Montag, 26. November 2007

 

„Scheisse, Scheisse, Scheisse!“ Angela und Pfister starrten ihren Chef an: er fluchte selten so laut, also musste die Lage sehr ernst sein. Er schmiss den Telefonhörer hin und stand so abrupt auf, dass sein Stuhl bis an die Wand zurückrollte. „Der Vogel ist ausgeflogen, in die Ferien nach Teneriffa. Die Sekretärin sagt, sie habe alle Termine für diese Woche absagen müssen.“

Mit raschen Schritten ging er auf die Türe zu. „Peter, du besorgst uns einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung von Frau Fuchs. Es besteht Verdunkelungsgefahr, geflüchtet ist sie schon. Angela, du recherchierst weiter über sie und ihre Familie. Ich muss wissen, ob mir der Chef eine schnelle und unbürokratische Verbindung zur spanischen Polizei herstellen kann.“ Kaum war er draussen, streckte er seinen Kopf wieder durch die Tür. „Und kein Sterbenswörtchen zu niemandem, verstanden?“

„Sag mal, was ist hier eigentlich los?“ fragte Peter Pfister seine Kollegin. „Verdächtigt er jetzt plötzlich die Fuchs, nur weil sie einer Autotüre einen Tritt versetzt hat? Vermutlich haben ihre Zehen dabei mehr gelitten als das Blech.“

Angela starrte auf ihren Bildschirm. „Ich glaube, da ist noch mehr. Ich bin gerade dabei, ihre Vergangenheit zu durchleuchten, aber viel finde ich nicht. Wir wissen, dass sie das Medizinstudium nach sechs Semestern abgebrochen hat, weil sie zwei Mal durch die Vorprüfung gefallen ist. Hier finde ich, dass sie seit 1996 Mitglied der Basler Gesellschaft für Personalfragen ist und dass sie letztes Jahr vor angehenden Sozialarbeitern einen Vortrag gehalten hat zum Thema Früherkennung der Spielsucht. Ich habe keine Ahnung, wo sie aufgewachsen ist, oder wer ihre Eltern waren.“

„Das kann ich mit meinen altmodischen Methoden herausfinden, Angela: ich kenne den Gemeindeschreiber von Küttigen“, schmunzelte Pfister und wählte eine Nummer. Nach fünf Minuten wedelte er mit einem Zettel vor ihrer Nase herum: „Geburtsort und -datum unserer schönen Helene, Namen, Vornamen und Geburtsdatum der Eltern, Todesdatum des Vaters, heutige Adresse der Mutter. Und alles ganz ohne Computer!“ Zufrieden grinsend ging er zurück an seinen Schreibtisch und kümmerte sich um die Genehmigung für die Durchsuchung. Angela tippte weiter, telefonierte kurz mit je einem Kollegen der Kantonspolizei Thurgau und Zürich, vertiefte sich wieder in das, was sie auf ihrem Bildschirm sah. Plötzlich hörte Pfister ein „Bingo!“ aus ihrer Ecke, sie klatschte in die Hände.

In diesem Moment kam Nick herein, zusammen mit dem Chef der Kriminalpolizei, Gody Kyburz. „Gut, das klingt nach greifbaren Resultaten, Angela“, sagte Nick mit gereizter Stimme. „In zwei Minuten machen wir eine Lagebesprechung, bitte bringt alle eure neusten Informationen und Erkenntnisse mit.“

Nick machte Kaffee für alle und sie versammelten sich am Besprechungstisch. Pfister telefonierte noch mit der Staatsanwaltschaft – „komme sofort!“ – als Kyburz ein paar einleitende Worte sagte. „Nick Baumgarten hat mich gebeten, die spanische Polizei um Rechtshilfe zu ersuchen, und das werde ich selbstverständlich gerne tun, sofern Sie mir genügend Argumente für Ihren Verdacht gegen Elena Fuchs liefern. Ich brauche mehr als nur einen leisen Verdacht oder ein Gefühl von Nick, auch wenn ich aus Erfahrung weiss, dass ich seiner Intuition meistens trauen kann. Also, was haben Sie Neues, Frau Kaufmann?“

Auch Pfister setzte sich nun an den Tisch, etwas atemlos zwar, aber mit zufriedenem Gesicht. „Der Durchsuchungsbefehl geht in Ordnung“, sagte er stolz.

