6
Katherine hätte nicht zu sagen vermocht, wann sie begann, ihre anfängliche Skepsis gegenüber Jason Manning zu verlieren. In den ersten Tagen nach ihrer bizarren Blitzheirat beäugte sie ihn misstrauisch. Sie legte jedes Wort auf die Goldwaage, hinterfragte jede Geste.
Ob Jace spürte, wie nervös und angespannt sie war? Jedenfalls war er ungeheuer einfühlsam, höflich und hilfsbereit. Er drängte sich ihr nicht auf, sondern ließ ihr Freiräume, Zeit zum Alleinsein, weil er intuitiv spürte, dass sie ihre Privatsphäre brauchte.
Allison war ein starkes Band, das sie miteinander verknüpfte. Es war bezaubernd, mit anzuschauen, wie Jace eine Beziehung zu seiner kleinen Nichte aufbaute, und Katherine fiel ein Stein vom Herzen. Sie brauchte sich gewiss keine Sorgen zu machen, denn er würde ein guter Vater sein. Bisweilen zog Allison seine Gesellschaft der ihren sogar vor.
»Schätze mal, wir ziehen uns besser an und gehen heute Morgen in die Kirche«, meinte er am Morgen nach ihrer Hochzeit, den Kopf hinter der Sonntagszeitung verborgen. Als er an den Frühstückstisch gekommen war, hatte er seine schmerzenden Muskeln gedehnt, weil er die Nacht auf ihrem schmalen Sofa verbracht hatte. Katherine hatte gelacht, als sie seine gequälte Grimasse bemerkte, während seine Gelenke knackten und knirschten. Er linste hinter der Zeitung hervor.
»Du willst in die Kirche?« Ihr fielen vor Verblüffung fast die Augen aus dem Kopf.
»Ja. Happy ist seit geschlagenen zwanzig Minuten draußen im Hof. Sie hat so ziemlich jeden Unsinn gemacht, den man in dem kleinen Innenhof machen kann. Zwischendurch starrte sie andauernd vorwurfsvoll in Richtung Apartment. Sie hat unweigerlich registriert, dass mein Jeep die ganze Nacht hier geparkt stand, und jetzt denkt sie vermutlich, dass wir irgendwas miteinander anstellen, was für ihr Empfinden verrucht, verboten und tabu ist.«
»Herrje, Happy! Die hab ich in der Hektik total vergessen«, japste Katherine bestürzt.
»Weißt du was, wir gehen nachher zusammen zu ihr und erzählen ihr das mit unserer Hochzeit.«
»Und du willst wirklich in die Kirche?«
»Ja. Es sei denn, du bist Atheistin und hast damit nichts am Hut. Also ich bin Protestant. Hast du damit Probleme?«
»Nein, nein, es ist bloß so, dass …«
»Katherine, ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass darüber geredet wird, wenn die junge Witwe Adams Hals über Kopf ihren Schwager heiratet, der lange Zeit im Ausland war? Und weil die junge Witwe Adams ein Baby hat, das gerade mal ein paar Monate alt ist? Da die Mannings zumindest vorübergehend in Van Buren wohnen werden, möchte ich schleunigst dokumentieren, dass sie der Gemeinde mit gutem Beispiel vorangehen. Glaub mir, ich werde dich vor falschen und infamen Spekulationen zu schützen wissen. Bis auf die Tatsache, wer Allisons leibliche Eltern sind, haben wir absolut nichts zu verbergen, und sobald wir die Kleine adoptiert haben, ist das auch kein Thema mehr. Zudem ist Angriff die beste Verteidigung.« Er spähte über den Rand der Zeitung hinweg zu ihr und grinste. »Okay?«
»Ja, und danke«, murmelte sie und schlug die Augen nieder. Tränen glitzerten in ihren Wimpern. Sie nahm das vorbereitete Fläschchen und lief aus der Küche, um Allison zu füttern. Grundgütiger, sie mochte sich Jason nicht verpflichtet fühlen, und trotzdem musste sie ihm dankbar sein. Hatte dieser Mann eigentlich immer alles unter Kontrolle? Übersah er nie etwas? Seine Argumentation war jedenfalls schlüssig, seufzte sie.
