Irgendwann lange vor unserer Zeit
Die Mittagssonne hatte gerade ihren höchsten Stand erreicht, als er völlig erschöpft das Ufer erreichte. An diesem Tag hatte sie sich anscheinend vorgenommen gnadenlos all das zu verbrennen, was der Frühling erst wenige Monate zuvor neu erschaffen hatte.
Sogar der kleine Bach, der während seiner Jugend selbst in den schlimmsten Trockenperioden Wasser geführt hatte, lag nun trocken und ausgedorrt zu seinen Füßen.
Hier hatte er einst als Kind gespielt. Wie die anderen Jungs in seinem Alter hatte er flache Steine über das Wasser hüpfen lassen und mit den anderen ausgelassen gelacht. Sie waren damals Kinder, die wie die meisten anderen in ihrem Übermut bereit waren, die ganze Welt auszulachen. Kinder, die einfach nur spielen wollten. Wahrscheinlich war die Jugend mit ihrer Unbekümmertheit schon seit Anbeginn der Zeit der einzige Lebensabschnitt, in dem man sich seiner grenzenlosen Fantasie hingeben durfte.
Wie bereits viele Generationen vor ihm träumte er damals von all dem, was er eines Tages erleben würde. Er würde sicherlich die ganze Welt bereisen, als gebildeter Mann eines Tages hohes Ansehen genießen, und all die Sorgen seiner Vorfahren einfach hinter sich lassen.
Ja, davon träumte er als Knabe genau an diesem Bach.
Bilder aus glücklichen Tagen versuchten sich in seine Gedanken zu drängen. Es waren die Erinnerungen einer anderen Zeit. Einer Zeit, die nie mehr zurückkehren würde.
Mit Wehmut dachte er unter der Glut der Sonne an seine Familie zurück.
Francesco, sein jüngerer Bruder, Sophia, seine ältere Schwester, und auch die Eltern der drei kamen ihm in den Sinn. Wenn er dem Wunsch seines Vaters entsprochen hätte, so wäre er als der älteste männliche Nachkomme in dessen Fußstapfen getreten. Doch genau das wollte er damals nicht. Er wollte kein Bauer werden, der jedes Jahr die Naturgewalten fürchten und für eine gute Ernte beten müsste. All seine Vorfahren waren bereits dieses Standes. Und sie alle hatten mit den gleichen Problemen zu kämpfen.
Sogar sein Großvater, der das Gehöft in glücklicheren Zeiten einst führte, musste inzwischen selbst bei der Arbeit mit anpacken. Sicherlich hatte sich dieser alte Mann die ihm noch verbleibenden Jahre im Kreise seiner Familie anders vorgestellt.
In seinem letzten Sommer, den Domenico im Kreise seiner Familie erlebte, hatte eine Seuche die komplette Viehzucht dahingerafft. Ein Leben zwischen Hoffnung und Enttäuschung war seiner Zunft vorbestimmt und würde wahrscheinlich auch zu seinem Schicksal werden.
Nein, er war anders als seine Familie. Er wollte die Welt sehen und sie verstehen lernen. Darum verließ er als Jugendlicher den elterlichen Hof, auf den er niemals zurückkehren sollte.
Seine Abreise in dieser sternenklaren Nacht hatte er bereits seit Monaten geplant. Einen letzten Blick auf sein bisheriges Leben zurückwerfend und mit dem ganzen Mut eines Halbwüchsigen nahm er in Gedanken Abschied von seiner friedlich schlafenden Familie.
Seine Augen stets nach vorne gerichtet war der Weg ins Glück auch für ihn mit scheinbar unüberwindlichen Hindernissen gepflastert. Hindernisse, die er als 14-Jähriger unmöglich beiseite räumen konnte. Und so blieb ihm nichts außer seinen Hoffnungen auf ein kleines bisschen Glück im endlosen Labyrinth, das man Leben nennt.
Er stahl auf dem Fischmarkt Lebensmittel, die er später im Schatten eines Baumes hungrig verschlang. Er schlief in der Natur unter freiem Himmel.
Da er nie eine Schule besucht hatte, wurde er so zu einem Kind der Straße. Das Einzige, was man ihm während seiner Jugend je konnte, war Gottesfurcht. Er würde niemals einem Menschen etwas wirklich Böses antun. Und wenn er einem anderen Menschen etwas wegnahm, dann handelte es sich ausschließlich um Dinge, die er für sein Überleben brauchte. Eines Tages, so schwor er sich, würde er alles, was er den Menschen gestohlen hatte, wieder zurückgeben. Doch dazu sollte es nie kommen.
Vielleicht hätte er damals sein Elternhaus nicht verlassen sollen.