„Sie kommen nachher dran, Pfister“, sagte Kyburz kurz angebunden. Er hatte keine Geduld mit Schwätzern, seine Stärken waren analytische Fähigkeiten und ausgezeichnete Kenntnisse des schweizerischen und europäischen Rechts.

Angela schaute auf ihre Notizen. „Elena Fuchs machte 1975 an der Kantonsschule Frauenfeld ihre Matura und studierte von Herbst 1976 bis Sommer 1979 in Zürich Medizin. Nach vier Semestern fiel sie durch die erste Zwischenprüfung, nach einem weiteren Jahr nochmals. Sie versuchte es nicht ein drittes Mal, sondern hängte das Studium an den Nagel. Ab Frühjahr 77, das heisst ab dem zweiten Semester, arbeitete sie als Kellnerin im Restaurant Silberkugel an der Sihlporte in Zürich, und zwar mit einem Arbeitspensum von mindestens sechzig Prozent. Das lässt darauf schliessen, dass sie ab diesem Zeitpunkt ihr Studium als Werkstudentin selbst finanzieren musste, und ich weiss mittlerweile auch warum. Es ist wohl kein Zufall, dass ihr Vater im April 1977 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, und zwar wegen Veruntreuung von Firmengeldern. Er arbeitete als Buchhalter in einem Metallbaubetrieb und schaffte es, während zwei Jahren fast hunderttausend Franken auf sein eigenes Konto umzubuchen. Und wohin trug Vater Fuchs das gestohlene Geld, meine Herren? Ins Casino Konstanz.“

Kyburz nickte anerkennend. Sie fuhr fort. „Kurz bevor er aus der Gefangenschaft entlassen worden wäre, erhängte sich Fuchs in seiner Zelle. In seinem Abschiedsbrief stand, er wolle seiner Familie die Schmach ersparen, mit einem Spieler und Betrüger zusammenleben zu müssen.“

Kyburz legte die Stirn in Falten. „Wir können daraus schliessen, dass Elena Fuchs aus familiären Gründen keine grosse Begeisterung für die Glücksspielbranche an den Tag legte. Trotzdem liess sie sich im Grand Casino Aarau anstellen – warum?“

„Vielleicht um Abbitte zu leisten und gleichzeitig Rache zu nehmen?“ vermutete Angela. „Als Personalchefin war sie auch für die Workshops für Spielsüchtige zuständig, die sie dem Vernehmen nach mit viel Herzblut betreute. Welche Form die Rache nahm, haben wir gesehen.“

„Könnte sein“, attestierte Kyburz, „aber dann hätte sie schon lange zuschlagen können.“

Jetzt war Peter Pfister dran. „Wir glauben, dass Truninger einige Tage vor seiner Ermordung die Katze von Elena Fuchs zu Tode fuhr. Es gab Spuren von Tierblut und Fell an seinem Wagen. In der Parkgarage sah Fuchs diese Spuren an Truningers Wagen, untersuchte sie und kam zum Schluss, dass der Direktor der Mörder ihrer geliebten Katze war. Das war der Auslöser dafür, dass sie zuschlug. Wir haben übrigens einen Durchsuchungsbefehl für ihre Wohnung und können nachschauen, ob die Katze noch lebt – in diesem Fall wäre unsere Theorie nichts als heisse Luft.“