Jace war bester Laune, weil ein paar Geschäfte am Labor Day geöffnet hatten und er folglich das in Aussicht gestellte breitere Bett kaufen konnte. Er vereinbarte mit dem Möbelhaus, dass das Bett tags darauf geliefert und aufgestellt werden sollte.
»Aber Jace, ein Doppelbett passt gar nicht in das kleine Zimmer!«, protestierte Katherine, als sie die Riesenspielwiese sah.
»Dann räumen wir eben ein paar von den Schränken raus. Ein kleineres Bett bringt doch nichts.« Lachend drückte er ihren Arm. »Ich verspreche dir auch, dass ich das hübsche Ambiente, das du dir geschaffen hast, nicht zerstören werde.«
Er kaufte einen neuen Kombi und zückte dafür mal eben locker seine Goldcard. Katherine war baff. Schließlich musste sie jeden Cent dreimal umdrehen, bevor sie ihn ausgab, und für jede größere Anschaffung lange sparen. Dass jemand auf einen Schlag so viel Geld ausgeben konnte, war ihr unbegreiflich.
Dieser Lebensstil behagte ihr nicht. Sie hatte ihre Aversion gegen die Mannings nie ganz ausgeblendet, obwohl sie mit einem verheiratet war und inzwischen selbst den Namen Manning trug. Die Vorstellung, dass sie von dem Geld eines Manning lebte, war ihr unerträglich. Auf der Rückfahrt von ihrer Shoppingtour sprach sie das Thema an.
»Jace …«, begann sie unschlüssig.
»Hmm?« Er knabberte an einem Hershey-Riegel. Inzwischen wusste sie, dass er zu jeder Tages- und Nachtzeit Schokolade essen konnte. Wieso wurde er eigentlich nicht dick?
»Du hast die Krankenhausrechnung für Ronald Welsh bezahlt, stimmt’s?«
Er hörte auf zu kauen und spähte zu ihr. »Ja«, antwortete er. Er bremste und hielt mit dem neuen Wagen vor einer roten Ampel.
»Und du hast seiner Frau Geld geschickt?«
Statt einer Antwort nickte er.
Sie zupfte nervös mit den Fingern an ihrem Sommerkleid und fuhr zögernd fort: »Du musst eine Menge Geld haben. Ich meine, du bezahlst ein Auto mal eben locker mit deiner Kreditkarte und so. Ist … das von deinem Gehalt? Ich frag bloß, weil …«
»Du willst wissen, ob es mein Geld ist oder das meiner Eltern.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Er parkte eben den Wagen in Happys Einfahrt und drehte sich zu ihr.
»Es ist mein Geld, Katherine.« Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Und ich hab mir jeden Cent sauer verdient, denn ich hab geschuftet wie ein Pferd. Als ich Afrika verließ, war eine anständige Bonuszahlung fällig. Willoughby Newton, der Chef von Sunglow, ist überaus fair. Ich hab einen Anteil an sämtlichen Ölquellen, die ich für den Laden erschließe. Seit meinem Collegeabschluss hab ich von meinen Eltern keinen Cent mehr genommen.«
»Bitte versteh mich nicht falsch. Es ist deine Privatsache, ob du von ihnen Geld nimmst oder nicht. Ich persönlich möchte auf gar keinen Fall …«
»Du möchtest Eleanor und Peter Manning sen. nicht auf der Tasche liegen, weil du dafür zu stolz bist.« Er senkte die Stimme und sagte weich: »Ich bin stolz auf dich.« Er neigte sich über den Sitz zu ihr und hob mit seinem angewinkelten Zeigefinger ihr Kinn an, zwang sie, ihn anzuschauen. »Und meine privaten Angelegenheiten sind jetzt auch deine Angelegenheiten. Darf ich dich kurz daran erinnern, dass du meine Frau bist?«
Seine Lippen kosten die ihren sanft und sinnlich. Es war ein schneller, flüchtiger Kuss, gleichwohl schmeckte Katherine mühsam gezügelte Lust. Ihr Herz hämmerte wie wild, als er sich zurücklehnte und sie mit seinen strahlend blauen Augen fixierte. Sie meinte in seinen unergründlichen Tiefen zu versinken, ehe er schlagartig die Tür aufstieß und sich aus dem Wagen schwang.