Unter der sengenden Sonne, die ihn inzwischen Jahre später an diesem Nachmittag peinigte, spürte er zum ersten Mal so etwas wie Reue.
Er schaute auf die unverdaulichen Überreste einiger Fische, die anscheinend von hungrigen Vögeln zurückgelassen worden waren. Über seinem Kopf kreisten diese gierigen Aasfresser schon wieder auf der Suche nach der nächsten Beute. Doch all das kümmerte ihn nur wenig. Nichts konnte sein Interesse an diesem Tag wirklich wecken. Nichts war inzwischen wirklich wichtig genug, dass er sich auch nur einen Augenblick darauf konzentrieren konnte.
Selbst seine Kleidung, auf die er früher immer so großen Wert gelegt hatte, hing nur noch lose an seinem abgemagerten und von Durst gequälten Körper. An seiner schweißgebadeten Brust klebte das Gewand, und immer wieder verlor er seine Sandalen von den inzwischen blutig gelaufenen Füßen. Er hatte nur noch ein Ziel: so weit wie möglich zu laufen. Dorthin, wo sie ihn nicht mehr suchen würden.
Seine letzte Mahlzeit lag zwar erst drei Tage zurück, aber selbst das kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Sicherlich waren sie immer noch hinter ihm her. Es gab nichts, was sie daran hindern würde, ihn weiter zu verfolgen. Und was dann mit ihm geschehen würde, darüber gab es keinerlei Zweifel. Es würde unweigerlich sein Ende bedeuten. Sie würden keine Gnade walten lassen.
Dabei waren es doch dieselben Menschen, mit denen er seit nunmehr acht Jahren zusammenlebte. Er aß mit ihnen. Er trank mit ihnen. Ja, er betete sogar mit ihnen. Menschen, bei denen er hinter den stärksten Mauern, die er jemals gesehen hatte, seit damals lebte. Menschen, bei denen er sich anfangs so geborgen fühlte. Natürlich war er nicht desselben Standes wie sie. Er war ein einfacher Mensch vom Lande. Ohne jegliche Schulbildung.
Als er damals halb verhungert an ihre Tür geklopft hatte, waren sie es, die ihn wieder gesund pflegten.
Obgleich sie ihm alle intellektuell weit überlegen waren, hatten sie ihn seine Herkunft und das, was er war, nie fühlen lassen. Ihn nie wie etwas Niedriges behandelt. Schließlich waren sie selbst es auch, die ihn fast fünf Jahre zuvor in der Kunst des Schreibens und des Lesens unterrichtet hatten. Eine Fähigkeit, die ihm nun plötzlich zum Verhängnis werden sollte.
Denn eines Tages nutzte er das Erlernte und begann einfach zu schreiben. Nachts, wenn alles schlief, saß er einsam in der kleinen Kammer unter der Treppe, die er damals bewohnte. Allein und nur für sich schrieb er alles auf, was er erlebte.
Doch schon sehr bald wurde ihm klar, dass sie das, was er zu Papier brachte, niemals finden dürften.
Fast fünf Jahre lang schrieb er jeden Abend. Teilweise so viel, dass er kaum die Zeit dafür aufbrachte, den nötigen Schlaf für die Anstrengungen des nächsten Tages zu finden. Während der gesamten Zeit gab es nur vier Nächte, in denen er nicht schrieb. Das Halten der Feder verursachte in seiner Hand damals so große Schmerzen, dass er nicht einmal seinen täglichen Pflichten, die man ihm auferlegt hatte, nachkommen konnte. Doch sobald er wieder dazu in der Lage war, schrieb er weiter.
Seine Gedanken waren die eines einfachen Menschen. Und diese Gedanken spiegelten sich in der Wahl seiner Worte wider, so wie er sie damals benutzte. Zunehmend hatte er gelernt, wie man eine Feder führte und auch sein Schreibstil verbesserte sich im Laufe der Zeit.
Irgendwann fing er an, seine selbst geschriebenen Seiten zu ordnen und ein mehrteiliges Werk daraus zu binden. Alles, was er dazu wissen musste, fand er in den alten Büchern der großen Bibliothek im Westflügel. Dadurch war es ihm möglich, seine Schriften als zusammenhängende Einheiten vor den anderen zu verstecken, ohne dass sie Schaden nahmen.
Niemand würde je erfahren, was unter der schweren Steinplatte, auf der sein primitives Holzbett stand, verborgen war.
Kein anderer Mensch würde jemals sein Vermächtnis mit dem Namen:
„Domenico – Diarium“
lesen.
Und so wäre es auch geblieben, wäre ihm nur nicht dieser dumme Fehler unterlaufen. Seit diesem Tag waren erst drei weitere vergangen.