Nick räusperte sich. „Auch ohne die Geschichte mit dem Kater kann Elena Fuchs die Mörderin sein. Als Motiv hatte sie den Rachefeldzug für ihren Vater, und die ideale Gelegenheit bot sich, als Sybille Senn mit dem Messer in der Tasche auftauchte. Sie nimmt ihr das Messer ab, wischt die Fingerabdrücke weg und legt es in ihre Schublade, wo es für die nächsten Stunden bleibt. Sie erzählt Truninger von der Waffe, aber der ist überhaupt nicht beeindruckt und lacht Fuchs wegen ihrer sozialen Ader aus. Auf ihren Vorschlag, für Sybille wieder eine Stelle zu finden, geht er gar nicht ein. Sie geht zurück in ihr Büro und wartet, bis ausser ihr und Truninger niemand mehr da ist. Sie nimmt das Messer und ein paar Akten, geht direkt zu ihm ins Büro und bittet ihn von der Türe her, sich die Unterlagen anzuschauen. Er steht auf, mit dem Rücken zu ihr, sie sticht präzise und gezielt zu – durch ihre Kenntnisse der menschlichen Anatomie weiss sie genau, wo und wie tief das Messer eindringen muss, damit der Tod eintritt. Natürlich trägt sie Handschuhe. Sie lässt ihn liegen, packt in aller Ruhe ihre Sachen zusammen und fährt nach Hause. Ihr Parkplatz in der Garage blieb den ganzen Tag leer, wir wissen nicht, ob sie mit Bus oder Taxi unterwegs war, oder ob ihr Wagen woanders geparkt war.“

Gody Kyburz runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und schaute in die Runde. „Es könnte sehr wohl so gewesen sein, aber wir haben keinen einzigen Beweis für eure Theorie. Wir haben auch keine Beweise dafür, dass Sybille Senn Truninger getötet hat. Für Elena Fuchs als Mörderin spricht, dass sie ein deutliches Motiv hat, oder sogar zwei. Für Sybille Senn spricht, dass sie erstens ebenfalls ein Motiv hatte, zweitens in schlechter psychischer Verfassung war und sich drittens nachher selbst umbrachte. Beides wären Indizienprozesse, und der eine erübrigt sich sowieso, weil die Verdächtige nicht mehr lebt. Auf dieser Basis können wir die Rechtshilfe aus Spanien gleich vergessen, Nick, die müssen konkrete Beweise haben, sonst bewegt sich dort unten nichts. Wenn ihr nichts Handfesteres findet, könnt ihr Frau Fuchs vernehmen, sobald sie aus Teneriffa zurückgekehrt ist, und nicht früher. Tut mir Leid – auf Wiedersehen, Herrschaften, und gutes Gelingen.“

„Du wärst wohl gerne für ein paar Tage auf die Kanaren geflogen, nicht wahr?“ sagte Pfister schadenfroh, als Kyburz ausser Hörweite war.

„Sei still, du Stänkerer“, antwortete Angela, „und lass deine Sprüche. Wir brauchen konstruktive Ideen, und zwar subito.“ Zu Nick gewandt: „Ich überprüfe die Kreditkarten von Fuchs, und überhaupt ihre Finanzen. Vielleicht bringt uns das irgendwie weiter.“

„Tu das. Und besorge mir auch die Handy-Nummer, ich will mit ihr sprechen. Jetzt brauche ich frische Luft, um mir das weitere Vorgehen zu überlegen, bin in einer Stunde wieder da.“ Er nahm seine Jacke und schlug die Tür hinter sich zu.

Peter Pfister holte Atem. „Sag jetzt nichts“, unterbrach Angela ihren Kollegen, „wir haben ein Problem, Nick ist verantwortlich, und da ist seine schlechte Laune kein Wunder. Du fragst bitte bei den Kreditkartenfirmen nach, ich übernehme die Bank.“ Sie griff zum Telefon.