Happy fasste die Neuigkeit ihrer Hochzeit äußerst positiv auf. Sie strahlte übers ganze Gesicht und gratulierte den beiden von Herzen. Ob sie eine frühere Beziehung der beiden vermutete oder insgeheim die Hände über dem Kopf zusammenschlug, weil die beiden sich erst so kurz kannten - sie behielt ihre Mutmaßungen für sich. So viel Feingefühl wusste Katherine zu schätzen.
Happy erbot sich, Allison für den Rest des Nachmittags zu sich zu nehmen, weil die beiden noch eine Wand in Jasons Schlafzimmer streichen mussten. Zumal das Bett tags darauf geliefert wurde.
»Wenn wir gemeinsam anstreichen, geht es ganz fix«, versprach sie, als er ihren Vorschlag mit einem missmutigen Grummeln quittierte.
»Schon mal was davon gehört, dass man am Labor Day frei hat?«, maulte Jace, dennoch war er mit Begeisterung bei der Sache, als Katherine in ihrem Maler-Outfit auftauchte, das sie auch bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte.
»Du siehst scharf aus in diesem Outfit, weißt du das?«, sagte Jace, als sie zwischendurch eine Pause machten. Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden und nippte an einem Softdrink. »Lass dich bloß nicht von mir erwischen, dass du in diesem Fummel nochmal jemandem die Tür öffnest«, warnte er leise grummelnd.
Er betrachtete sie unter lasziv gesenkten Lidern und meinte weich: »Als ich deine Beine zum ersten Mal sah, brauchte ich meine geballte Selbstbeherrschung, sonst hätte ich dich vom Fleck weg vernascht.«
»Was?« Seine freimütige Enthüllung verblüffte Katherine. »Wann?«
»Hmmm, lass mal überlegen.« Er schloss in gespielter Konzentration seine von dichten schwarzen Wimpern umrahmten Augen. »Ich glaube, das war am zweiten Tag, nachdem ich hergekommen war. Ich war auf dem Campus und drückte mich auf dem Flur des Verwaltungsgebäudes rum, in dem du dein Büro hast. Es war rein persönliche Neugier. Ich wollte heimlich einen Blick auf die berühmtberüchtigte Miss Katherine Adams riskieren, die skrupellos ein Neugeborenes aus der Klinik entführte und mit ihm quer durch das ganze Land gefahren war.«
Er trank einen Schluck von seinem Softdrink und lehnte sich lässig an die Wand zurück. »Du kamst aus deinem Büro und bist zu dem Wasserspender gelaufen. Ich glaube, du hast zwei Aspirin eingeworfen. Wie auch immer, als du dich vornüberbeugtest, um einen Schluck Wasser zu trinken, bekam ich einen verdammt reizvollen Blick auf deine Beine geboten … unter anderem.« In seine Augen trat ein teuflisches Glitzern.
Katherine stockte vor Entrüstung sekundenlang der Atem, bevor sie spitz konterte: »Aber das kann gar nicht sein! Dann hätte ich dich bestimmt im Flur gesehen. Ich bin sicher, du wärst mir spontan aufgefallen.«
Er hob gespannt eine Braue. Mit gesenkter Stimme sagte er: »Ach ja?« Er stieß sich mit seinen kräftigen Armen von der Wand ab. »Willst du damit andeuten, Mrs. Manning, dass du deinen Mann zumindest ein bisschen attraktiv findest?«
»Ich … ich will damit andeuten … dass …«
»Ja?«, fragte er weich, dabei legte er seine Hände auf ihre Schultern. Sanft, aber bestimmt drückte er sie zu Boden und ließ sich neben sie sinken. »Was wolltest du sagen?« Sein Gesicht schwebte über ihrem. Er streckte sich neben ihr aus, und sie spürte, wie sein Körper an ihren drängte.
»Ich wollte gerade sagen …«
»Das kann warten«, flüsterte er gepresst, ehe sein Mund sich auf ihren senkte.
Katherine sträubte sich nicht. Sie sehnte sich nach dem berauschenden Prickeln, das ihren Körper bei seinen Küssen durchströmte. Sie öffnete ihm bereitwillig die Lippen. Streifte mit ihrer Zungenspitze zaghaft seine. Ein leises Stöhnen entfuhr seiner Kehle, sein Kuss wurde fordernder. Mit seiner Hand streichelte er den nackten Streifen Haut über dem Bund ihrer Shorts.