Er hatte wieder einmal die ganze Nacht hindurch all das, was er sah und erlebte, in Worte gefasst und zu Papier gebracht. Wie immer, wenn er durch sein kleines Fenster die herannahende Dämmerung bemerkte, schob er die schwere Steinplatte beiseite und versteckte sein kleines Geheimnis darunter. Alles war genau so wie immer. Nur der prüfende Blick durch sein kleines Zimmer war diesmal nicht von der gleichen Qualität wie in unzähligen vorangegangenen Nächten.
Eine einzige Seite war es, die ihm am Morgen dieses Tages zum Verhängnis werden sollte. Nur eine einzige Seite, die später unter seinem Holzstuhl neben dem primitiven Tisch gefunden wurde.
Das gleiche Blatt Papier, das sein Ankläger in den Händen hielt, als er ihn zur Mittagszeit zur Rede stellte. Jenes Blatt Papier, wegen dem man ihn für den Rest seines Lebens von der Welt fernhalten würde. Eine lose, handgeschriebene Seite, wegen der er fortan selbst die Sonne nie mehr sehen würde.
So entschied er sich zur Flucht. Nur ein kurzer Augenblick, in dem seine Widersacher sich von ihm abwandten, musste ihm dafür reichen. Er nahm seine gesamte Kraft zusammen, um ihnen die schwere Tischplatte, die sie voneinander trennte, entgegen zu werfen. Seine Kraft war das Einzige, in dem er den anderen überlegen war. Ihren Augen war anzusehen, dass sie darauf nicht vorbereitet waren. Sämtliche Utensilien, die sich grad noch auf dem Tisch befanden, fielen durcheinander. Das von ihm beschriebene Schriftstück löste sich aus den Händen seines Anklägers, der sich, während er nach hinten vom Stuhl kippte, hilflos umsah. Wie das letzte Blatt eines Baumes im Herbst fiel es zu Boden.
Noch während die anderen sich von diesem Überraschungsangriff erholten, rannte er los. Raus aus den Mauern, die ihm seit acht Jahren Schutz und Hoffnung boten.
Er lief zwei Tage und zwei Nächte ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.
Und nun stand er an diesem trostlosen Ort.
Von Hunger und Müdigkeit übermannt suchte er nach einem kühlen Platz. Nur ein paar Minuten der Ruhe. Mehr wollte er nicht. Schließlich fand er diese Ruhe unter einem Baum. Anscheinend der einzige Baum, der an Größe und Stärke in der Lage war, diesem gnadenlosen Sommer und der sengenden Glut der Sonne zu trotzen. Der einzige Baum, dessen Blätter noch grün und nicht verdorrt waren. Am Ende seiner Kräfte angelangt schloss er seine Augen.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort gelegen und geschlafen hatte, doch als er erwachte, saßen seine Widersacher im Kreis um sein Lager und der Ankläger fing erneut an, ihn im sehr leisen und fast schon väterlichen Ton zu verhören.
Dabei stellte er immer wieder die gleichen Fragen. „Seit wann schreibst du?“ und „Gibt es noch mehr solcher Seiten?“
Domenico hörte nur die Stimme des Mannes, den er nur allzu gut kannte. Er wusste, dass er ihm nie direkt in die Augen sehen durfte. Denn er kannte die Macht seines Gegenübers, die in den letzten Jahren immer stärker wurde, nur allzu gut. Sein Geheimnis würde ans Tageslicht kommen, wenn er diesem Menschen auch nur einmal in die Augen blicken würde.
Um dies zu verhindern, war er bereit, alle körperlichen Qualen zu erleiden. Bereit, den Tod zu empfangen.
Er war sich sicher, dass alles, wofür er die letzten fünf Jahre gelebt hatte, hier ein grauenhaftes Ende finden würde. Sie würden ihn nicht am Leben lassen. Sein Werk würden sie verbrennen, genauso wie in jener Zeit alles verbrannt wurde, das irgendjemandem im Weg stand. In seinem Kopf entstanden Bilder des Schreckens. Er sah sein eigenes Ende vor sich. Und trotzdem entschloss er sich zu schweigen.
Noch in derselben Stunde, am alten Flussbett, begannen sie mit der Folter. ? Doch er schwieg. ?
Sie drohten ihm mit dem Tod. ? Doch er schwieg. ?
Selbst in dem Moment, in dem das Leben aus ihm entwich, kam nicht ein einziges Wort, nicht ein einziger vom Schmerz verursachter Laut über seine Lippen.
Er nahm sein Geheimnis mit in die letzte Ruhestätte seines leblosen Körper, irgendwo in der Nähe des alten Flussbettes unter dem unbeugsamen Baum.