Pfister grummelte vor sich hin, liess sich dann aber von der Dringlichkeit in Angelas Stimme überzeugen und fand schnell heraus, dass Elena Fuchs am Samstagabend mit ihrer Visakarte übers Internet einen Flug mit Air Berlin gebucht und bezahlt hatte. Die Fluggesellschaft wollte ihm zuerst keine Auskunft geben; er faxte den Durchsuchungsbefehl und erhielt daraufhin die Information, dass Elena Fuchs den Flug AB 2082 nach Teneriffa gebucht hatte, Abflug heute Vormittag um halb zehn Uhr. Einen Rückflug hatte sie nicht reserviert.

Nick war immer noch niedergeschlagen, als er gegen Mittag ins Büro zurück kam, aber die Resultate der Recherchen seiner Mitarbeiter liessen ihn aufhorchen. Angela berichtete, Elena Fuchs habe vor achtzehn Monaten eine Wohnung gekauft in einem Hotelkomplex in Playa de las Américas. „Ein schweizerisch-spanisches Immobilienbüro hat den Kauf abgewickelt, die Bezahlung erfolgte elektronisch über die Kantonalbank. Sie brauchte keinen Kredit, und wisst ihr, warum sie die hundertfünfzigtausend Euro einfach so hinblättern konnte? Im Februar 2006 gewann sie in der Lotterie Euromillions einen Betrag von sage und schreibe zweieinhalb Millionen Euro. Gemäss ihrer Beraterin bei der Bank hat sie alles schön brav versteuert und das Geld auf einem Sparkonto deponiert. Bisher hat sie sich nicht davon abbringen lassen, obwohl der Zins ziemlich mager ist.“

„Dafür ist das Geld dort sicher und kann von der Bank nicht verspekuliert werden“, meinte Pfister, „ich würde es genau gleich machen.“ Schön wärs, dachte er wehmütig.

„Das heisst Folgendes, meine Lieben: unsere ehemals graue Maus hat getan, was sie tun musste, und sich anschliessend nach Spanien abgesetzt. Wenn sie ihr Vermögen richtig investiert, oder wenn sie sparsam genug ist, kann sie ewig auf der Insel bleiben. Sie ist klüger als ich dachte. Gib mir ihre Handynummer, Angela.“

„Wenn sie wirklich so klug ist, hat sie ihr Handy ausgeschaltet“, brummte Pfister. „Und überhaupt sitzt sie vermutlich immer noch im Flugzeug.“

„Genau das hoffe ich“, antwortete Nick. „Ich will ihr eine Nachricht hinterlassen; dann werden wir sehen, ob und wann sie zurückruft.“

Er wählte die Nummer, Angela und Pfister hörten gespannt zu. „Guten Tag, Frau Fuchs, hier spricht Nick Baumgarten von der Kantonspolizei. Ich möchte Ihnen gerne noch ein paar Fragen stellen im Zusammenhang mit dem Mord an Tom Truninger, und ich bitte Sie, mich zurückzurufen. Ich nehme nicht an, dass Sie meine Karte dabei haben, deshalb gebe ich Ihnen hier die Nummer meines Mobiltelefons.“ Nachdem er die Nummer wiederholt hatte, machte er eine bedeutungsschwere Pause. „Inzwischen werden ich und meine Kollegen nach Küttigen fahren und uns bei Ihnen etwas umsehen.“

*

„Hallo, wer bist du?“ Ein kleines, blondes Mädchen schaute Nick und Angela aus grossen Augen an. „Mamii“, rief sie und rannte ins Haus zurück, „ein Mann und eine Frau sind vor der Tür, ich kenne sie nicht!“

„Ich komme“, klang es zurück, und nach einer langen Minute erschien eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm.

„Guten Tag, wir möchten zu Frau Fuchs.“ Nick und Angela lächelten freundlich.