Er schob ein Knie zwischen ihre Oberschenkel und massierte ihren Venushügel mit sanftem Druck. Auch er trug Shorts, und die Wärme seiner nackten Haut auf ihrer war elektrisierend. Sein Bein rieb sich aufreizend an ihrem. Der Flaum auf seinem langen Schenkel kitzelte ihre weiche Haut. Der Duft, das Gefühl und die Textur seiner Haut waren völlig anders als bei ihr, wirbelte es Katherine durch den Kopf. Und dieser Unterschied befeuerte ihre Sinne mit einem unbändigen Verlangen.
Er vergrub sein Gesicht in ihrem Nacken, hauchte leise gestammelte Zärtlichkeiten, presste glutvolle Küsse auf ihre pulsierende Halsbeuge, während er an den Knöpfen ihres Shirts nestelte. »Katherine, Katherine, ich will …«
»Hey, ihr zwei, ich hab ein paar Sandwiches für euch gemacht. Ihr habt bestimmt Hunger. Macht mir mal einer die Tür auf? Ich hab beide Hände voll«, drang Happys Stimme von der Eingangstür her zu ihnen.
»Ich kann es nicht fassen!« Jace schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Er stand auf und stapfte durch das Wohnzimmer, um der überengagierten Vermieterin die Tür zu öffnen. Manchmal meinte Happy es wirklich zu gut mit ihren Mitmenschen.
 
»Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass Happy uns in einem intimen Moment stört. Soll ich womöglich jedes Mal eine Krawatte um die Türklinke binden, wie Ryan O’Neal seinerzeit in Love Story, wenn Ali McGraw in seinem Zimmer war?«
»Jace, bitte!«, versetzte Katherine in gespielter Entrüstung und giggelte.
Happy hatte nur schnell den Teller hereingereicht und war gleich wieder verschwunden. Sie mochte Allison nicht länger als nötig unbeaufsichtigt lassen. Katherine und Jace verdrückten die Sandwiches und machten sich wieder an die Arbeit. Nachdem die Wand gestrichen war, machten sie sich daran, das Chaos aufzuräumen.
»Ich muss sagen, das Zimmer sieht klasse aus«, räumte Jace ein. »Anfangs dachte ich, die braune Wand macht den Raum zu dunkel.«
»Nicht mit der breiten Fensterfront auf der Südseite.« Katherine hatte die Gestaltung des Zimmers sorgfältig und mit sicherem Geschmacksempfinden geplant. Dabei hatte sie natürlich nicht bedacht, dass dort irgendwann ein Mann einziehen würde, folglich musste sie von ihrem ursprünglichen Plan ein wenig abweichen.
Das Bett sollte an der mattbraun gestrichenen Wand stehen. Heute, auf ihrer Shoppingtour, hatte sie Leinenstoff gekauft, mit einem Muschelmuster in Braun- und Beigetönen. Das einzig Feminine, das sie dem Raum zubilligte, waren Akzente in einem weichen Aprikosenfarbton.
»Wenn alles fertig ist, möchte ich an der dunklen Wand eins von diesen modernen Stahlregalen anbringen. Das sieht bestimmt super aus. Und dazu passende Accessoires, Lampen und so.« Während sie laut nachdachte, stellte sie sich im Geiste bereits das fertige Ergebnis vor. »Natürlich darf das Zimmer nicht zu beengt wirken. Ich muss erst mal schauen, wie viel Platz das Bett braucht.«
»Ich hoffe, dass es hier ein bisschen beengter wird - und zwar bald.«
Jasons Stimme riss sie aus ihren Gedanken, sie beäugte ihn argwöhnisch. Er musterte sie unter halb gesenkten Lidern, und ihr schwante spontan, worauf er hinauswollte.
Eine heiße Röte schoss in ihre Wangen. Damit er nichts merkte, schüttelte sie die Haare ins Gesicht. Er registrierte ihre Verlegenheit und grinste breit. »Ich bin dann mal kurz weg und hol Allison. Ich denke, die Farbe ist so gut wie trocken.«
Er ging zur Tür, drehte sich dort noch einmal zu ihr um. »Katherine.«
»Hmm?«
»Ich war an dem besagten Tag wirklich in eurem Verwaltungsgebäude und hab dich durch den Flur laufen sehen.« Er zwinkerte ihr zu. »Alles andere ist jedoch frei erfunden.«
Sie errötete bis zu den Haarwurzeln. Das bekam er gottlob nicht mehr mit, denn er stürmte bereits durch die Tür ins Freie.
