er liess sich Zeit, dann sagte er: „Marina, ich muss dich etwas fragen.“

Jetzt kommts, dachte sie, jetzt muss ich Farbe bekennen. Sie senkte den Kopf.

„Wie gut kennst du die Vergangenheit von Elena Fuchs?“

„Was?! – Ach so, dein Fall.“ Auch das war eine Seite von Nick, diese Konzentration auf seinen Beruf, die manchmal an Verbissenheit grenzte. „Und ich dachte, du wolltest ernsthaft über unsere Zukunft reden.“ Sie verbarg ihre Enttäuschung hinter einem erstaunten Lächeln.

Nick massierte seine Schläfen. „Dafür muss ich unbeschwert sein, und solange wir in diesem Fall drinstecken, bin ich mit meinen Gedanken nicht zu hundert Prozent bei dir, entschuldige.“

„Gut, dann werde ich dir helfen, den Mord so rasch wie möglich aufzuklären. Was möchtest du über Frau Fuchs wissen?“

„Hat sie dir je etwas von früher erzählt, von ihrer Herkunft, ihrer Ausbildung, früheren Beschäftigungen?“

„Höchstens beiläufig, ich könnte ihren Lebenslauf nicht aufzeichnen. Ich weiss, dass sie an der Uni zweimal durch eine wichtige Prüfung gefallen ist – ach ja, sie wollte Medizin studieren und Ärztin werden. Aus irgendeinem Grund ging ihr aber das Geld aus, sie musste nebenbei jobben und konnte sich nicht intensiv genug auf die Prüfung vorbereiten. Das hat sie mir mal gestanden, als wir über die Abschlussprüfung meiner Lehrtochter sprachen. Sie erwähnte, dass sie nach dieser Erfahrung nie mehr in ihrem Leben eine Prüfung gemacht habe oder machen werde.“

„Weisst du, wann und wo sie studiert hat?“

„Keine Ahnung. Sie spricht sehr gut französisch und englisch, es könnte also auch im Ausland gewesen sein. Sie ist ein paar Jahre älter als ich, somit hat sie ungefähr Mitte der Siebzigerjahre mit dem Studium angefangen. Mehr kann ich dir leider dazu nicht sagen.“

„Ich habe schon etwas Wichtiges gehört, meine Maus. Hat sie einen früheren Arbeitgeber erwähnt?“

„Ich glaube nicht.“ Sie dachte nach. „Doch, da war etwas. Wir sprachen darüber, dass die Hautärzte uns Kosmetikerinnen oft nicht ernst nehmen, und da erwähnte sie einen Dermatologen und Schönheitschirurgen, in dessen Privatklinik sie das Handwerk als Personalchefin von einem erfahrenen Kollegen gelernt habe. Es schien eine lange und erfolgreiche Zeit gewesen zu ein, sie wurde mehrmals befördert. Aber wann das war, und in welcher Klinik, das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen.“

„Und sie lebt allein, sagtest du?“

„Ausser ihrem Kater komme ihr kein Mann ins Bett, hat sie mir einmal scherzhaft gesagt. Sie hegt und pflegt ihn wie ein Kind; sie hat auch schon eine Behandlung bei mir abgesagt weil der kleine Tiger krank war.“ Marina dachte an die Beerdigungsfeier. „Aber wie gesagt, das könnte sich geändert haben, denn ihr Auftritt am Mittwoch hat mich mächtig überrascht. Es würde mich nicht wundern, wenn es um einen Mann ginge.“

„Könnte sie eine Affäre mit Truninger gehabt haben?“

„Elena Fuchs und Tom Truninger? Niemals!“ Marina lachte laut heraus. „Er bevorzugte aussergewöhnliche und attraktive Frauen, nicht unauffällige und bescheidene. Zudem glaube ich wirklich, dass er seiner Maggie treu war. Und Elena Fuchs mochte ihn nicht sehr, das habe ich gespürt. Seine Erwartungen an die Kadermitarbeiter waren riesig, sie musste jederzeit zur Stelle sein und konnte kaum mehr ihren Hobbies nachgehen, geschweige denn ihren geliebten Kater regelmässig füttern und streicheln.“

„Warum hat sie nicht gekündigt? Sie hätte doch sicher eine andere Stelle gefunden.“

„Vermutlich schon, aber sie fühlte sich sehr stark für die Mitarbeiter verantwortlich, die, wie sie einmal sagte, in diesem unmoralischen Umfeld ihr Geld verdienen müssten. Ich schloss aus dieser Bemerkung, dass sich ihre Identifikation mit dem Glücksspiel in Grenzen hielt, dass sie aber trotzdem dem Casino gegenüber irgendeine Verpflichtung fühlte.“

Nick drehte nachdenklich am Stiel seines Glases. „Könnte passen“, murmelte er, „wäre möglich.“

„Sag mal, warum willst du so viel wissen über Frau Fuchs? Ist Sybille Senn nicht mehr deine Hauptverdächtige?“

„Ich weiss es noch nicht, Marina, ich muss nachdenken. Peter Pfister hat heute rein zufällig, vermutlich aus Unachtsamkeit, die Überwachungsvideos aus der Parkgarage vom 1. November angeschaut, das war ein paar Tage vor dem Mord. Darauf sieht man Elena Fuchs, die ihr Auto neben dem Wagen von Truninger parkt – vorwärts, im Gegensatz zu seinem Cherokee Chief, der in Fluchtrichtung steht. Beim Aussteigen sieht sie etwas, kauert vor dem linken hinteren Kotflügel seines Wagens nieder und berührt ihn. Sie steht wieder auf, gibt dem Kotflügel einen wütenden Tritt und verschwindet durch die Eingangstüre.“

„Und, habt ihr an seinem Wagen etwas gefunden?“

Er nickte. „Blut und Haare, aber eindeutig solche von einem Tier.“

Sie schauten sich an und sagten gleichzeitig: „Der Kater.“