„Ach, Sie kommen sicher wegen der Wohnung. Warten Sie einen Moment, ich lege den Kleinen ins Bettchen und hole den Schlüssel, dann zeige ich Ihnen die Wohnung.“

Nick und Angela verständigten sich mit einem erstaunten Blick, er legte den Finger auf den Mund.

„Elena hat mir gesagt, dass möglicherweise Leute kommen würden, um die Wohnung zu besichtigen. Jetzt, da sie keine Katze mehr hat, will sie in die Stadt umziehen, wissen Sie, dann kann sie zu Fuss zur Arbeit gehen.“ Die Nachbarin plauderte pausenlos, während sie die Besucher zur Eingangstüre des umgebauten Bauernhauses führte. „So, hier sind wir. Alles perfekt aufgeräumt und geputzt, wie immer bei Elena. Wann würden Sie denn einziehen?“

„Ach, das wissen wir noch nicht so genau“, log Nick. „Wann wird die Wohnung denn frei?“

„Elena hat letzte Woche gekündigt und möchte so bald wie möglich umziehen, aber sie muss bis Ende März bezahlen, wenn sie keinen Nachmieter findet, der früher einzieht.“

Von draussen war plötzlich lautes Kindergeschrei zu hören, die Frau seufzte. „Ich muss nachsehen, was los ist. Sie schauen sich um und bringen mir nachher den Schlüssel zurück, in Ordnung? Sie sehen nicht wie Diebe aus.“ Sie lachte und eilte hinaus.

„Sehr vertrauensselig, die Dame“, bemerkte Angela trocken und zog sich Handschuhe an. „Was suchen wir hier eigentlich, Nick?“

„Ich weiss es auch nicht, aber vielleicht fällt uns etwas ins Auge. Unterlagen, Briefe, Fotos – keine Ahnung. Auf jeden Fall müssen wir uns beeilen, sonst wird die Frau doch noch misstrauisch.“ Er stand mitten im Wohnzimmer und liess seinen Blick konzentriert durch den grossen, offenen Raum schweifen: Küche, Essecke, Wohnzimmer mit Cheminée. Die Küche hatte eine Tür zum Garten, natürlich mit Katzentürchen, die Möbel wirkten eher zufällig zusammengewürfelt, im Regal standen Reisebücher, Katzenbücher, medizinische und psychologische Literatur, keine Belletristik. Bei den CDs fand er hauptsächlich spanische und portugiesische Volksmusik, die Kiste mit den DVDs enthielt Filmklassiker und Liebesgeschichten.

Angela machte sich im oberen Stock zu schaffen, durchsuchte eilig die Kleiderschränke, das Badezimmer, schaute unters Bett – nichts. Auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer fehlte der Laptop: die Kabel waren noch da, ebenso der Drucker; die Schubladen des Schreibtischs waren abgeschlossen und ein Schlüssel war nirgends zu finden.

Nach einer Viertelstunde hatten sie nichts von Bedeutung gefunden. Sie brachten den Schlüssel zurück zur Nachbarin und fragten, wann denn Frau Fuchs wieder da sei.

„Sie sagte, sie wisse es noch nicht ganz genau, vermutlich nächste Woche. Sie ruft übermorgen wieder an, und dann kann ich ihr ja sagen, dass jemand wegen der Wohnung da war“, antwortete sie. „Hat sie Ihnen gefallen, nehmen Sie sie?“

„Vielleicht, wir haben aber noch andere Angebote. Wir melden uns dann nächste Woche bei Frau Fuchs. Vielen Dank für Ihre Mühe, und auf Wiedersehen.“

„Falls Sie sich genauer umsehen wollen, wissen Sie, Mass nehmen und so, dann kommen Sie einfach nochmals, ich bin immer zuhause. Auf Wiedersehen.“

„Möglicherweise tun wir genau das“, sagte Nick zu Angela, als sie zum Auto gingen. „Mich interessiert, was in diesem Schreibtisch drin ist, und dann gibt es sicherlich auch einen Estrich oder einen Keller.“

„Warum zeigen wir der Nachbarin nicht einfach den Durchsuchungsbefehl und tun unsere Arbeit?“ fragte Angela, während sie zurück nach Aarau fuhren.