 
»Hi, Miz Manning, ich bin Jim Cooper.«
Katherine lächelte dem freundlichen jungen Mann zu, der vor ihrer Haustür stand. Jim Cooper?, überlegte sie, nein, der Name sagte ihr nichts. Musste sie den kennen? Offenbar erwartete er, dass sie ihn wiedererkannte.
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und sagte: »Bedaure, aber …«
»Ich bin der Sohn von Happy Cooper.«
»Oh.« Katherine lachte. »Kommen Sie rein. Tut mir echt leid, dass ich dermaßen auf der Leitung stand, aber der Name sagte mir erst mal nichts.« Sie hielt ihm ihre Hand hin, und Jim Cooper schüttelte diese herzlich.
»Schätze, Mom hat es verschwitzt, Ihnen zu erzählen, dass ich für eine Weile wieder herziehe. Nicht in Ihr Apartment«, versetzte er hastig. »Ich hab gemeinsam mit einem Freund ein Apartment gemietet. In der Stadt. Ich wollte mich bloß kurz erkundigen, ob Mr. Manning zufällig zu Hause ist?«
»Nein, bedaure. Er wollte noch ein paar Sachen für sich besorgen. Er ist erst vor ein paar Tagen eingezogen … ich meine … wir haben nicht …«
»Ja. Mom erzählte, dass Sie geheiratet haben.« Sein Grinsen war ansteckend. »Herzlichen Glückwunsch, Mrs. Manning.«
»Danke«, murmelte Katherine. Sie hatte noch immer daran zu knabbern, dass sie mittlerweile verheiratet war und mit »Mrs. Manning« angesprochen wurde. Ob sie sich überhaupt jemals daran gewöhnen würde, dass sie diesen Namen trug? Zudem fand sie es schwer gewöhnungsbedürftig, einen Mann an ihrer Seite zu wissen. Noch vor einer Woche hatte es nur sie und Allison gegeben. Dann war Jace Manning bei ihr aufgetaucht und hatte mit seiner dynamischen Persönlichkeit ihr beschauliches Leben durcheinandergewirbelt. Sie empfand sein Denken, Fühlen und Handeln zunehmend mit ihrem verknüpft.
»Mom meinte, wenn ich herkomme, soll ich mir mal den Speicher vorknöpfen. Da oben liegt noch alter Krempel von der Highschool und vom College. Und Sie sind bestimmt froh um jeden Zentimeter mehr Platz.« Jim Cooper grinste erneut. Er sah gut aus, stellte Katherine fest. War er schon mit dem College fertig? Sie hätte ihn jünger eingeschätzt.
Seine aschblonden Haare waren zwar länger, als aktuell angesagt, aber trotzdem sauber und gepflegt. Seine Augen, die in einem warmen Braunton schimmerten, machten ihn vom Fleck weg sympathisch. Er war ein zugänglicher, freundlicher junger Mann. Die Sommersprossen auf Nase und Kinnbacken gaben ihm etwas Lausbubenhaft-Übermütiges.
»Ich war noch gar nicht auf dem Speicher«, räumte Katherine freimütig ein. »Nur wegen uns müssen Sie da oben bestimmt nicht entrümpeln.«
»Kein Problem, damit bin ich im Rutsch fertig. Es war Moms Idee. Ich werfe den verstaubten alten Kram komplett auf den Müll. Selbst wenn Erinnerungsstücke aus meiner Schulzeit darunter sein sollten, kann ich bestimmt ohne den Mist leben.« Er legte abwartend eine Hand auf sein Herz, und Katherine prustete los.
Er war kleiner als Jace, dachte sie abwesend und kritisierte sich spontan für den Vergleich. Wieso war Jace plötzlich die Messlatte, die sie bei jedem anderen Mann anlegte?
Objektiv betrachtet, war Jim zwar nicht groß, aber - im Gegensatz zu seiner Mutter - schlank. Die Beine in der ausgefransten, abgeschnittenen Jeans waren durchtrainiert, das weiße T-Shirt spannte über dem muskelbepackten Torso.