„Weil sich die Gelegenheit ergab, uns umzuschauen, ohne gleich den Ruf von Elena Fuchs in ihrem Dorf zu ruinieren. Solange wir keine stichhaltigen Argumente, geschweige denn Fakten haben, warten wir ab. Ich will zuerst mit ihr reden, ob per Telefon oder von Angesicht zu Angesicht.“

„Willst du etwa doch nach Teneriffa fliegen?“

„Nein, natürlich nicht, du hast gehört, was Gody Kyburz gesagt hat. Und im Jagdgebiet der Policía Naçional werde ich sicher nicht auf eigene Faust wildern. Nein, aber vielleicht ruft sie mich ja nicht an, und dann müssen wir warten, bis sie wieder hier ist.“ Nick seufzte. „Und das könnte dauern, wenn mich nicht alles täuscht. Oder glaubst du wirklich, sie gönnt sich nur einen spontanen Urlaub und plant einen Umzug in die Altstadt?“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“ Angela bog nach links Richtung Einkaufszentrum und Polizeikommando ab. „Mir ist nur aufgefallen, dass sie nicht viel mitgenommen hat – in ihrer Wohnung, in ihrem Kleiderschrank, in ihrem Bad sieht es so aus, als ob sie wirklich nur für ein paar Tage weg wäre. Entweder hat sie ihren Abgang ganz kühl kalkuliert, oder sie sitzt am Montagmorgen wieder an ihrem Arbeitsplatz und ist unschuldig.“ Sie parkte ihren Wagen in der Polizeigarage. „Auf jeden Fall macht sie sich verdächtig, wenn sie nicht bald anruft.“

*

Im dritten Stock hörten sie Peter Pfisters lautes Lachen. Er stand mit einem uniformierten Kollegen vor der Getränkemaschine und erzählte Witze. „Kennst du den? Ein Türke, ein Serbe und ein Albaner sitzen in einem Auto. Wer fährt?“

Nick packte ihn unsanft beim Arm. „Pfister, ich warne dich ein letztes Mal. Noch eine einzige rassistische Bemerkung und ich beschwere mich beim Chef und bei der Gewerkschaft, und zwar schriftlich mit einem Rapport. Dann hast du bis zur Pensionierung nichts mehr zu lachen. Und jetzt ab ins Büro, aber presto, es gibt zu tun.“

„Schon gut, Chef, ich komme ja.“ Zu seinem Kollegen gewandt und so, dass es alle hören konnten, raunte er „Der Polizist, natürlich!“, grinste, zuckte mit den Schultern und folgte Nick und Angela. Trotzig setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und vertiefte sich in seine Akten. Wenn man etwas von ihm wollte, konnte man ihn höflich fragen; freiwillig würde er heute keine Informationen heraus rücken. Anderseits war er natürlich neugierig und hätte zu gerne gewusst, was die beiden in der Wohnung von Fuchs gefunden hatten. Er brauchte nicht lange zu warten; Nick rief nach ein paar Minuten zur Besprechung.

„Peter, etwas Neues?“

„Wie man es nimmt.“ Er konnte genau so kurz angebunden sein.

„Was heisst das?“ Nick unterdrückte seine Ungeduld, aber es fiel ihm schwer.

„Ach, es ist nicht wirklich etwas Neues, es entspricht nur den Erwartungen.“ Pfister sah, wie die Lippen seines Chefs schmal wurden. Es war Zeit, das Spielchen abzubrechen, sonst könnten die Konsequenzen schmerzhaft sein. „Also, die Frau Fuchs hat angerufen.“

„Wann?“ Nicks Stimme konnte sehr laut sein.

„Kurz vor fünfzehn Uhr, genau genommen um 14 Uhr 53.“ Pause.

„Und wärst du so nett uns mitzuteilen, was Frau Fuchs gesagt hat?“ Jetzt war die Stimme des Chefs bedrohlich leise.

„Sie hat sich dafür entschuldigt, dass sie nicht früher anrief. Ihr Flug nach Teneriffa sei verspätet gewesen, und sie hätte eben erst das Handy wieder eingeschaltet. Sie sei ab sofort wieder erreichbar, du sollst sie anrufen.“

Die Luft entwich hörbar aus Nicks Lungen, er wechselte einen Blick mit Angela. „Du erzählst Peter, was wir herausgefunden haben, und ich hole mir einen Kaffee. Dann rufe ich in Anwesenheit von euch beiden Frau Fuchs an.“

Angela brachte ihren Kollegen auf den neusten Stand. Er enthielt sich eines Kommentars; was auch immer er sagte würde die Stimmung nicht verbessern.

„Da wir das Gespräch nicht elektronisch aufzeichnen dürfen, stenografierst du mit, Peter. Ich schalte den Lautsprecher ein, und ihr seid bitte mucksmäuschenstill.“ Er wählte die Nummer.

„Baumgarten, guten Tag Frau Fuchs.“

„Hallo Herr Baumgarten, ich habe schon versucht, Sie zu erreichen. Sie haben eine eher seltsame Nachricht auf meiner Combox hinterlassen.“

„Warum seltsam?“

„Sie sagten, Sie wollten sich bei mir umsehen – heisst das in meinem Büro, oder bei mir zuhause? Suchen Sie etwas Bestimmtes? Vielleicht kann ich Ihnen sagen, wo Sie es finden, wenn ich weiss was es ist.“

„Sie haben uns vor allem dadurch überrascht, dass Sie so plötzlich in die Ferien abgereist sind.“

„Ach wissen Sie, Herr Baumgarten, das geht in meinem Beruf nicht anders. Wenn ich lange im Voraus plane, klappt es bestimmt nicht, und so verreise ich halt spontan, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Ein paar Tage Sonne und Meer tun mir immer gut, und die Wohnung hier in Teneriffa steht mir jeweils kurzfristig zur Verfügung.“

„Sie haben sie letztes Jahr gekauft, nicht wahr?“ Es entstand eine lange Pause, so dass Nick fragte, ob sie noch am Apparat sei.

„Ja, ich bin noch dran.“ Bisher hatte sie fröhlich und gut gelaunt geklungen, jetzt war sie plötzlich zurückhaltend und vorsichtig. „Das heisst also, dass Sie nachgeforscht haben, und das wiederum muss einen Grund haben. Gehöre ich neuerdings zum Kreis der Verdächtigen?“

„So würde ich es nicht ausdrücken, Frau Fuchs.“ Sie sind sogar meine Hauptverdächtige, dachte er. „Wann können wir Sie denn zurückerwarten? Sie haben bisher keinen Rückflug gebucht.“

„Ach, Sie glauben, ich habe mich abgesetzt und komme nicht wieder, ist das so?“

„Ich glaube gar nichts, Frau Fuchs, ich frage nur.“

„Ich will jetzt wissen, warum Sie mir diese Fragen stellen, Herr Baumgarten. Ohne Angabe von Gründen gebe ich keine Antwort mehr.“

„Gut, ich werde Ihnen sagen, was gegen Sie vorliegt. Wir haben auf dem Überwachungsvideo gesehen, wie Sie drei Tage vor dem Mord den Wagen von Tom Truninger untersuchten und dann dem Kotflügel einen Tritt versetzten. Da wir an dieser Stelle Blut und Fell gefunden haben, gehen wir davon aus, dass Truninger ein Tier überfahren hatte. War es Ihr Kater?“