»Die Tür zum Speicher ist da hinten, nicht, Miz Manning?«, wollte er wissen, während er zu Jasons Schlafzimmer steuerte.
»Ja«, antwortete Katherine, die ihm gefolgt war. »Neben dem Kleiderschrank. Und ich bin Katherine.«
Als sie den Raum betrat, stand er bereits auf der Leiter, die zum Speicher führte. Er kletterte elanvoll die Stufen hoch und machte auf dem kleinen Spitzboden Licht.
Katherine hörte, wie er Kisten herumrückte und in Begeisterungsstürme ausbrach, wann immer er irgendein verstaubtes Altertümchen entdeckte. Sie stand am Fuß der Leiter und blickte nach oben in das helle Rechteck.
»Und, finden Sie doch noch das eine oder andere Schätzchen?«, fragte sie scherzhaft.
»Oh, ja, jede Wette! Hätte nicht gedacht, wie viel Schei… ähm … Schrott hier oben rumgammelt. Vielleicht nehm ich doch die eine oder andere Kiste mit.«
Er schleppte die Kisten nacheinander nach unten und stapelte sie mitten im Schlafzimmer. Irgendwann meinte er: »Noch eine Kiste, und dann bin ich auch schon wieder weg.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, versicherte ihm Katherine. »Allison schläft, und ich hab frei, bis sie aufwacht.«
»Ja. Ich hab gehört, Sie haben ein richtiges kleines Püppchen. Bin echt gespannt auf die Kleine«, rief er über seine Schulter, als er die Stufen hochkletterte, um die letzte Kiste zu holen.
Um sie leichter greifen zu können, schob er die Kiste dicht an die Luke. Katherine, die nach oben blickte, bekam eine ordentliche Staubdusche verpasst. Ein Partikel fiel ihr ins Auge, und sie schrie vor Schmerz.
»Aua, tut das weh!«, stöhnte sie, eine Hand auf ihr Auge gepresst.
»Was ist denn?«, rief Jim von oben. Alarmiert setzte er die Leiter hinunter. »Ach du Scheiße, wie ist denn das passiert?« Er beugte sich bestürzt über sie. »Mom verpasst mir garantiert einen Satz heiße Ohren, wenn sie erfährt, dass Sie sich verletzt haben, weil ich zu nachlässig war.«
Hätte es nicht so wehgetan, hätte Katherine schallend gelacht. »Ich hab wohl was ins Auge bekommen, irgendeinen Fremdkörper. Jedenfalls tut es mordsmäßig weh.« Sie stöhnte gequält und presste ihre Hand noch fester auf das Auge.
»Oh, Shit, das tut mir leid. Kommen Sie, Katherine, setzen Sie sich. Ich guck mal nach.« Jim fasste sie behutsam am Arm und zog sie zu dem Bett. Sie setzte sich umständlich hin, und Jim kniete sich vor sie. »Lassen Sie mal sehen, Katherine.«
Er versuchte, ihre Hand von dem brennenden Auge zu ziehen. Sie gab nach, spürte einen erneuten stechenden Schmerz und entriss ihm ihre Hand.
»Autsch! Es tut entschieden mehr weh, wenn ich die Hand wegnehme.«
»Ich weiß, aber wenn ich den Fremdkörper nicht entferne, tut es noch viel mehr weh. Kommen Sie, beißen Sie die Zähne zusammen«, drängte er, während er ihre Hand wegschob.
»Und jetzt machen Sie das Auge mal schön weit auf«, wies er sie an.
Er umschloss mit einer Hand ihren Hinterkopf, mit der anderen untersuchte er behutsam ihr Auge. Es bedurfte einer Menge Überzeugungsarbeit, ehe sie das Lid öffnete.
Ein triumphierendes Strahlen glitt über seine Züge, als er das winzige Staubkorn entdeckte, das ihr so viel Kummer machte. »Das haben wir gleich«, meinte Cooper zuversichtlich. »Schauen Sie mal kurz nach oben. Nein, nein, nicht nach unten gucken. Nach oben. Nur noch eine Sekunde. Da. Ich hab ihn!« Mithilfe seines kleinen Fingers hatte er es geschafft, das winzige Partikel aus ihrem Auge zu fischen.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, warf Jace in den Raum.