Wieder machte sie eine Pause, bevor sie antwortete. „Ja, davon war ich überzeugt. Die roten Haare stimmten überein, die Zeit auch. Es musste in der Nacht davor passiert sein.“ Ihre Stimme war jetzt ganz leise, man hörte sie schlucken. „Er war ein rücksichtsloser Autofahrer, immer zu schnell und auf Schleichwegen unterwegs.“

„Waren Sie deshalb so wütend auf ihn, dass Sie ihn ein paar Tage später mit dem Messer von Frau Senn umbrachten?“

Ein etwas unnatürliches Lachen war zu hören. „Da haben Sie aber im Trüben nach einem Motiv gefischt, lieber Herr Baumgarten. Ich habe zwar mein Käterchen sehr geliebt, aber einen Mord können Sie mir deswegen nicht in die Schuhe schieben.“ Sie lachte wieder. „Abgesehen davon weiss ich inzwischen, dass ein Arzt aus Biberstein der Fahrer war, er hat sich letzte Woche bei mir gemeldet und sich entschuldigt.“

Aber das wusstest du zur Tatzeit noch nicht, meine liebe Elena, dachte Nick. Er schüttelte den Kopf und zwinkerte Angela zu. „Und die Geschichte mit der Spielsucht und dem Selbstmord Ihres Vaters?“

Erneut wurde es am anderen Ende sehr still. „Sie und Ihr Team haben wirklich tief in meiner Vergangenheit gegraben, mein Kompliment. Leider muss ich Ihnen jedoch sagen, dass auch diese Story als Motiv nicht sehr glaubwürdig ist, schliesslich habe ich in meiner Position tatkräftig mitgeholfen, für das Casino die besten Leute zu finden und die Geschäfte damit in Gang zu halten. Ich habe mit meiner Vergangenheit längst abgeschlossen, das kann Ihnen notfalls auch mein Therapeut bestätigen; Rache ist nicht meine Philosophie. Gibt es sonst noch etwas?“

„Auf Grund der Verdachtsmomente haben wir einen Durchsuchungsbefehl für Ihre Wohnung. Wir werden morgen mit unseren Spezialisten nach Küttigen fahren.“

„Das ist kein Problem, obwohl ich schon etwas überrascht bin. Aber bitte, Sie werden sowieso nichts finden, was mich belastet. Nur einen Wunsch habe ich: hinterlassen Sie kein Chaos und sagen Sie der Nachbarin nicht, wer Sie sind, sonst weiss es gleich das ganze Dorf. Sagen Sie, sie kämen wegen der Wohnung.“

„Wir werden unser Bestes tun. Und wann kommen Sie wieder in die Schweiz?“

„Irgendwann in den nächsten Tagen, voraussichtlich finden Sie mich am Montag wieder an meinem Arbeitsplatz. Dann stehe ich Ihnen für eine Vernehmung zur Verfügung, allerdings mit meinem Anwalt. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Herr Baumgarten, und auf Wiedersehen nächste Woche.“ Sie unterbrach die Verbindung.

Nick legte den Kopf in den Nacken und seufzte. „Sie lügt, ich weiss, dass sie lügt.“

„Da bin ich mir nicht so sicher“, entgegnete Angela. „Sie wirkte sehr souverän, insbesondere in Bezug auf die Durchsuchung ihrer Wohnung. Wenn sie etwas zu verbergen hätte, wäre sie nervöser gewesen, findet ihr nicht?“

„Genau das sieht man am Telefon nicht“, bemerkte Pfister, „bebende Nasenflügel, flackernde Augen, zitternde Hände.“ Er schüttelte den Kopf. „Wir hätten sie persönlich überraschen müssen.“

„Du hast Recht, Peter, es wäre vielleicht besser gewesen, aber wir hätten zu viel Zeit verloren. Abgesehen davon sind zitternde Hände auch nur ein Indiz und kein Beweis. Wenn wir in ihrer Wohnung nichts finden, hilft uns nur ein Geständnis.“